Jale Özata Dirlikyapan
Das Haus in der türkischen Literatur: Werden wir fliehen, ankommen oder Zuflucht finden?

Von Jale Özata Dirlikyapan

Das Haus hat das Potenzial, ein sehr vielschichtiges und bedeutsames Thema zu sein, und ist immer schon Bestandteil der Literatur gewesen, ganz gleich, ob es zuweilen metaphorisch, gelegentlich auch mit der Last der Realität, entweder im Zentrum der Literatur oder an ihrem Rand verortet war. Zusammen mit der intensiven emotionalen und intellektuellen Anstrengung der Autorin oder des Autors und mit den Spuren ihrer oder seiner Individualität versehen, nimmt das Haus unterschiedliche Gestalten und Bedeutungen an. Zudem wirken soziale Dynamiken mit der gleichen Kraft auf das Konzept des Hauses ein, selbst wenn die Türen und Kaminschächte dicht verschlossen sein sollten. Zwangsläufig haben sich die Bedeutungen, die man dem Haus in Romanen verleiht, zusammen mit den fluktuierenden und sich wandelnden sozialen und individuellen Problemen in Krisenzeiten stetig verändert.

Man kann sehen, dass das "Haus" in der türkischen Literatur, insbesondere im Roman, auf unterschiedliche Arten thematisiert wurde. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die ersten Romane verfasst wurden, wurde dem Haus im Zusammenhang mit der Verwestlichung ein symbolischer Stellenwert verliehen, und wurde so zu einem geeigneten Instrument, um über den Konflikt zwischen Traditionalismus und Moderne zu diskutieren. Beispielsweise erläutert Ahmet Mithat Efendi in seinem Roman Felâtun Bey und Rakım Efendi sein Verständnis des Verwestlichungsprozesses anhand von zwei typischen Figuren der Zeit, von denen eine Rakım Efendi ist, dessen Haus durch seine altmodische Ausstattung als "perfektes türkisches Haus" idealisiert wird. Im Zuge der Thematisierung ähnlicher Sachverhalte, jedoch von einer ganz anderen Methodik gekennzeichnet, ist das Werk Automobil-Liebe zu erwähnen, in dem von Bihruz Beys Zuhause die Rede ist, dessen Wohn- und Arbeitsräume im westlichen Stil eingerichtet wurden. Dieses Werk verhandelt das Thema des Hauses im Vergleich zu seinen Vorgängern um einiges intensiver. Im Großen und Ganzen dienen das Haus und seine Möbelstücke in diesen Romanen als Symbole für die Darstellung und Thematisierung des sozialen Dilemmas jener Zeit.

Dass das Motiv des Hauses von den Autoren vordergründig als Indikator für die ideale soziale Identität oder als Kritik an der Nachahmung benutzt wird, findet sich noch jahrelang prägnant im türkischen Roman. Das gleiche Motiv können wir in den Jahren darauf in den Romanen von Peyami Safa, Yakup Kadri Karaosmanoğlu und Reşat Nuri Güntekin beobachten. Zum anderen wurden auch Romane verfasst, die sich metaphorisch durch den Zerfall oder die Vernachlässigung der alten Herrenhäuser (tr. "Konak") mit den Auswirkungen des Übergangs vom Großreich zur Republik befassten. Einige dieser Romane sind: Mithat Cemal Kuntays Dreimal İstanbul (tr. Üç İstanbul), Yakup Kadris Das zu vermietende Herrenhaus (tr. Kiralık Konak) und Ein Gesicht İstanbuls (tr. İstanbul’un Bir Yüzü) von Refik Hâlid Karay.

Die Bedeutung des Hauses nimmt allerdings durch die Werke von Autorinnen ein ganz anderes Ausmaß an. Autorinnen wie Fatma Aliye, Nezihe Muhiddin und Halide Edip kritisieren auf unterschiedliche Art und Weise, zusammen mit dem Wissen um die Last, die dem Haus als symbolischem Träger der Verwestlichungskrise anhaftet, Umstände wie die Gefangenschaft der Frau im Haus und ihrer Verdammung zur Führung des Haushalts anhand von Heldinnen, die aus dieser Sackgasse heraus über ihre eigene Position zu reflektieren beginnen. Die Protagonistinnen dieser Autorinnen verspüren das Bedürfnis, der Tradition, bzw. dem "Haus des Vaters" zu entfliehen, oder haben auch, obzwar dies seltener der Fall ist, den Wunsch, gänzlich ohne einen Ehemann oder Vater über ein eigenes Haus zu verfügen.

Neben der Funktion, ein soziales Dilemmas darzustellen, beginnt sich die Bedeutung des Hauses – stark beeinflusst durch die von Halit Ziya initialisierte ästhetische Intensivierung des Romanverständnisses – auf Innenwelten/Innenräume zu konzentrieren und erforscht nunmehr die Auswirkungen, die die soziale Krise auf das Individuum selbst ausübt. Auffällig hierbei ist, dass der Ort im Allgemeinen und das Haus im Besonderen mit dem Individuum zu verschmelzen beginnen und durch seine Perspektive geformt werden. Das Haus in den Romanen von Halit Ziya reflektiert den Gemütszustand der Protagonistinnen und Protagonisten und ist der Begleiter ihrer inneren Transformationen. Zusammen mit Begriffen wie Privatsphäre, Heim, Besitztum und Heiligkeit wird im türkischen Roman zum ersten Mal die Bedeutsamkeit des Hauses in Bezug auf den Menschen hinterfragt.

Mit den nach 1950 beginnenden Veränderungen der sozialen Verhältnisse, dem Ende des Einparteiensystems, dem Beginn der Migration in die Städte und dem Anstieg an Übersetzungen westlicher Romane, wird in der Literatur vermehrt nach Möglichkeiten gesucht, diesen Wandel auszudrücken. Die reformistischen Autorinnen und Autoren der damaligen Zeit, deren Einfluss auf die Autorinnen und Autoren unserer Gegenwart nach wie vor spürbar ist, schrieben in dem Bestreben, die neuen sozialen, politischen und literarischen Konflikte dieser Zeit des Wandels in ihren Werken sichtbar aufzuarbeiten. Zusammen mit dem existenzialistischen Einfluss modernistischer Autoren wie Dostojewski, Kafka, Faulkner und Proust gewinnt der ausführliche, tiefsinnige und nach innen gerichtete Blick vermehrt an Bedeutung. Die Spuren, die die sozialen Transformationen in den Innenwelten hinterlassen, werden in einer der jeweiligen Innerlichkeit gebührenden Authentizität aufgezeigt. Dementsprechend werden dem "Haus" in unterschiedlichen Ausmaßen symbolische und fantasiereiche Bedeutungen verliehen. Wir beobachten, wie sich die Reaktion auf eine repressive Gesellschaft, ein repressives Umfeld, auf Traditionen, die die Freiheit einschränken, entweder in der Flucht vor dem Zuhause oder in der Obdachlosigkeit zeigt. Beinahe alle Erzähler und Erzählerinnen der 1950er-Generation suchen nach Wegen, um dem Gefühl der Einengung sowie repetitiven thematischen Ausrichtungen und Ausdrucksweisen zu entkommen. Dieses Gefühl der Einengung und die Suche nach einem Entkommen wird in den Werken zuweilen mit Hauseindringlingen wie Insekten und Mäusen und unheimlichen Geräuschen, die von dem Haus ausgehen, ausgedrückt. Der Mann, der sich mit einer Horde Katzen im Haus einsperrt; das Kind, das einen Mann mit Freude dabei beobachtet, wie er unter dem Vorwand, das Dach seines Hauses erneuern zu wollen, dieses völlig durchlöchert (Onat Kutlar); der Mann, der wie wild die Ruder seines Boots bewegt, um dem am Boot festhängenden Kadaver entkommen und nach Hause zurückkehren zu können (Ferit Edgü) – das alles sind Protagonisten, die dazu entworfen wurden, um das existenzielle Unbehagen der Autoren (in der ständigen Schleife von nach Hause zurückkehren – von Zuhause flüchten – sich im Haus einsperren) in dem Kampf gegen das "Haus", dem Symbol der Zugehörigkeit, deutlich zu machen.

Die Autorinnen dieser Zeit bringen ihre Kritik an dem Zuhause patriarchalischer Tradition, dem Haus des Vaters/Ehemanns, deutlich mutiger und eindringlicher zum Ausdruck. Während in Nezihe Meriçs ersten Erzählungen noch von Teekesseln, die in der Küche vor sich hin kochen, dem Garten, der jeden Tag geputzt wird, und der Frau, die mit ihren Blumen glücklich und zufrieden scheint, die Rede ist, werden in späteren Erzählungen ruhelose und alles hinterfragende Frauen charakterisiert. Die zu Beginn zahme Erzähltechnik wird zugunsten einer innovativeren abgelöst. Leylâ Erbils Eine seltsame Frau beginnt damit, dass die jähzornige Nermin ihrem Elternhaus entkommen will. Später entflieht Nermin auch dem luxuriösen Haus, das sie sich mit ihrem Ehemann teilte, und zieht in ein Gecekondu, um näher an ihrem Volk sein zu können. [Gecekondu: türkische Bezeichnung für eine informelle Siedlung. Wortwörtliche Übersetzung: "Nachts hingestellt".] Ihren Schluss findet diese Geschichte in einem Hotelzimmer, das als Ort des Misserfolgs gedeutet werden kann. In Sevgi Sosyals Texten der darauffolgenden Jahre findet sich in der beschriebenen Kargheit, die zunehmend das Innere des Hauses bestimmt, in der schablonenhaften Lebensweise und in den Haushaltsangelegenheiten der Frau, ein starkes Aufbegehren gegen die Gegenstandsbesessenheit, die alles Mögliche zum Kaufobjekt macht. Das "Haus" in Adalet Ağaoğlus Romanen ist meistens der Feind der Frau, dessen Wände sie wie ein Gefängnis einzusperren vermögen. Was diese Autorinnen so stark macht, ist, dass sie ihre Kritik an der gesellschaftlichen Wahrnehmung, die die Frau mit dem Haus identifiziert, in einem originellen literarischen Stil ausdrücken.

Yusuf Atılgan, einer der einflussreichsten Schriftsteller dieser Zeit, erfindet in Der Müßiggänger (tr. Aylak Adam) den Antihelden C., der an keinem Ort Ruhe finden kann, sich unentwegt draußen aufhält und als Obdachloser lebt, obwohl er ein Zuhause hat. Das Haus von Zebercet in Hotel Heimat (tr. Anayurt Oteli) hingegen ist ein Hotel, das einst ein Herrenhaus ("Konak") gewesen ist. Zebercet, der im Hotel über üble Gerüche und mangelnde Luft klagt, hält nur das Zimmer instand, das eine Frau aus Ankara für eine Nacht belegt hatte. Er hält dieses Zimmer stets sauber, bemüht sich darum, den Duft zu bewahren, der sich in ihm eingenistet hat, und versucht, aus diesem Zimmer ein "Zuhause" für sich zu machen. Das Haus, das der Freiheit im Weg steht, und der Wunsch, draußen nach einer Art Wahrheit zu suchen, sind Themen, die sich indirekt durch alle Erzählungen des Autors ziehen. Selbst das Huhn in Jenseits des Hühnerstalls (tr. Kümesin Ötesi) verspürt im Zuge seiner Neugier den starken Wunsch, sein Zuhause zu verlassen.

Ein weiterer wichtiger Name der türkischen Literatur ist Oğuz Atay, der diese Thematik im Rahmen von Heimatverbundenheit-Verwestlichung und Vater-und-Sohn-Konflikten veranschaulicht. In Die Haltlosen (tr. Tutunamayanlar) schreibt Selim in einer langen Tirade an seinen Vater, dass das Haus, das er mit ihm identifiziere, ganz langsam seine Seele abtöte und er dort nicht mehr länger leben wolle. Später jedoch, obwohl er in diesem Haus sterben möchte, wird er sagen, dass die finsteren Gedanken, die sich in die Wände und die Möbel des Hauses eingenistet hätten, ihn "zu einem Wurm gemacht haben, der um jeden Preis leben möchte", und wird sich daraufhin noch lange mit der Frage nach dem besten "Ort zum Sterben" auseinandersetzen. Er wünscht sich keinen "übereilten Tod" nach dem Vorbild seines Vaters, aber bringt es eben auch nicht fertig, in dem Haus zu sterben. Das Haus wird unter anderem in dem unlösbaren Vater- bzw. Traditionskonflikt zum Ort der Unentschlossenheit.

Es gibt noch eine Vielzahl weiterer einflussreicher Autoren und Autorinnen, die ich hier nicht erwähnt habe, mit deren Hilfe sich aber der Begriff "Haus" in der Literatur unserer Gegenwart in der Auseinandersetzung mit solchen Begriffen wie Zuhause, Unterschlupf, Zugehörigkeit, Sicherheit oder Einengung weiterentwickelt und verändert. Angesichts der gegenwärtigen politischen und sozialen Konflikte fühlen sich die Autorinnen und Autoren ständig dazu verpflichtet, die Funktion der Literatur zu überdenken. Sie durchlaufen ein Zeitalter, in dem sie beständig verhandeln, was es bedeutet, ein Haus zu besitzen und in ihm (weiterhin) zu existieren. Während dieser literarische Prozess bei einigen Autorinnen und Autoren auf der thematischen Ebene abläuft, hinterfragen andere Autorinnen und Autoren die Möglichkeiten des Texts selbst. Das Gefühl sich "nirgendwo zu Hause zu fühlen" verhäuslicht in einigen Fällen zwangsläufig den Text, bzw. macht ihn für bestimmte Autorinnen und Autoren selbst zum "Zuhause". Gemäß der bekannten Worte Walter Benjamins, die der Ausweglosigkeit und Melancholie entstammen: "Denn einzig, was wir schon mit fünfzehn wußten oder übten, macht eines Tages unsere Attraktiva aus. Und darum läßt sich eines nie wieder gut machen: versäumt zu haben, seinen Eltern fortzulaufen."

Aus diesem Grund vielleicht wird es die Literatur niemals unterlassen können, dem "Zuhause" zu entfliehen, zu ihm zurückzukehren, sich in ihm einzusperren oder kurzzeitig Unterschlupf in ihm zu suchen.

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