Doruk Ateş
Die Abenteuer von Eşrefzade İdris Bey und Ayfer Kafkas

Literarische Genres sind nicht an die unveränderlichen Gesetze der Physik gebunden. Gesellschaftliche Entwicklungen spiegeln sich auch in der Literatur, die sich genauso verändert wie die Welt selbst. Um mit dieser Welt im Wandel Schritt halten zu können, diversifizieren sich literarische Werke, transformieren sich gar. Unter den literarischen Werken war zweifellos der Roman der größten Veränderung unterworfen, die eine Aufteilung in Subgenres befördert hat. Und auch die fiktionale Struktur, die sich in diesen Subgenres herausgebildet hatte, war vom Wandel betroffen. Nur der Kriminalroman schien sich dieser Entwicklung widersetzen zu wollen. Selbst in dessen goldenem Zeitalter unterschieden sich die Krimis nicht voneinander und schienen alle nach dem gleichen Muster aufgebaut: Der geniale Detektiv triumphiert im Rahmen einer vorgeblichen Verfolgungsjagd über den dummen Verbrecher. Das sind Romane, die keinerlei menschliche Emotionen abbilden und bloß für den geistlosen Zeitvertreib gemacht scheinen. Aus diesem Grund ist die Kritik am Krimi, die wir heute noch zu hören bekommen, nicht unverdient. Erst als der Kriminalroman begann, Menschen als echte Menschen abzubilden, wurde er als literarisches Genre akzeptiert.
 
Es wäre sowohl gegenüber Ayfer Kafkas‘ Eşrefzade İdris Bey als auch gegenüber dem Kriminalroman selbst äußerst unfair, wenn wir über dessen Entwicklung sprechen würden, ohne auf Kafkas und ihre Romanfigur Eşrefzade İdris Bey einzugehen.
 
Es ist unbedingt erforderlich, Ayfer Kafkas‘ Serie Eşrefzade İdris Bey'in Maceraları [Die Abenteuer von Eşrefzade İdris Bey] im Hinblick auf das Dreigespann von Figuren, Ereignissen und Erzählweise zu durchleuchten, das den Krimi erst zum Krimi macht. Zunächst einmal sind die Figuren präzise beschrieben, ihre Anzahl ist überschaubar und sie werden entsprechend den typischen Merkmalen des Genres porträtiert. So stehen die Werke dem Melodram sehr nahe, sowohl was die dramatische Spannung als auch die Erzählform anbelangt. Ob in ihren Arbeitsbereichen, Charakterzügen oder Verhaltensmustern – die Figuren dieser Romane tragen die Spuren der osmanischen Lebensweise aus dem 19. Jahrhundert und sind an die Bedingungen dieser Zeit angepasst.
 
Die Hauptfigur Eşrefzade İdris Bey weist die klassischen Merkmale eines Ermittlers auf: ein intelligenter Mensch, der von der Wissenschaft zu profitieren versucht und einen unverwüstlichen Gerechtigkeitssinn besitzt. Dennoch ist er kein emotionsloser, mechanischer Spürhund. Ganz im Gegenteil wird er oft von seinen Emotionen überwältigt, macht Fehler, kann sie sich aber auch eingestehen. Diese Charaktereigenschaften heben ihn von anderen Detektivfiguren ab, machen ihn realistischer und bringen ihn somit der Leser*innenschaft näher.

„Von Zeit zu Zeit kommt es vor, dass ich von Menschen in die Irre geführt werde.“

(Kızıl Şebeke, S. 377)

Kafkas‘ Werke suchen nicht bloß eine Antwort auf die Frage, wer den Mord begangen hat, sondern befassen sich mit den Ursachen eines Mordes – genau so, wie es sein sollte. Sowohl die Ermittlungsarbeiten als auch die Aussagen von Zeug*innen und Verdächtigten sind in dieser Serie um die Suche nach den Antworten auf die Fragen „wer?“, „wie?“ und „wieso?“ herum gestrickt. Die Handlung geht nie über die Suche nach Antworten auf diese Fragen hinaus.
 
In Anbetracht all dieser Merkmale lässt sich schlecht behauptet, dass sich die Reihe von klassischen Kriminalromanen besonders abhebt. Die Werke von Ayfer Kafkas tragen auffällige Spuren einer schablonenartigen Ordnung dieses Genres: Zuerst wird ein Mord begangen, eine geringe Anzahl von Verdächtigen und Zeug*innen ist auf engstem Raum versammelt und der Ermittler, der die Mordfalluntersuchung leitet, überführt gegen Ende des Romans die Täterin oder den Täter. Obwohl die Werke der Autorin in dieser Hinsicht keine Überraschungsmomente oder schockierende Schlussakte aufweisen, die die Handlung aufwerten würden, so verdienen es Die Abenteuer von Eşrefzade İdris Bey durch die ausgefeilte Sprache der Autorin, die Authentizität der Erzählform, der gewählten Zeit und der besonderen Charaktere zu den angesehenen Beispielen des türkischen Krimi-Genres gezählt zu werden.
 

Autor
Doruk Ateş © © Doruk Ateş Doruk Ateş © Doruk Ateş

 

Doruk Ateş wurde 1982 in Çinçin-Ankara geboren. Noch während seines Grundstudiums wurde er in den öffentlichen Dienst berufen. Ateş war in verschiedenen Städten der Türkei beschäftigt, u. a. war er im Zweigaufsichtsrat der Gewerkschaft für Energiewirtschaft und Bergbauarbeiter tätig, die an KESK [dt. Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter] angeschlossen ist. Seine Kolumnen und Geschichten wurden in den verschiedenen Medienkanälen der Gewerkschaft veröffentlicht. Nachdem Ateş den öffentlichen Dienst verließ, arbeitete in unterschiedlichen Unternehmen. Doruk Ateş hat zwei Krimiromane verfasst und ist Gründungsmitglied der Crime Writers of Turkey.

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