Vortrag KAFKA IN ANKARA

Dr. REINER STACH
Dr. SÜREYYA ILKILIÇ


GIA


Es versteht sich von selbst, dass Kafka nie in Ankara war. Und wie er geschrieben hätte, wäre er hier gewesen, ist eine höchst spekulative Frage. Außer Frage ist die Rolle und Bedeutung Kafkas in der Türkei. In der Türkei wurde er viel gelesen. Die Entwicklung der modernen türkischen Literatur wurde nachhaltig von ihm geprägt. Seine Werke wurden künstlerisch-literarisch rezipiert und dienten als literarische Inspirationsquelle, wie z. B. für Orhan Pamuk in seinem Roman „Schnee“. Zudem wurden Kaffees und Literaturzeitschriften nach ihm benannt und Poster, T-Shirts, Kaffeetassen mit seinem Porträt bedruckt. In der Türkei ist Kafka unlängst zu einer intellektuellen Kultfigur geworden: Ohne seine Werke zu kennen, kann man für „Kafka“ schwärmen. Und für manche Leute gilt er als ein Symbol der Absurdität. Was macht eigentlich Kafkas Werke so einzigartig und unverwechselbar in der Epoche der literarischen Moderne? Und wieso bleibt er immer noch „modern“? Was ist eigentlich das Faszinierende an Kafka?

Im Rahmen der Veranstaltung „Kafka in Ankara“ werden Antworten auf diese und andere Fragen gesucht und diskutiert. Es ist davon auszugehen, dass literarische Werke und der literarische Werdegang eines Autors biographisch und historisch imprägniert sind, also nicht völlig losgelöst von der Biographie und der Zeit eines Autors verstanden werden können. Damit ist aber nicht gesagt, dass wir in seinem Leben Antworten auf Fragen suchen, die seine Werke uns aufgeben. So einfach ist die Sache nicht, ja im Gegenteil! Sie ist viel komplizierter und vielschichtiger, wie Reiner Stach eindrucksvoll unter Beweis stellt. Er wird in seinem Vortrag auf das facettenreiche Leben Kafkas, ja auf seine „Fremdheit“ eingehen. Er hat eine dreibändige und international hoch gefeierte Jahrhundertenbiographie über Kafka nach dem methodischen Vorbild von Sartres Flaubert-Biographie vorgelegt, an der er achtzehn Jahre arbeitete. Es handelt sich keineswegs um einen in die Länge gezogenen „biographische Roman“ (Stach), sondern um eine Biographie, die auf „fiktionale Ergänzungen“ ganz verzichtet und sich stattdessen auf Tatsachen bzw. Fakten und Quellen beruft, wie es eben nur geht.

Süreyya Ilkilic, die mit einer Arbeit über Kafka promovierte, wird in ihrem Vortrag auf die Rezeption von Kafkas Werken in der Türkei und ihre Einflüsse auf die moderne türkische Literatur eingehen. Sie wird am Beispiel der Türkei der Frage nachgehen, ob und weshalb uns Kafka in die Lage versetzen kann, uns und unsere Zeit zu verstehen, und zwar trotz bzw. wegen seiner Fremdheit.
Im Anschluss findet ein interkulturelles Gespräch über Kafkas Leben, Werk und Wirkung statt.
 
Reiner Stach, geboren 1951 in Rochlitz (Sachsen), arbeitete nach dem Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Mathematik und anschließender Promotion zunächst als Wissenschaftslektor und Herausgeber von Sachbüchern. 2002 und 2008 erschienen die ersten beiden Bände der hochgelobten dreiteiligen Kafka-Biographie. 2008 wurde Reiner Stach für ›Kafka: Die Jahre der Erkenntnis‹ mit dem Sonderpreis zum Heimito-von-Doderer-Literaturpreis ausgezeichnet. Für sein herausragendes Gesamtwerk auf dem Feld der literarischen Biographik erhielt er 2016 den Joseph-Breitbach-Preis.

Süreyya Ilkilic studierte Neuere Deutsche Literatur, Linguistik und Orientalistik an der Ruhr-Universität Bochum und Eberhard Karls-Universität Tübingen. Im Jahr 2015 promovierte sie mit einer Arbeit über "Kafka in der Türkei“ im Fach Germanistik an der Universität Tübingen. Seit 2018 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der 'Türkisch-Deutschen Universität' in Istanbul.
 

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