Kirsten Reimers
Die Abgründe im Alltäglichen

Drei sehr unterschiedliche Frauen stehen im Mittelpunkt von Regina Nösslers Kriminalroman „Die Putzhilfe“. Da ist zunächst Franziska. Die junge Frau flüchtet – humpelnd und mit Hämatomen übersät – Hals über Kopf aus ihrem Zuhause in einem beschaulichen Vorstädtchen der ebenso beschaulichen Universitätsstadt Münster, in panischer Angst, dass ihr Lebenspartner zu früh von seiner Arbeit zurückkommen könnte. Franziska taucht in der Anonymität der Großstadt Berlin unter, nimmt einen falschen Namen an und mietet sich in einer heruntergekommenen Wohnung in Berlin-Neukölln ein. Die promovierte Soziologin, die eine vielversprechende Karriere an der Universität vor sich hatte, tauscht das abgesicherte Akademikerleben gegen eine prekäre Existenz als Putzhilfe: Sie arbeitet nun schwarz bei der Witwe Henny Mangold.
 
Diese wiederum lebt finanziell abgesichert im wohlsituierten Berlin-Dahlem. Elegant und gepflegt wirkt die ältere Dame, aber auch gehetzt, verängstigt und vereinsamt. Nach und nach scheint sie den Bezug zur Realität zu verlieren und innerlich wie äußerlich zu verwahrlosen. Außerdem gibt es noch Sina, eine Jugendliche aus Berlin-Neukölln mit hohem Aggressionspotenzial, die von ihrer alleinerziehenden Mutter vernachlässigt wird. Sie hat es auf Franziska abgesehen, weil sie sie für ein leichtes Opfer hält. Alle drei Frauen steuern – offenbar unvermeidlich – miteinander und gegeneinander auf ihre je eigenen Katastrophen zu.
 
Regina Nössler erzählt die Geschehnisse aus unterschiedlichen Perspektiven, vor allem aus denen ihrer drei Hauptfiguren. Auf diese Weise stellt sie geschickt das Bild, das die drei Frauen je von sich nach außen zeigen möchten, dem entgegen, wie sie von anderen erlebt werden. So werden Brüche und Ungereimtheiten in ihrem Verhalten und ihren Äußerungen deutlich. Alle drei haben sie Geheimnisse, die sie vor anderen verbergen wollen, alle drei spielen ihrem Umfeld etwas vor.
 
Rückblenden und mehrdeutige Erinnerungsfetzen zeigen, dass jede der drei Frauen Traumatisierendes erlebt haben muss, aber es bleibt lange Zeit unklar, was ihnen in der Vergangenheit wohl zugestoßen sein mag. Aber auch die Gegenwart hält Gefahren bereit, die nicht recht zu fassen sind. Ganz ohne Blutvergießen, reißerische Szenen oder Effekthascherei schafft es Regina Nössler gekonnt, eine Atmosphäre permanenter unterschwelliger Bedrohung und allumfassender Ungewissheit zu schaffen. Gleichzeitig spielt Nössler mit Lesererwartungen. Sie bedient zunächst bestimmte Klischees: Anfangs scheinen manche Ereignisse relativ einfach erklärbar – doch nach und nach unterläuft die Autorin diese simplen Erklärungen, höhlt sie aus, sodass die Zusammenhänge komplexer werden, bis buchstäblich nichts mehr so ist, wie es zunächst den Anschein hatte. Die Frage, wer hier Opfer oder Täter beziehungsweise Täterin ist, wird immer undurchschaubarer.
 
Regina Nössler wurde von der Kritik mehrfach mit Patricia Highsmith verglichen – zu Recht, denn was die untergründige Spannung angeht, kann sie es mit der US-Amerikanerin durchaus aufnehmen. Das Grauen und die Gefahr haben bei Nössler ihren Ursprung im Alltäglichen und im Zwischenmenschlichen – das macht ihre Kriminalromane ebenso faszinierend wie verstörend. „Die Putzhilfe“ wurde darum mit dem zweiten Platz des Deutschen Krimipreises für das Jahr 2019 in der Kategorie „National“ ausgezeichnet.
 
Die Autorin veröffentlicht seit Längerem Kriminalromane in dem kleinen unabhängigen Konkursbuchverlag in Tübingen, doch erst in den letzten Jahren wird ihr von der Kritik wie vom Lesepublikum mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht. Das ist ein großes Glück, denn Regina Nössler gehört zu den ungewöhnlichen Stimmen der deutschen Krimilandschaft. Bemerkenswert sind an ihren Romanen nicht nur die Plots mit ihren unvorhersehbaren Wendungen und Untiefen, sondern vor allem die facettenreichen Figuren, die in sich widersprüchlich sein dürfen und dadurch umso lebendiger und glaubwürdiger wirken.
 
Auf unaufgeregte, aber beunruhigende Weise thematisiert die Autorin aktuelle und gesellschaftlich relevante Themen, ohne moralinsäuerlich zu werden oder sich übertrieben ernst zu nehmen; immer ist auch ein wenig Ironie dabei. Auf diesem Weg macht sie gängige Vorurteile genauso bewusst wie soziale Normen und Konventionen. Im Roman „Die Putzhilfe“ spielt zum Beispiel Gewalt gegen Frauen ebenso eine Rolle wie die Gewalt von Frauen gegenüber dritten sowie die oft tabuisierte Frage der weiblichen Wut und Aggression. Intelligent und vielschichtig geht Regina Nössler damit um und vermeidet simplifizierende Antworten oder klischeehafte Reduktionen. Sie beweist dabei den Mut, unbequem zu denken und Rollenzuschreibungen von innen her aufzubrechen.
 
Die Kriminalromane von Regina Nössler erzählen mit genauer Beobachtungsgabe und sehr subtilem Humor von den Abgründen in Menschen und von denen im Zwischenmenschlichen. Ihre Settings sind alltäglich, das macht die Romane umso verstörender, da sie an so viele Alltagserfahrungen anschließen können. In diesen das Doppeldeutige zu erkennen und in seiner Banalität wie Ungeheuerlichkeit lebendig zu machen, ist eine der faszinierenden Fähigkeiten der Autorin.
 
Regina Nössler: Die Putzhilfe
Tübingen: Konkursbuchverlag 2019
 

Autor

Kirsten.Reimers © © Dirk Schönfeldt, Elmshorn Kirsten.Reimers © Dirk Schönfeldt, Elmshorn
Kirsten Reimers ist Literaturwissenschaftlerin. Sie arbeitet als Literaturkritikerin für Hörfunk und verschiedene Printmedien, lebt in Hamburg und ist Sprecherin der Jury des Deutschen Krimipreises.

 

Top