Algan Sezgintüredi im Gespräch mit Sevin Okyay

Algan Sezgintüredi
© Cagin Kaya

Von Algan Sezgintüredi

 
Lieber Algan, du bist nicht nur Präsident der Crime Writers of Turkey, sondern auch Übersetzer und Redakteur. Als ich dich kennenlernte, warst du noch als Science-Fiction-Autor tätig. Hast du damals nebenher auch noch deinen Beruf als Grafikdesigner ausgeübt?
 
Meinen ersten Roman, den ich 1996/97 schrieb, kann man als Science-Fiction bezeichnen. Damals lag meine Karriere als Grafikdesigner in den letzten Zügen. Ich war sowieso nie ein renommierter Grafikdesigner und Art Director, der für Werbeagenturen arbeitete. Ich habe diesen Job aber nicht aufgegeben, weil ich nicht mehr konnte. Ganz im Gegenteil glaube ich, dass mich der Beruf aufgegeben hat, sodass er vor dem Ende des 20. Jahrhunderts ganz von alleine aus meinem Leben verschwand.
 
Später hast du das Genre komplett gewechselt und 2006 deinen ersten Kriminalroman Katilin Şeyi [Die Sache des Mörders] veröffentlicht. Darauf folgten der Reihe nach Katilin Meselesi [Die Angelegenheit des Mörders], Katilin Uşağı [Der Lakai des Mörders] und Katilin Şahidi [Der Zeuge des Mörders]. Vedat und Tefos vorerst letztes Abenteuer kann man in Maktulün Şansı [Die Chance des Ermordeten] lesen, das vom April Verlag herausgebracht wurde. Dein neuester Roman Süperben [Super-Ich] ist ein für dich sehr typisches Science-Fiction-Werk. Ich behaupte jedoch, dass die Figuren Vedat und Tefo deine Art des Schreibens viel besser kennzeichnen. Wie hast du mit dem Schreiben von Krimis begonnen?
 
Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ich lese Kriminalromane seit meiner Kindheit, aber sie selbst zu schreiben, ist mir damals nicht in den Sinn gekommen. Der Wunsch danach ist in mir wohl unbemerkt gereift und hat auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Im Grunde genommen habe ich einfach so angefangen. Was Vedat anbelangt: Es mag vielleicht pathetisch klingen, aber ich glaube, dass die Figur mich gefunden hat und nicht anders herum. Ich habe zu Beginn nicht einmal an so einen Charakter gedacht, geschweige denn an seinen Vor- und Nachnamen. Zuerst schrieb ich eine Erzählung, die sich dann zu dem Roman Katilin Şeyi entwickelte. Davor hatte ich mich aber eher mit Science-Fiction beschäftigt, wie du sagst. Das Internetzeitalter war damals gerade eingeläutet worden und ich schickte jedes neue Kapitel, das ich schrieb, per E-Mail an meine Lebensgefährtin Sibel und einen meiner engsten Freunde, den Theaterkünstler Yıldıray Şahinler. Irgendwann sagten beide, dass meine Texte Buchpotenzial besaßen. Die Datei – ich erinnere mich nicht mehr ganz so genau – fand entweder auf direktem oder indirektem Wege durch Yıldıray zu dir. Deine Kommentare hatten mich dermaßen ermutigt, dass ich dir Katilin Şeyi schickte.
 
Du warst und bist immer noch ein sehr guter Übersetzer. Unter deinen Übersetzungen befinden sich auch Kriminalromane. Du hast den Krimipreis des Dünya-Buchmagazins erhalten und eine Krimiserie geschrieben, deren Hauptfiguren mit beeindruckendem Erfolg zu bekannten Romanhelden avancierten. Darüber hinaus sind dies sehr überzeugende Charaktere, die uns mit einer gewissen Nostalgie an traditionelle Familienstrukturen denken lassen. Woher nahmst du die Inspiration für Vedat und Tefo?
 
Die Vergangenheitsform ist eher richtig, denn ich übersetze nur noch sehr wenig, aber als Redakteur und Lektor arbeite ich immer noch im Übersetzungsbereich. Was den Krimi-Preis angeht, bin ich natürlich sehr dankbar. Die Figur Vedat kam, wie gesagt, von alleine zu mir und machte mir die Hölle heiß. Er ist jemand, der in einer extrem maskulinen Kultur – die ihn mit tief verwurzelten Vorurteilen wie „Was soll dir das Lesen bringen? Willst du Gelehrter werden, oder was?“ klein hält – zu überleben versucht, indem er seine emotionale und intellektuelle Seite versteckt. Er ist clever, kann aber nicht methodisch denken; Probleme kann er nicht sofort erfassen und lösen. Seinen Partner Tevfik entwickelte ich als Gegenpol, als mir klar wurde, dass Vedat kein einsamer Wolf sein konnte. Abgesehen von der Körpergröße, aber einschließlich seines analytischen Denkvermögens und vielen anderen Eigenschaften, ist diese Figur an einen meiner engsten Freunde angelehnt.
 
Obwohl du ursprünglich aus Istanbul stammst, lebst du in Izmir. Vedat Kurdel und Tevfik Dağdelen sind gebürtige Istanbuler, sozusagen die Kinder Kadıköys. Ich stelle mir vor, dass sie aus [dem eher wohlhabenden Viertel] Suadiye stammen. Wir verfolgen die Handlung aus der Sicht von Vedat, aber der eigentlich clevere Rätsellöser ist Tevfik, beziehungsweise Tefo.
 
Suadiye ist richtig, dort bin ich aufgewachsen. Ich kenne die Luft, die Menschen und die Geografie dieses Stadtteils sehr gut. Tefo ist aber eigentlich gar nicht der cleverere der beiden. Vedat neigt dazu, sich ablenken zu lassen und seine Energie in Arbeit zu stecken, die nicht zielführend ist, während Tefo über ein analytisches und methodisches Denkvermögen verfügt – das ist aber auch alles. Man kann sagen, dass ich eine Holmes-Watson-Paarung anstrebte. Dr. Watson ist auf den ersten Blick sowohl Erzähler als auch komplementärer Helfer. Aber nicht nur das: Watson besitzt Eigenschaften, die, wenn man sie für sich betrachtet, in jeglicher Hinsicht Hauptfigur-Potenzial aufweisen. Er ist ein Chirurg, was bedeutet, dass er weder unter- noch durchschnittliche Intelligenz besitzt. Zudem ist er ein Soldat, was ihn mutig und kampferprobt macht. Ich finde es unfair, dass er in einigen Film- und Serienadaptionen als Comedy-Element karikiert wird. Ich bin mir sicher, dass das nicht im Sinne Doyles war, sondern, dass er eher auf die Bedeutung von Wissenschaft, Vernunft und Humanismus hinweisen wollte, als er Dr. Watson Holmes gegenüberstellte. Ja, Vedat ist eine Adaption von Dr. Watson und Tefo eine Art Holmes. Der entscheidende Unterschied jedoch ist, dass diese Figuren die Zustände in unserem Teil der Welt darstellen. Ist diese Herangehensweise ein intellektuelles Spiel, das sich mit der Frage beschäftigt, ob diese Figuren, wenn sie in der Türkei geboren und aufgewachsen wären, so und so agieren würden? Oder ist es eine schamlose Kopie, der hier und da etwas hinzugefügt wurde? Jorge Luis Borges behauptete, nur für das Amüsement seiner Freund*innen zu schreiben. Vielleicht ist es am besten, nicht mit zu viel Ernst an die Dinge heranzugehen.
 
Du hast als Autor einen ganz eigenen Stellenwert und das nicht nur wegen deiner Romanfiguren, die einem ans Herz wachsen, wegen deiner soliden Handlungsstränge und deines subtilen Humors, sondern auch dadurch, dass du die türkische Sprache sehr gut beherrschst. Ich würde sogar behaupten, dass die Sprache deine Leidenschaft ist, von der du dich gelegentlich regelrecht mitreißen lässt.
 
Vielen Dank. Ich hoffe, dass ich dem, was du gesagt hast, wirklich gerecht werde. Ja, ich habe eine Leidenschaft für die Sprache, aber das gilt nicht nur für die Türkische, sondern auch für die Sprachen Englisch und Französisch, die ich mehr oder weniger beherrsche. Ich weiß jedoch nicht, woher das kommt. Vielleicht rührt das daher, dass ich weder besonders gesprächig noch gut im Reden bin. Als Kind las ich Wörterbücher und Enzyklopädien. Ich habe mir im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren das Lesen der kyrillischen und griechischen Alphabete beigebracht (die Sprachen beherrsche ich natürlich nicht). Das arabische Alphabet konnte ich aber nicht entschlüsseln. Ja, während ich schreibe, lasse ich mich manchmal mitreißen, aber nicht mehr so sehr wie früher. Vermutlich liegt das an meiner Redaktions- und Lektoratstätigkeit.
 
In dein erstes Buch hast du durch die Erzählerfigur Vedat absichtlich eine gewisse Laienhaftigkeit eingebaut. Da Vedat kein Schriftsteller ist, muss er anfangs noch sehr kämpfen. Dann entwickelt sich sein Stil und er erwärmt sich fürs Schreiben. Außerdem ist er auch deine stärkste Waffe, was die humoristischen Elemente in deinen Romanen betrifft. Hat er sich genau so entwickelt, wie du wolltest?
 
Ja, ich glaube, das hat er. Die Idee stammt aus meinem ersten Roman, den ich geschrieben und dann liegen gelassen habe. Je länger ich als Übersetzer und Autor tätig war, desto deutlicher erkannte ich die Fehler in meinem ersten Buch und wusste, welche Abschnitte und Sätze ein Lektor streichen würde. Heute weiß ich, dass es keine besonders erfolgsversprechende Idee war, als Laie davon zu erzählen, wie jemand das Detektivhandwerk oder die Schreibkunst erlernt. Aber ich kann auch nicht sagen, dass ich das so nicht hätte schreiben sollen, denn ich stimme Milan Kundera in seiner Beschreibung des Verhältnisses von Kunst und Künstler*in zu, die er mit Don Quijotes erfolglosem Kampf gegen Windmühlen vergleicht. Die direkten oder indirekten Reaktionen aus Presse- und Social-Media-Beiträgen zeigen, dass nur sehr wenige Leser*innen meine Intentionen verstanden haben. Bedauere ich das und würde ich mit meinem heutigen Erfahrungsschatz anders vorgehen? Vielleicht würde ich beim Schreiben mehr innehalten und nachdenken, aber letzten Endes wahrscheinlich den gleichen Weg gehen. Ich vergleiche Humor ein bisschen mit dem Bogenschießen: Du streckst die Bogensehne und lässt schließlich los. Wenn du nicht loslässt, sondern weiterspannst, bricht der Bogen. Humor ist, die Sehne rechtzeitig loszulassen, bevor der Bogen bricht.
 
Du bist immer noch als Übersetzer tätig, wovon du größtenteils deinen Lebensunterhalt finanzierst. Außerdem bist du auch noch Lektor, weshalb der Abstand zwischen deinen Büchern immer größer wird. Aber dadurch bist du auch denjenigen bekannt, die sich nicht für Kriminalliteratur interessieren. Was sind die Schwierigkeiten unseres gemeinsamen Übersetzerberufs? Hier können wir natürlich noch einmal auf das Thema Sprache eingehen. Unsere Auftraggeber*innen können uns ja auch große Schwierigkeiten bereiten.
 
Ich versuche mir meinen Lebensunterhalt als Redakteur und Übersetzungslektor zu verdienen. Wie gesagt, übersetze ich nicht mehr so viel wie früher. Es ist richtig, dass wegen der anderen Tätigkeiten der Abstand zwischen meinen Büchern immer größer wird, trotzdem versuche ich bei jeder Gelegenheit zu schreiben. Ich habe keine Übersetzerausbildung abgeschlossen, bin aber überzeugt, dass es einer der schwierigsten Berufe der Welt ist. Es ist so gut wie unmöglich, zwei Sprachen gerecht zu werden, wenn man zwischen ihnen vermitteln muss, da sie sich unter gänzlich verschiedenen Bedingungen entwickelt und diesen Bedingungen entsprechende Begrifflichkeiten hervorgebracht haben.
Darüber hinaus reicht es nicht aus, die Quell- und Zielsprache nur gut zu beherrschen. Diese Tätigkeit erfordert ein hohes Maß an kultureller Bildung und Recherchearbeit. Aber all diese Schwierigkeiten haben eine gute Seite: Sie belohnen deinen Fleiß mit Wissen und einer erweiterten Perspektive.
Übersetzer*innen sind mit vielen Problemen im Alltag konfrontiert. Alle Menschen, die in der Türkei um ihren Lebensunterhalt kämpfen müssen, können einschätzen, wovon hier die Rede ist. Um ehrlich zu sein, verblassten meine Beschwerden über Auftraggeber*innen allmählich, als ich sie kennen und verstehen lernte. Natürlich habe ich viele Male mein Honorar gar nicht oder zu spät erhalten oder mir wurde viel weniger ausbezahlt als abgesprochen war. Aber ich habe auch das Gegenteil erlebt. Ich hatte die Gelegenheit, mit zuverlässigen Verlagen zusammenzuarbeiten. Es ist nicht leicht, in einer Kultur, die die Frage „Was ist denn schon richtig an mir?“[1] hervorgebracht hat, Lösungen für Probleme zu finden.
 
Die Kriminalliteratur hat sich in den letzten Jahren stark entwickelt, die Zahl der Autor*innen hat zugenommen. Bist du als Autor zufrieden mit deiner Beziehung zu deinen Leser*innen? Mit welchen Problemen siehst du dich konfrontiert? Der Verband Crime Writers of Turkey wurde 2017 gegründet und besitzt mittlerweile rund 100 Mitglieder. Was habt ihr in dieser kurzen Zeit alles erreicht?
 
Es stimmt, dass es heute viel mehr Krimiautor*innen und Kriminalromane gibt und das Interesse an dieser Literatur allgemein angestiegen ist, was natürlich ganz wunderbar ist. Ich denke, dass die Beziehung zur Leserin oder zum Leser nicht etwas ist, mit dem man entweder zufrieden oder unzufrieden sein sollte. Leser*innen stellen meiner Meinung nach keine Einheit dar, die gemessen werden kann und unveränderlichen Regeln und Definitionen unterliegt. Was die Beziehung zur Leser*innenschaft betrifft, so verfügt diese heutzutage über eine Ebene, die sich Autor*innen vor dem Internetzeitalter nicht hätten ausmalen können, und die weit über Leser*innenbriefe hinausgeht. Durch Social Media können mittlerweile alle allen sagen, was sie möchten. Das ist weder gut noch schlecht, sondern vielmehr ein Wesenszug des Zeitgeistes. Die Hauptprobleme von Krimiautor*innen und Übersetzer*innen hängen mit den allgemeinen Problemen unseres Landes zusammen. Im Rahmen von Crime Writers of Turkey haben wir beispielsweise 20 Erzählungen von 21 Krimiautor*innen in einer Auswahl mit dem Titel „Kanlakarışık“ [Mit Blut vermengt] versammelt und den Preis „Kristal Kelepçe“ [Kristall-Handschellen] ins Leben gerufen, der 2019 zum ersten Mal verliehen wurde. Unsere zweite Auswahl an Erzählungen ist ebenfalls fertig. Weitere geplante Projekte mussten jedoch aufgrund finanzieller Schwierigkeiten und der Covid-19-Pandemie vorerst ausgesetzt werden.

[1] Auszug aus einem türkischen Sprichwort: „Ein Kamel wurde gefragt, warum sein Rücken so ungerade ist. Der Kamel antwortete: Was ist denn schon richtig an mir.”
 

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