A.Ömer Türkeş
Eine in Vergessenheit geratene Geschichte

Eine der wichtigsten Wendepunkte in der türkischen Literatur nach dem Putsch von 1980 ist die Diversifizierung der Genres. Davon profitierte auch die Kriminalliteratur, und die Zahl der von einheimischen Schriftsteller*innen verfassten Kriminalromane nahm beträchtlich zu. Wie in verschiedenen anderen Perioden der Geschichte der türkischen Republik gingen die 1980er Jahre mit einem gewissen Gedächtnisverlust einher: Die jahrhundertealte Tradition des Kriminalromans wurde vergessen und die neu entstandenen Werke wurden zu Meilensteinen erklärt. Die Geschichte der hiesigen Kriminalliteratur lässt sich jedoch bis in das Osmanische Reich zurückverfolgen: Es ist überliefert, dass Sultan Abdülhamit eine Sammlung von zwei- bis fünftausend Kriminalromanen besaß, dass er ein Übersetzungsbüro einrichten ließ, um sie zu lesen, dass viele einheimische Krimis im gleichen Zeitraum geschrieben wurden und dass unser erster Kriminalroman Esrar-ı Cinayat [Der mysteriöse Mord] im Jahre 1884 von Ahmet Mithat Efendi verfasst wurde.
 
Die ersten osmanischen Kriminalromane waren von Figuren wie Sherlock Holmes, Arsène Lupin und Fantomas inspiriert und auch die Handlungsabläufe ähnelten den der Romane, denen sie entsprangen. Die Werke fielen eher durch die liebenswerten Namen ihrer Charaktere – wie Amanvermez Avni [Nie nicht gebender Avni] oder Fakabasmaz Zihni [Untäuschbarer Zihni] – als durch ihren Plot auf. Die Kriminalromane, die in den ersten Jahren nach der Republikgründung entstanden, stammten von Autoren wie Server Bedi, İskender F. Sertelli und Vedat Örfi Bengü, die diese Tradition der liebenswerten Romanfiguren mit Cingöz Recai [Der gerissene Recai], Cıva Necati [Quecksilber Necati], Çekirge Zehra [Grille Zehra], Tilki Leman [Füchsin Leman], Kara Hüseyin [Dunkler Hüseyin], Kan Dökmez Remzi [Kein Blut vergießender Remzi], Ele Geçmez Kadri [Nicht zu erwischender Kadri], Şeytan Hadiye [Teufelin Hadiye], Pire Necmi [Floh Necmi] und Badik Hilmi [Dicklicher Hilmi] weiterleben ließen.
 
Nach dem Übergang zur Republik und dem Wechsel von der arabischen zur lateinischen Schrift im Jahr 1928 erreichten die türkischen Kriminalromane beachtliche Auflagenzahlen, wurden aber lange Zeit in der Literaturgeschichte nicht berücksichtigt. Der Grund für diese Ignoranz ist vermutlich darin zu suchen, dass die Kriminalliteratur – im Gegensatz zur sogenannten Hochliteratur, die mit erzieherischen, politischen und ideologischen Missionen aufgeladen war – als Sub-Genre betrachtet und viele Jahre nicht ernst genommen wurde. 

Berühmte Autoren, anonyme Romane

Dabei gibt es in der Tat viele berühmte und wichtige Autoren unter den Kriminalschriftstellern wie Mehmet Rauf, Hüseyin Rahmi Gürpınar, Refik Halit Karay, Nazım Hikmet, Kemal Tahir, Cevat Fehmi Başkurt, Esat Mahmut Karakurt, Vala Nureddin, Peyami Safa – und in jüngerer Zeit – Aziz Nesin und Erhan Bener. So sehr auch „angesehene“ Autoren die Werke der „Hochliteratur“ schätzten und populäre Romane nicht ernst nahmen, sahen sich einige von ihnen doch gezwungen, Kriminalromane zu schreiben oder zu übersetzen – schlicht und einfach weil es sich um die meistgelesenen und meistverkauften Bücher handelte und sie so ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Zum Beispiel war Server Bedi, der die Aufgabe übernommen hatte, Peyami Safa finanziell über die Runden zu bringen, in Wirklichkeit ein Pseudonym, das Safa selbst als Autor der „Cingöz Recai“-Serie und weiterer lesenswerter Kriminalromane verwendete. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass die unter dem Namen Server Bedi erschienenen Kriminalromane sich auf einem Niveau bewegen, das sie als erfolgreiche Beispiele der „Noir“-Bewegung mit den entsprechenden psychologischen und sexuellen Elementen auszeichnet, weshalb sie heute noch eine lohnenswerte Lektüre darstellen.
 
Autoren wie Feridun Hikmet Es, Tahsin Abdi Gökşingöl, Süleyman Çapanoğlu und Rıza Çavdarlı können als Beispiele für die 1930er Jahre angeführt werden. Vala Nurettin hat mit der „Yılmaz Ali“-Serie, die er in dieser Zeit verfasste, bewiesen, dass er eine echter Krimiautor ist. In den 1940er Jahren stachen in der Türkei unter anderem folgende Autoren heraus: Hamdi Varoğlu, Rıza Danişment Korok, Z. Melek, Ilhami Safa, Iskender Fahrettin Sertelli, Ziya Çalıkoğlu, Mecdi Emiroğlu, Cahit Gündoğdu, Turhan Aziz Beler und Faik Benlioğlu. In dem Roman Kesik Baş [Der abgeschnittene Kopf], der 1942 erstmals in lateinischer Schrift erschien, hinterfragt Hüseyin Rahmi Gürpınar die Konzepte von Verbrechen und Strafe aus naturalistischer Sicht. Das Werk verdient zweifelsohne, zu den wichtigsten Romanen seiner Zeit und unserer Kriminalliteraturgeschichte gezählt zu werden. Vedat Örfi Bengü, Murat D. Akdoğan und Selami Münir sollten ebenfalls nicht unerwähnt bleiben.
 
In den 1950er Jahren schlugen Kriminalromane einen seltsamen Kurs ein. Mickey Spillanes Bücher mit seinem Protagonisten Mike Hammer, die auf der ganzen Welt einen hohen Bekanntheitsgrad erlangten, erfreuten sich auch in der Türkei großer Beliebtheit. Die Geschichten dieses knallharten Detektivs und weitere Abenteuer des gleichen Kalibers wurden von vielen Verlagshäusern wie Çağlayan ohne jegliche ästhetischen und literarischen Bedenken reihenweise herausgebracht. Hunderttausende Bücher wurden damals zu günstigen Preisen von Zeitungshändlern verkauft, was heute kaum zu glauben ist. Gerissene Verleger nutzten die Gunst der Stunde und reagierten auf die hohe Nachfrage nach Spillanes Serie, die auf wenige Bücher begrenzt ist, mit lokal produzierten, gefälschten Mike-Hammer-Romanen. Dieses Unterfangen war ziemlich erfolgreich, denn niemand beschwerte sich darüber, dass diese Romane nicht von Spillane selbst geschrieben wurden, was aus den hohen Verkaufszahlen hervorgeht. K. Tahir schrieb fünf Bücher der Serie, Afif Yesari verfasste sogar ungefähr hundert neue Abenteuer mit Mike Hammer. Und auch Hayalet Oğuz hat einige Beiträge zur Mike-Hammer-Sammlung beigesteuert.
 
Die Romane von Refik Halit Karay, Cevat Fehmi Başkurt, Esat Mahmut Karakurt, Aydın Arıt und Sezai Solelli, die das Genre in den 1950er Jahren bereicherten, sind ebenfalls wichtige Werke der Kriminalliteratur, aber Ümit Deniz, dessen erstes Abenteuer mit Murat Davman Ende der 1950er Jahre veröffentlicht wurde, ist zweifelsohne der denkwürdigste Autor des Krimi-Genres in der Türkei.
 
Mit dem Anstieg der politischen Spannungen nach den 1960er Jahren wurden verhältnismäßig weniger Kriminalromane geschrieben. Neben Nihal Karamağaralı, Zuhal Kuyaş und Nazım Mirkelam, deren Werke sich auf die Lösung von Rätseln im Stil klassischer Kriminalromane beschränkten, verfasste Ümit Deniz noch weitere Storys mit Murat Davman, die bei der Leserschaft aber nicht das gleiche Interesse weckten wie der erste Teil seiner Serie. Umran Nazifs Aşk Üçgeni [Das Liebesdreieck, 1962] und Erhan Beners Kedi ve Ölüm [Katze und Tod, 1961] sowie Loş Ayna [Der zwielichtige Spiegel, 1961] sind ebenfalls Werke, die nach klassischen Mustern der Kriminalliteratur verfahren. Düğümlü Mendil [Das geknotete Taschentuch, 1955] von Aziz Nesin, das er unter dem Pseudonym Nuru Hayat veröffentlichte, ist der erste Krimi in der türkischen Literaturgeschichte, der von einem Serienmörder handelt.

Nach den 1980er Jahren

Die beispielhaften Werke der Kriminalliteratur in den 1980er Jahren wurden von den Meister*innen der alten Generation produziert: Sisli Yaz [Der neblige Sommer, 1984] von Erhan Bener und Rıza Bey’in Polisiye Öyküleri [Die Detektivgeschichten des Rıza Bey, 1985] von Çetin Altan. Pınar Kürs Bir Cinayet Romanı [Roman über einen Mord, 1989] und Ümit Kıvançs Bekle Dedim Gölgeye [Ich sagte: Schatten, warte, 1989] erregten mit ihren modernen Elementen Aufmerksamkeit. Selbst wenn der Autor, das Verlagshaus und die Leser*innen mit mir nicht übereinstimmen, können Mehmet Eroğlus Romane Issızlığın Ortasında [Inmitten der Abgeschiedenheit, 1984], Geç Kalmış Ölü [Der verspätete Tote, 1984] und Yarım Kalan Yürüyüş [Der unvollendete Spaziergang, 1986] als Beispiele der politischen Kriminalliteratur der türkischen Literaturgeschichte hinzugefügt werden.
 
Die 1990er Jahre läuteten den Beginn eines „goldenen Zeitalters“ der türkischen Kriminalliteratur ein. Einerseits tauchten neue Autor*innen auf, andererseits nahmen viele Verlage die Romane einheimischer und ausländischer Schriftsteller*innen in ihr Programm auf. Schließlich veröffentlichten auch Literatur- und Buchmagazine vermehrt Artikel über das Krimi-Genre.
 
Ahmet Ümit kommt einem unter den Autor*innen, die sich in den letzten Jahren mit Kriminalliteratur beschäftigten, als erstes in den Sinn. 1998 machte er sich mit seinem Roman Kar Kokusu [Schneegeruch] und 1999 mit Agatha’nın Anahtarı [Agathas Schlüssel] einen Namen, während Osman Aysu begann, seine ersten Werke einer Reihe mit zahlreichen Kriminalromanen zu verfassen. Orhan Pamuks Romane waren jedoch die eigentliche Überraschung für Liebhaber*innen der türkischen Kriminalliteratur: Rot ist mein Name (1998) ist ein wunderbarer Kriminalroman, der alle historischen Merkmale der postmodernen Literatur aufweist und vor historischer Kulisse stattfindet. Die Leser*innen diskutierten allerdings eher über die Identität des Mörders als über die intellektuellen Aspekte dieses Romans. Sadık Yemni und Akif Prinççi, die im Ausland leben, bewiesen ebenfalls, dass sie ausgezeichnete Krimiautoren sind.
 
Celil Oker war der Gewinner des 1999 ins Leben gerufenen „Kaktüs Kahvesi“-Krimi-Wettbewerbs. Der 2019 verstorbene Autor setzte seine Serie über die Abenteuer des Privatdetektivs Remzi Ünal mit neun Romanen bis 2016 fort. Die Besonderheiten, die einen Oker-Krimis auszeichnen, sind der Schreibstil, der sich mit jedem Roman immer mehr öffnete, der bescheidene Romanheld, die realitätsnahe Figurenzeichnung und die Nutzung von Raum und Atmosphäre.
 
Die „Büchse der Pandora“, die in den 1980er Jahren nur einen Spalt breit offenstand, wurde in den 2000er Jahren weit geöffnet. Im 21. Jahrhundert haben so viele Autor*innen und Werke ihren Weg in die Welt der türkischen Kriminalliteratur gefunden, dass es die Grenzen dieses Artikels sprengen würde, auch nur ihre Namen aufzulisten. Zum Abschluss möchte ich deshalb nur die diejenigen nennen, deren Werke in den 2000er Jahren – aus meiner Sicht – besonders hervorgetreten sind: Erhan Bener, Pınar Kür, Cahide Birgül, Ahmet Ümit, Alper Canıgüz, Emrah Serbest, Algan Sezgintüredi, Armağan Tunaboylu, Ercan Akbay, Çağatay Yaşmut, Esmehan Aykol, Ahmet Karcılılar und Suphi Varım. Unter den Autoren politischer Krimis sind zudem erwähnenswert: Barış Soydan, Derviş Şentekin, Suat Duman, Uğur Erkmen, Hüseyin Bul, Cem Selcen, Levent Bakaç, Fatih Öcal, Ali Parlar, Ilyas Barut und Barış Uygun.
 

Autor

ÖmerTürkes ©   ÖmerTürkes
Ömer Türkeş begann seine literarische Karriere 1982 als Kritiker für das "Yarın-Magazin". Die Rezensionen, Analysen und experimentellen Texte von Türkeş, der seit 1997 seine Arbeiten auf den türkischen Roman spezialisiert, wurden in zahlreichen Magazinen und Sammelwerken veröffentlicht.


 

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