Anja Kümmel
Flexen im High der Nutzlosigkeit

„immer nach vorne die nase in den wind free willy mindest qualmende reifen“ – so klingt sie, die Überaffirmation: möglichst viel Marketing- und Motivationssprech, in maximal 140 Zeichen gequetscht, Grammatik und Orthografie in den Wind schlagend, dafür „fresh und next-level-mäßig“ (MC Smook) mit echter Passion, von innen heraus. So beginnt „Mindstate Malibu“, der neue Sammelband aus dem Hause Starfruit Publications, herausgegeben von Joshua Groß, Johannes Hertwig und Andy Kassier, mit ein paar Seiten Power-Tweets. Wer sich viel auf Twitter herumtreibt, wird Dax Werner, Kurt Prödel oder Startup Claus kennen, wer nicht, wahrscheinlich eher nicht. Denn die meisten dieser Influencer-Performer tun kaum etwas anderes, als im Overdrive „nichtssagendes, aber hochgradig ideologisch abschließendem Vokabular, das die Menschen anpeitschen soll, immer besser zu performen und gesetzte Goals zu achieven“ (Fabian Schäfer) zu (re-)produzieren. Genau wie all die anderen selbsternannten Founder, Entrepreneure, Forward-Thinker, Gamechanger und Changemaker da draußen in der weiten Welt des Webs. Nur eben einen Ticken besser. Und schneller. Und fresher.

Von Anja Kümmel

Im „Mindstate Malibu“ verschwimmen Utopie und Dystopie zu einem Vexierspiel, das sich mal so, mal so zeigt, je nachdem, welches Auge man gerade zukneift. Folgerichtig mixt der Band einmal alles kräftig durch: Träumer und Revoluzzer, Realisten und Creators, Empowerment-Talk und soziolinguistische Abhandlung, Instagram-Hochglanz und Bleistiftgekrakel. „Hier grindet eine neue Avantgarde“, behauptet Johannes Hertwig, „mit einer Agenda und einer eigenen Poetik.“ Die Poetik ist unbestreitbar; was genau auf der Agenda dieser Avantgarde steht, bleibt allerdings schwammig (worin möglicherweise genau ihr Sinn liegt). Zumindest denkt sie zwei oft bemühte Gemeinplätze der Postmoderne konsequent zu Ende. Erstens: Dass der Spätkapitalismus mit seinen intransparenten Durchdringungsmechanismen kein kritisches Außen (mehr) erlaubt. Zweitens: Dass Authentizität nur (noch) heißen kann, „wie stringent eine Performance, wie gewitzt ein Fake ist“ (Lisa Krusche).

Und was genau bedeutet das jetzt für die spekulative Literatur?
Auf die Bestseller-Listen schaffen es nach wie vor v.a. explizite Dystopien, die ganz nach guter alter Orwell’scher Manier das unterdrückte Individuum gegen einen totalitären Staat in den Ring schicken – oder, seit dem Anbruch des digitalen Zeitalters, einen privaten Ermittler gegen megalomane Tech-Gurus und/oder eine bösartige Künstliche Intelligenz[1]. In einer weniger gehypten Parallelwelt existieren allerdings auch andere Entwürfe, denen es gelingt, ein subtiles Unbehagen ohne konkrete Feindbilder zu erzeugen, deren Erzählinstanzen auf verstörende Weise Anpassung und Rebellion, Ironie und Wahrhaftigkeit in sich vereinen – kurz, die den Move des Spaß-Duos Creamspeak vollauf zu beherzigen scheinen: „Die Red Pill und die Blue Pill (wieder Matrix) einfach mal in den Smoothie-Mixer lupfen und das ganze Ding in einem Zug wegkärchern.“

Wie das aussehen kann, zeigt z.B. „Planet Magnon“ von Leif Randt. In „Mindstate Malibu“ spricht der Autor mit Joshua Groß nicht nur über den optimalen Konsum von Milchshakes, sondern auch über einige zentrale Elemente des Romans, allen voran „PostPragmaticJoy“. Das Ideal des Dolfin-Kollektivs, dessen Mitglied Randts Hauptfigur ist, bedeutet im Prinzip nichts anderes als jene von Groß postulierte „Komplizenschaft mit dem System“, die stets die eigene Unfreiheit mitdenkt. Genussfähigkeit bei gleichzeitiger Selbstkontrolle, ein harmonisches Nebeneinander von Wellness und kalkulierter Selbstzerstörung, Zerstreuung und Pflichterfüllung.„PostPragmaticJoy“ spitzt eine Entgrenzungslogik zu, die auch das Exzessive bereits mit einkalkuliert. Wie etwa die Foodfights, bei denen Himbeermilch-Packungen an den Fensterscheiben der Akademie-Kantine zerplatzen. Die Dozenten schauen schmunzelnd zu, denn insgeheim ist die Rebellion ein ästhetisches Fest. Juniordolfins dürfen auch mal über die Stränge schlagen – wozu gibt es schließlich „Clearings“, die einem Alkohol- und Drogenreste flugs aus dem System spülen. Schon ist „der Balance-Grind zwischen sanfter Melancholie und Positivity“ (Dax Werner) wieder hergestellt. Um Ausgleich bemüht ist auch ActualSanity, ein Computershuttle, der unsichtbar über den sechs bewohnten Planeten des Randt’schen Universums schwebt und mit seinen Beobachtungen, Auswertungen und finanziellen Zuteilungen die Rahmenbedingungen für ein faires, sorgen-  und konfliktfreies Leben schafft. Hier ist die K.I. keine böse Macht, die der Menschheit an den Kragen will, sondern vielmehr Ausdruck einer ins All verlagerten Selbstregulation, ganz in der Traditionslinie von Richard Brautigans „Behütet von Maschinen der liebevollen Gnade“.

Ein solches über allem wachendes Auge gibt es in Julia von Lucadous „Die Hochhauspringerin“ nicht. In ihrer Zukunftsvision zerstäubt sich die Macht in alle Ecken und Winkel einer schier uferlosen Mega-City, atomisiert in den Körpern ihrer Figuren, bis in die feinsten Verästelungen ihres Seins. Schwer zu greifen, jedoch nicht gänzlich unsichtbar: Da ist zum einen der väterliche Vorgesetzte mit dem sprechenden Namen „Master“, dessen „positiv verstärkender und non-invasiver“ Führungsstil durchaus Parallelen zu ActualSanity aufweist. Zum anderen befinden sich überall Kameras, die Lucadous Protagonistin Hitomi, Datenanalystin der Firma PsySolutions, von beiden Seiten her kennt: Als Überwachende, und zunehmend auch selbst als Überwachte. Zudem gibt es ein ausgeklügeltes Creditscore-System, das sich auf sämtliche Lebensbereiche erstreckt. Überall gilt es, Sollwerte zu erreichen, Performance Reports zu verbessern, im Ranking aufzusteigen, penibel das eigene Fehlverhalten zu evaluieren – nach einem Business-Meeting ebenso wie nach einem Date oder einem Besuch im Fitness-Studio. Hitomi glaubt fest an die bestmögliche Version ihrer selbst, die sich durch konsequente Selbstoptimierung, gewissenhaft ausgeführte Mindfulness-Übungen und das Einhalten ihres täglichen Bewegungsminimums zu guter Letzt entfalten wird. Als Vorbild dient ihr (und ein paar Millionen anderen Followern) die titelgebende Hochhausspringerin Riva, Star des „Highrise Diving™“ und Über-Influencerin im Stil von Andy Kassier oder Lil Miquela. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes „hyperreal“ („Ihr Körper im Gegenlicht wirkt aus diesem Blickwinkel wie eine Figur aus Pappe, ein Werbeaufsteller von Riva, wie es ihn in Onlinefanshops zu kaufen gibt.“) – und seit neuestem Hitomis Zielobjekt. Denn Riva verweigert von einem Tag auf den anderen den Grind. Sie springt nicht mehr, vernachlässigt ihr Training und postet nichts mehr in den sozialen Medien. Ist das jetzt der heilsame „Digital Cleanse“, den auch Master regelmäßig empfiehlt, um seine „Mindfulness-Skala“ zu steigern? Oder ein veritabler Affront gegen den Leistungsethos?
„Revolutionäre Ansagen sind auch nur eine Stage für Fame und ein bisschen Extratraffic“, winken die „Mindstate Malibu“-Macher müde ab, und Lucadous Roman scheint dies zunächst zu bestätigen. „Fuck winning“, ruft Riva kurz vor ihrem Ausstieg einem Interviewer entgegen. Sofort geht das Video viral und wird für Marketingzwecke optimiert; das Ergebnis sind „Fuck-winning-Songs, Fuck-winning-T-Shirts, Fuck-Winning-Klingeltöne.“

Wie aber sieht es mit Formen der Kritik aus, die sich nicht insta-tauglich verbreiten oder in (pseudo-)revolutionären Slogans zusammenfassen lassen? Z.B. Text, der mehr als 140 Zeichen umfasst? Ein Roman von Julia von Lucadou oder Leif Randt oder Joshua Groß wird vermutlich nicht trenden, einfach weil er sich den Kriterien einer schnellen Konsumierbarkeit (um mit Kurt Prödel zu sprechen: „es muss einfach sofort reinbrettern & dann wieder vergessbar sein“) entzieht. Weisen sich die Autor_innen in „Mindstate Malibu“ mit ihrer Forderung nach pathologischer Übererfüllung der Spielregeln quasi selbst als Relikte der Vergangenheit aus?

Die „Sprache der New Economy außerhalb des Business-Kontextes als Teil der Alltagssprache“ (Hertwig) entlarvt oder entblößt nicht mehr – sie hat sich längst normalisiert, wie auch Lucadou und Randt in ihren subtilen Verschiebungen der „creepy line“ mit literarischen Mitteln zeigen. Indes verpufft das ironische Potential der Überaffirmation, wenn es allein von denjenigen verstanden wird, für die bereits die Affirmation Satire ist – und sich ansonsten ohne sichtbaren Reibungsverlust in die Wertschöpfungskette einspeisen lässt.[2]

Interessanter finde ich es an dieser Stelle, in der spekulativen Fiktion nach jenen Resten zu suchen, die nicht im „Mindstate der maximalen Selbstmotivation“ aufgehen. In „Planet Magnon“ von Leif Randt verübt ein neu gegründetes Kollektiv Anschläge mit minzgrünen Gasen, die schwach dosiert Wankelmut und Nostalgie hervorrufen, in höheren Dosen Lähmung und Panik. Kunstperformance oder Terror? ActualSanity duldet die Aktionen; auf den ersten Blick scheinen sie den Status Quo nicht zu gefährden. Und doch hinterlassen sie ein flirrendes Unbehagen, vielleicht: einen nagenden Zweifel am schmerzlosen Im-Fluss-Sein der permanenten Selbstverbesserung.

Bei Lucadou ist dieses Unausgesprochene die dreckige, heiße Peripherie, die als Schreckens- und Sehnsuchtsort zugleich die Metropole umschließt. Ein konstitutives Außen, das nur durch konsequentes Othering funktioniert – und immer wieder die herrschenden Machtverhältnisse, so diffus sie auch sein mögen, aus dem toten Winkel aufblitzen lässt.

Im Starfruit-Band ist es nicht zuletzt die extreme Verengung des Blickwinkels auf junge, weiße Akademiker, die im Grind-High des „Mindstate Malibu“ die auf sie zugeschnittenen Erfolgsnarrative überaffimieren, die einen schwindeln lässt am Abgrund eines gigantischen blinden Flecks voller Verschiebungen und möglicher Glitches.

[1] siehe z.B. Dave Eggers‘ „The  Circle“ oder Frank Schätzings „Die Tyrannei des Schmetterlings“
[2] Siehe z.B.:
https://www.business-punk.com/wp-content/cache/all/2017/08/gruendertwitter-gensehaut-am-ganzen-kroeper//index.html


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