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HAZ-Gespräch mit Judith Schalansky
„Die Vergangenheit muss immer wieder neu erfunden werden''

Judith Schalansky
Foto: Jürgen Bauer/Suhrkamp Verlag | Foto: Jürgen Bauer/Suhrkamp Verlag

Die Schriftstellerin Judith Schalansky über Verluste, Vergessen - und das Buch als vollkommenstes aller Medien

Frau Schalansky, schon in Ihren früheren Büchern ging es um Abgelegenes und Dinge oder Lebensentwürfe, die zu Ende gehen. In Ihrem neuen Buch geht es um Verluste. Was Interessiert Sie so daran?

Wenn etwas verloren geht, verwandelt es sich von etwas Faktischem in etwas Fiktives. Das passiert selbst mit alltäglichen Gegenständen wie einem Schlüsselbund, dessen plötzliches Verschwinden uns vor ein unlösbares Rätsel stellt. Im Schreiben interessiert mich der Echoraum, den der Verlust hinterlässt. Was bleibt von einem Natur- oder Kunstgegenstand, der nicht mehr da ist? Da kommt die Erzählung ins Spiel, die versucht, die Leerstelle zu umkreisen und erfahrbar zu machen -wie beim Leichenschmaus nach einem Begräbnis. Erzählen hilft. Es ist die beste Trauerarbeit.

Welche Rolle spielt dabei für Sie das Ende der DDR?

Ich teile mit allen Ostdeutschen die Erfahrung, dass sich-beinahe über Nacht-alles ändern kann: die Grenzen, das Geld, die Parolen. Und dass sich die eigene Biografie in ein Davor und ein Danach teilt.

In einigen Texten Ihres Buches geht es um Greifswald, wo Sie 1980 geboren wurden. Haben Sie bei der Arbeit daran Ihre Heimatstadt neu erfahren? Anders kennengelernt?

Ja. Für einen Text bin ich den Lauf des Flusses Ryck, der durch Greifswald führt, die 30 Kilometer von seiner Quelle bis zur Mündung abgelaufen- in drei Etappen, im Abstand von jeweils drei Wochen, mit dem Ziel vor Augen, die Natur zu beschreiben, die mir dabei begegnet. Als ich loslief, war noch Winter. Trotz der Bestimmungsbücher im Gepäck war es keine geringe Herausforderung, herauszufinden, ob der blattlose Strauch vor mir nun ein Weißdorn, Rotdorn oder aber ein Schlehdorn ist. Ich musste nicht nur Pflanzen und Tiere bestimmen, sondern mir auch einen völlig neuen Wortschatz erschließen, um eine mir vertraute Natur zu beschreiben. Das war eine Offenbarung.

Sie schreiben zum Beispiel über den Hafen von Greifswald, über Greta Garbo in Manhattan und auch über den Kaspischen Tiger im alten Rom. Was ist das Verbindende, das Gemeinsame daran?

Es geht In allen Texten um Verlusterfahrungen. Ausgehend von einem verbrannten Gemälde des romantischen Landschaftsmalers Caspar David Friedrich beschreibe ich eine Natur, in der die einstige Wildnis nur noch in Schwundstufen auffindbar ist. Es ist nicht zuletzt die Verwandlung von wilder Natur in eine verwertbare Kulturlandschaft, die das Ende des Kaspischen Tigers einläutete. In meinem Text wird ein Exemplar dieser Unterart in einer Arena Roms auf einen Berberlöwen gehetzt, auch er mittlerweile ausgestorben. In einer anderen Erzählung wiederum befinden wir uns im Kopf der 46-jährigen Greta Garbo, die seit Jahren keinen Film mehr gemacht hat, und am eigenen Leibe erfährt, was es bedeutet, zu Lebzeiten zur Ikone erstarrt zu sein, die nicht altern darf.

In Ihrem Text über Sapphos Liebeslieder heißt es: „Jede Zeit erschuf ihre eigene Sappho." Nimmt auch jede Zeit anders wahr, was überhaupt als Verlust empfunden wird?

Natürlich. Revolutionäre Zeiten fordern, sich des Alten rücksichtslos zu entledigen. In konservativen Zeiten wird Verlorenes wiederaufgebaut, wie beispielsweise das Berliner Stadtschloss. Die Vergangenheit ist etwas, das immer neu erfunden werden muss.

Jedes Schreiben und auch Erzählen ist ja bereits ein Aufbewahren. Ist das Ihre Art, sich gegen das Verlorengehen von Lebewesen, Dingen, Erinnerungen zu stemmen?

Ja, es ist der Versuch, im Erzählen das Wesen des Verlorenen zu vergegenwärtigen. Eine große Kompensationsleistung .

Aber man kann auch nicht alles aufbewahren, nicht alles archivieren. Hat das Vergessen nicht auch etwas Befreiendes?

Natürlich. Wir, ob nun als Privatpersonen oder als Gesellschaft, können nicht alles aufheben. Wir müssen auswählen, was uns wichtig ist. Oft sind die Souvenirs im wahrsten Sinne des Wortes ja Platzhalter für Erinnerung. Wer alles bewahrt, bewahrt im Grunde nichts. In einem Museum seiner eigenen Vergangenheit kann man nicht leben. Wer jedoch alles vergessen will, immer nur nach vorne schauen, verleugnet sich selbst.

Angesichts der Digitalisierung wird das Buch oft totgesagt. Sie aber bezeichnen es als „vollkommenstes aller Medien". Warum?

Im Buch können Inhalt und Fenn auf untrennbare Weise verschmelzen. Es hat wie wir einen Körper, der- bei guter Pflege - einige Generationen überdauert. Die digitalen Daten meines Studiums sind mir nicht mehr zugänglich, aber die Bücher meiner Kindheit kann ich jederzeit aus dem Regal nehmen.

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