Niyazi Zorlu
Zimme(h)r

Über Ayşegül Devecioğlu und "Der weinende Berg, der schweigende Fluss"...

Von Niyazi Zorlu

Der weinende Berg, der schweigende Fluss ist ein Roman für "Atiye und ihr heimatloses und unbeschriebenes Volk". Er ist den Roma gewidmet. In Ayşegül Devecioğlus Romanen und Erzählungen werden die Völker in "die Beschriebenen" und "die Unbeschriebenen" unterteilt. Sie ist eine Autorin, die aufzeigt, dass einige Völker neben den physischen Grenzen auch die fiktiven Grenzen der Geschichte und Literatur nicht überqueren können. Devecioğlu öffnet in all ihren Werken ihr Zimmer/ihren Text für deplatzierte und heimatlose Völker wie Roma, Kurden usw. Auch Der weinende Berg, der schweigende Fluss scheint davon zu handeln, dass wir das Heute nur durch die Konfrontation mit der von Massakern gespickten Vergangenheit verstehen können (im Roman benannt: 1934 die Juden in Kırklareli, 1978 die Aleviten und Roma in Maraş), die der Staat mit all seiner Kraft vergessen zu machen versucht.

Wie in dem Buch mit dem entsprechenden Valery-Zitat beschrieben, resultiert die eigentliche "Schöpfungskraft" aus „Mangel“ und „Leere“. 

Devecioğlu ist jedoch keine Geschichtsschreiberin, denn sie vergisst nicht einmal für einen kurzen Augenblick, dass sie sich in der Literatur aufhält. Sie setzt das Leben mit einem Geschick, das die Leser/-innen in Erstaunen versetzt, und, wie um die Wirklichkeit zu übertreffen, aus dem Nichts heraus neu zusammen. Sie schreibt, als hätte sie die beschriebenen Vorfälle selbst erlebt und die Heldinnen/Helden persönlich kennengelernt; sie selbst ist seit vierzig Jahren eine Roma in Der weinende Berg, der schweigende Fluss.

Sie weiß, wie man mit der Anspannung, die durch die Annäherung an Entferntes entsteht, und den Gefahren eines blinden Mitgefühls zurechtkommt. Devecioğlu befreit ihre Themen von einer romantischen Haltung, die Gefahren wie Trauer, Verfluchung, Verurteilung usw. beinhaltet.

Der weinende Berg, der schweigende Fluss steht dem Krimi sehr nahe. Die Erzählerin Naciye verfährt wie eine Detektivin mit den Bestandteilen, wie Zweifel, Zeugenaussagen, Lügen, Todesfälle, Auslandsaufenthalte usw. "Ich habe jeden Begriff zerlegt und jedes Wort durch das Sieb des Zweifels laufen lassen. Die Geschichte (...) blieb wie ein gebrochener Arm in der Luft der durch die gottlosen Zuhörer/-innen erschaffenen Leere hängen." [Aus dem Türkischen: “Kelimeleri didik didik etmiş, her sözü şüphenin eleğinden geçirmiştim. Öykü (...) imansız dinleyicinin yarattığı boşlukta kırık kol gibi havada asılı kalmıştı.” Ağlayan Dağ Susan Nehir, S. 90]

Die verführerische Magie der Lyrik in dem Roman wickelt sich beharrlich um die Stellen, in der die "trockene und nüchterne Weisheit der Wirklichkeit" sie zu brechen versucht. "Die erwartungsfreie Dunkelheit", "die rührende Rachsucht", "das vergleichende Gelächter" und "wurzellose, dünnflüssige Worte" sind nur einige Erzeugnisse der einzigartigen Bilderwelt Devecioğlus.

Laut Devecioğlu ist "der Stoff der Erzählung verletzlich"; sie folgt dem Anspruch, "die Geschichte nicht der Wirklichkeit überführen zu wollen, sondern durch die Geschichte die Wirklichkeit in Empfang zu nehmen". Kurz gesagt weiß sie, was eine Erzählung ist und auch wie man die Erzählung meistert. Selbst in den lyrischsten Beschreibungen behält sie ihre Kaltblütigkeit bei, vergisst nicht und lässt auch die Leser/-innen nicht vergessen, dass sie sich an einem Ort aufhält, der es darauf abgesehen hat, die Schreibende/den Schreibenden irrezuleiten. Dies ist womöglich auch der Grund, warum Devecioğlu in der türkischen Literaturlandschaft einen ganz besonderen Platz einnimmt. Sie schafft es, sich im Angesicht der Schönheit oder Hässlichkeit, der Freude oder des Kummers ihrer Heldinnen/Helden selbst in Schutz zu nehmen. Ihre Priorität ist der Roman, den sie unentwegt einreißt und wiederaufbaut – ähnlich wie Naciyes "Häuschen, das sich in beharrliche Fantasie verwandelt hat und durch die Bedauernswürdigkeit eines unmöglich gewordenen Lebens entstanden ist."

"Wenn der Herbsttag sich dem Abend zuneigt, färbt sich der Himmel über dem Balkan blutrot, die Säume der Wolken entflammen und das Feuer, das den Himmel umhüllt, fällt auf die Gesichter der Frauen, die ihre Besen an ihre Türen binden, in roten Schatten. Die Klänge von Geigen, Trommeln und Klarinetten treten urplötzlich wie Kinder hervor, die es geschafft haben aus den Räumen zu flüchten, in denen sie eingesperrt waren." [Aus dem Türkischen: “Güzleri gün akşama döndüğünde Balkan göğü kana boyanıyor, bulutların etekleri tutuşuyor ve göğü saran yangın kapı önlerinde süpürge bağlayan kadınların yüzüne kızıl gölgeler halinde düşüyor. Keman, darbuka, gırnata sesleri, kapatıldıkları yerden kaçmış çocuklar gibi ansızın ortaya çıkıyor." Ağlayan Dağ Susan Nehir, S. 11]

Diese Anfangssätze fassen die Literatur Devecioğlus kurz und prägnant zusammen. Sie ist eine Autorin, die darauf abzielt, Bedeutungen zu erzeugen, die anschwellen: Der Ausdruck "entflammende Säume" wird von den Leser/-innen in der Hinsicht "nicht wissen, was man tun soll" gedeutet und lässt sie mit einer Naturgewalt allein, von der der Mensch in einem furchterregenden Maß bedroht ist. In dieser Natur spielt die "Flamme, die dem Blechofen entkommen konnte" Verstecken wie ein Kind. In Der weinende Berg, der schweigende Fluss vermischt sich das Lebendige und das Leblose ständig miteinander, genauso wie Märchen und Wirklichkeit.

Die Handlungen im Roman machen den Anschein, sich gegenseitig der Lüge zu überführen, aber sind ohne einander nicht möglich: Wenn von den Roma, deren Zuhause die "Armut" und die "Fröhlichkeit" ist, gesprochen wird, werden auch wir Nicht-Roma verhandelt, die wir uns über die "Vater-Bruder-Blutlinie" definieren und Bürger von Ländern sind, deren Symboliken und Erfahrungen von Grenzen umfasst werden.

Für die Roma "fließt die Zeit tröpfchenweise, ohne sich irgendwo anzuhäufen oder zu versammeln, nicht einmal in einem Kännchen... Tröpfchenweise fließt sie von den Blechhängen des Hauses, aus der löchrigen Holztür, von dem blauen Rahmen gleitend..." [Aus dem Türkischen: “Ve zaman damla damla akıyor; hiçbir yerde birikmeden, toplanamadan, bir tenekecikte bile... Damla damla akıyor; evin teneke yamalarından, delikli tahta kapıdan, mavi çerçevelerden süzülerek...” Ağlayan Dağ Susan Nehir, S. 15]

In ihrem komplexen Erzählen verarbeitet die Autorin enzyklopädisches Wissen und nimmt Anleihen bei den Märchen. Die märchenhafte Sprache, die ausgesprochen passend für die verschwiegene und lügenbehaftete Lebensgeschichte von Naciye gewählt wurde, findet sich überall im Roman wieder, wie in diesem Beispiel ersichtlich wird: "Der Nebel, der in den frühen Morgenstunden herabsinkt, reißt die Wurzeln der Bäume im gegenüberliegenden Grundstück aus der Erde." [Aus dem Türkischen: “Sabah erken saatlerde çöken sis, evin karşısındaki arsada bulunan ağaçların köklerini yerden koparır." Ağlayan Dağ Susan Nehir, S. 39]

Devecioğlu gab sich nicht damit zufrieden, bloß die schönsten Seiten türkischer Literatur zusammenzubringen, sondern brachte es zustande, sie mit der bunten Sprache, der progressiven Erzähltechnik und ihrer leidenschaftlichen Suche enorm weiterzuentwickeln .

Sich irgendwo in İstanbul an einen Ort zurückzuziehen, der isoliert ist von Reizen von außen, sich an einen Tisch zu setzen, sich vorzunehmen, das Leben zu verstehen und zu erzählen, die Geschichte einer Roma/eines Roma (ob deutsch oder türkisch spielt dabei keine Rolle) auf die Geschichte von jedem und jeder zu übertragen, an einem winzigen Ort die Welt zu umschließen und nur durch ein paar Heldinnen/Helden in die Wirklichkeiten der menschlichen Seele einzutauchen ist wahrlich keine Aufgabe für jedermann.

Die Zimmer mancher Autorinnen und Autoren sind mehr als bloße Zimmer, sie sind "Zimme(h)r". Dass das Wort "oda" (tr. für Zimmer) einen nomadischen Ursprung (ōt für Feuer, otağ/odağ für Zelt) hat, erinnert einmal mehr daran, dass man sich in einem Zimmer verirren kann, sofern man das möchte, und dazu in der Lage ist, an entfernte Orte zu reisen.

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