Ulrich Noller
Der Realität auf der Spur

November, auch noch „kleiner Lockdown“, eigentlich gar nicht so schlecht, wenn man sich mit Literatur beschäftigt, denn das heißt: Zeit zum Lesen. Und die braucht es. Zum Beispiel, weil bald Stimmabgabe sein wird für den Deutschen Krimi Preis 2020, und da gilt es noch zwei, drei, vier vielversprechende Romane zu checken.
Wobei: Meine Entscheidung ist eigentlich schon klar. Die Lage ist eindeutig, und es ist offensichtlich: Es kann nur den Einen, die Eine geben. Also die Schriftstellerin, die in momentan herausragend ist, was das literarische Verbrechen in Deutschland angeht – und den einen Roman, der ihr neuer ist, ihr aktuellster, der ziemlich genau zum Beginn der Corona-Krise erschien.
Klasse, wie sie da gesellschaftliche Diskurse und Entwicklungen aufgreift und in eine Geschichte verwandelt, die nicht bloß ausgesprochen packend ist, sondern auch strukturell so angelegt, dass es den Themen und ihrer so besonderen Perspektive auf die Gesellschaft gerecht wird. Zum Beispiel, weil sie auf einen klassischen Ermittler verzichtet; die Story an sich wird so zur Ermittelnden. So funktioniert, meine ich persönlich, zeitgenössische Kriminalliteratur. Die relevant ist. Innovativ. Auch international auf Augenhöhe.

Krimi aus Deutschland (und Europa)

Das Glas ist alles in allem halb voll, würde ich sagen. Es erscheinen einige Hundert, möglicherweise sogar mehr als Tausend deutschsprachige Kriminalromane jährlich. Ein lukrativer Markt, auch für kleine Verlage existenzsichernd. Natürlich wird viel gethrillert, wie überall, erfolgreich bis in die Bestsellerlisten hinein. Plus sonstige Genrevariationen. Einen Schwerpunkt bilden wie schon seit Jahren die so genannten „Regiokrimis“, Romane also, in denen stärker die Gegend eine Rolle spielt, in denen sie verortet sind, als der Fall, die Figuren, die Geschichte, also: zeitgenössische Heimatliteratur.
Die mit dem unsäglichen Hype um so genannte Touristen- oder Resortkrimis jetzt auch europäisiert wird - „überall dort, wo Lehrer gerne Urlaub machen, funktionieren die“, wie ein Lektor einmal sagte: Geschichtchen, in denen es vor allem um hübsche Landschaften und gutes Essen geht, im Grunde genommen: Eskapismus.
Das alles ist in Summe der Mainstream, ein Mittelbau, der vor allem wirtschaftlich funktioniert, weniger ästhetisch, Ausnahmen bestätigen die Regel. Daneben gibt es von Friedrich Ani über Merle Kröger, Max Annas, Monika Geier, Matthias Wittekindt und Oliver Bottini bis hin zu Melanie Raabe ein Dutzend SchriftstellerInnen, die auf ganz verschiedene Weisen und mit jeweils eigener Agenda an ihrer Idee von „zeitgenössischem Krimi“ arbeiten – und dabei fortlaufend so zuverlässig liefern, dass am Ende des Jahres, wenn die Abstimmung für den Deutschen Krimi Preis ansteht, meist schon um die zehn beste Romane des Jahres vorliegen, die den Preis verdient hätten. Das ist, sofern man halbvolle Gläser bevorzugt, nicht so wenig. 

Literatur-TV-Interferenzen

Ein zweiter großer Trend ist im Moment der zum zeitgeschichtlichen Ermitteln. Ein Welterfolg dabei: Der Erfolgsserie „Babylon Berlin“, deren dritte Staffel kürzlich startete.  Was hat nun eine Fernsehserie wie „Babylon Berlin“ in einem Text verloren, der sich mit deutschsprachiger Literatur des Verbrechens befasst? Zum einen beruht sie auf den Gereon Rath-Romanen des Schriftstellers Volker Kutscher.
Zum anderen kann man in Sachen Krimi aus Deutschland die Entwicklung kaum verstehen, wenn man nicht auf die Interferenzen zwischen den verschiedenen Medien schaut. Denn Fernsehen und Literatur befruchten sich gegenseitig – im Prinzip seit Erfindung des „Tatort“ 1970, mit dem die Idee, Verbrechen regional zu erzählen, zum Erfolgsmodell wurde.
Bei der Gelegenheit: Eine interessante Entwicklung der letzten Jahre ist die, dass zunehmend auch ausgesprochen erfolgreiche DrehbuchautorInnen teilweise oder sogar ganz vom Fernsehen in die Literatur wechseln, weil sie hier mehr Möglichkeiten haben und auch mehr Entscheidungseinfluss auf die eigene Geschichten. Ein paar gute Namen dazu: Andreas Pflüger, Holger Karsten Schmidt, Orkun Ertener.

Wer hätte das gedacht?

Was könnte nun zeitgenössische deutsche Genreliteratur ausmachen, was ist zwingend? Den heftigsten (Polit-)Krimi im Deutschland der letzten Jahren erzählt, wenn man so will, die Gesellschaft selbst: Die bis trotz gerichtlicher Aufarbeitung nicht wirklich geklärte, rechtsradikale Anschlags- und Mordserie des NSU, der eine Polizistin und neun MigrantInnen zum Opfer fielen. Hinzu kommen weitere Anschläge von rechts – bis hin zum aktuellen Wirken der Gruppe NSU 2.0.
Diese Verbrechen haben eine Bedeutung auch für die Krimikultur auch insofern, als dass sie den Möglichkeitsraum entscheidend veränderten: Undenkbar, dass so etwas passiert, hier bei uns in Deutschland, wäre wohl die Reaktion der meisten Produzenten/Lektoren gewesen, wenn man solch einen Stoff vor der NSU-Mordserie angeboten hätte. Dann zeigte sich: Das Undenkbare ist Realität. Eine Realität, der das Genre hinterherhinkt – und die Reaktion fordert, gerade von Menschen, die von Gesellschaft, Politik und Verbrechen erzählen. Wenn „das“ denkbar ist, dann ist fast alles denkbar.
Jede Menge Filme und Romane sind seitdem zum Thema des rechten Terrors veröffentlicht worden, der sich wie eine blutige Spur durch die Geschichte der letzten Jahre und Jahrzehnte in Deutschland zieht. Die Fiktion ist der Realität mittlerweile immerhin auf der Spur. Einer, der sich unverdrossen an diesem Thema abarbeitet, ist der Düsseldorfer Kriminalschriftsteller Horst Eckert. An der Politisierung seiner hemdsärmligen Romane lässt sich die der Gesellschaft ablesen – zuletzt erschien in diesem Jahr „Im Namen der Lüge“, auch ein Kandidat für den wichtigsten Kriminalroman des Jahres 2020.

Almanya Connection

Eines der interessantesten Debüts des Jahres ist der Roman „Hawai“ von Cihan Acar, der vom Blick eines jungen, türkischstämmigen Mannes auf eine zerrissene Gesellschaft insbesondere auch im Hinblick auf die Migration erzählt. „Hawai“ ist kein Kriminalroman, aber durchaus einer, der sich auch mit Verbrechensfragen befasst. Und er bietet – neben vielem anderen – atmosphärisch eine Reminiszenz an die grandiose Reihe um den türkischstämmigen Privatdetektiv Kemal Kayankaya, die Jakob Arjouni ab 1987 publizierte. Diese Reihe war ein Türöffner. Gleichwohl taten sich deutsche Genreautoren lange schwer mit dem Thema Migration, Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel.
Mittlerweile sind türkischstämmige ProtagonistInnen längst selbstverständlich, bis in den Mainstream hinein. Eine besonders interessante Figur ist der Münchener Kommissar Pascha, den der Drehbuchautor und Schriftsteller Su Turhan erfunden hat - weil dieser Ermittler in seiner Mischung aus bayerische Lebensart und türkischer Prägung viele Themen und Konflikte der Migrationsgesellschaft in persona deutlich macht und zuspitzt. Ein Meilenstein ist der Roman „Lebt“, in dem Orkun Ertener nicht zuletzt auch die Geschichte der Dönme erzählt – in der Türkei und in Deutschland. 
Bemerkenswert übrigens auch der 2019 erschienene Roman „Der die Träume hört“ von Selim Özdogan; eine Vater-Sohn-Geschichte, die in der unmittelbaren Zukunft spielt – und in der Rap und HipHop über die Generationen hinweg eine zentrale Rolle spielen. 

Die Eine, der Eine 

Eine Info bin ich noch schuldig: Deutschland in der nicht allzu fernen Zukunft, die Klimawandelfolgen sind heftig, es hat sich ein eher autokratisches System entwickelt, samt KI-basiertem Gesundheitsmanagement, ein System, das eigentlich kein „draußen“ mehr vorsieht, währen „drinnen“ für Individualisten die Luft zum Atmen dünner wird – das ist das Setting, das der exzellent erzählte Roman „Paradise City“ von Zoë Beck zeichnet. Ein Zukunftsroman zur Stunde, wenn man so will. Mein Favorit 2020. Warum genau? Begründung siehe oben.
 

Autor
Ulrich Noller © © Ulrich Noller Ulrich Noller © Ulrich Noller

Autor und Journalist, arbeitet für verschiedene Medien, mit Schwerpunkt beim WDR. Er ist Mitglied der Krimibestenliste, der Jury des Deutschen Krimi Preises, der "Weltempfänger"-Bestenliste für Literatur aus dem Globalen Süden.

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