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Pop 2017
Politik fürs Poesiealbum

Andreas Dorau
Andreas Dorau | Foto (Ausschnitt): © Gabriele Summen

Hinterlässt ein politisch brisantes Jahr wie 2017 auch Spuren in der Popmusik? Die Antwort ist ein entschiedenes „Jein“: Von eskapistischer Kalenderspruchlyrik bis zu deutlicher Sozialkritik war alles drin in diesem Jahr.

Dorau in die Charts!

Die deutschen Verkaufscharts bilden üblicherweise nur einen kleinen Ausschnitt des tatsächlichen kreativen Outputs ab: Im Sommer überraschte Andreas Dorau mit dem Wunsch – oder besser der Forderung –, dass er endlich in die Charts einsteigen wolle. Mit früheren Singles wie dem NDW-Hit Fred vom Jupiter und Girls in Love war ihm das bereits gelungen, aber noch mit keinem seiner Alben. Doraus Wunsch ging tatsächlich in Erfüllung: Zwei Wochen Verbleib waren der Platte Die Liebe und der Ärger der Anderen beschieden – durchaus ein kleiner Triumph angesichts der dominierenden Schlagersängerinnen Helene Fischer, Ina Müller und Andrea Berg, oder Kollegen wie Santiano und Peter Maffay, der zum Jahresende mit MTV Unplugged den ersten Platz verteidigte.
 
Doraus Album ist beim Berliner Indielabel Staatsakt erschienen, das 2017 für viele interessante Veröffentlichungen auch ganz neuer Acts wie der Boiband verantwortlich zeichnet – und ein gutes Beispiel dafür ist, dass abseits des Mainstreams „blühende Nischen“ existieren, deren Erfolg sich weniger in Chartsnotierungen messen lässt, sondern durch die Kombination aus Durchhaltevermögen und künstlerischem Wagemut beeindruckt: So konnte das Münchner Label Trikont stolzen 50. Geburtstag feiern, Tapete Records und Grand Hotel van Cleef – beide in Hamburg ansässig – sind seit fünfzehn Jahren aktiv, und Buback (ebenfalls Hamburg), 1987 von zwei Mitgliedern der Goldenen Zitronen gegründet, ist längst eine unverzichtbare Größe in der deutschen Labellandschaft. Nicht unerwähnt bleiben sollen Milky Chance, das mit seinem Album Blossom in die US-Charts einstieg: ein für deutsche Bands ohnehin seltener Erfolg, der durch den Umstand, dass das Kasseler Duo beim Minilabel Lichtdicht unter Vertrag ist, noch erstaunlicher wirkt.
 
Neben Andreas Dorau machten 2017 mehrere Punk- respektive NDW-Veteranen von sich reden: Der Plan brachte in Originalbesetzung ein neues Album heraus, von Family Five und DAF erschienen retrospektive BoxSets. Der Backkatalog der relativ unbekannten Band Jetzt!, Vorläufer der Hamburger Schule, ist wieder erhältlich; und junge Bands zollen frühem deutschen Punk Respekt: Das Rap-Duo Zugezogen Maskulin zitiert im Titel seines neuen Albums Alle gegen alle DAF und Slime zugleich, die Antilopen Gang verbeugt sich mit Anarchie und Alltag vor dem epochalen Album der Fehlfarben (Monarchie und Alltag, 1980), und Kraftklub variieren Ton Steine Scherben mit Keine Nacht für Niemand.
 
Auch aus anderen Bereichen gab es Rückkehrer zu vermelden: Stephan Sulke (auch bei Staatsakt) zum Beispiel, Wolfgang Niedecken, der für Das Familienalbum – Reinrassije Strooßeköter eigene Klassiker neu einspielte, oder Wolfgang „Wolle“ Petry, der nach langer Pause als Countrysänger Pete Wolf einen Imagewechsel wagt. Zählt man noch das reichlich uninspirierte Comeback-Album Flash der Hamburger Hip-Hopper Fünf Sterne Deluxe hinzu, könnte der Eindruck entstehen, 2017 sei besonders selbstreferenziell und besitzstandwahrend gewesen …

Pop im Museum

… der Drang zur Musealisierung von Popkultur besteht indes seit Langem und ließ in 2017 nur nicht nach: Davon zeugen Ausstellungen wie die von Bremen nach Frankfurt gewanderte, breit angelegte Revue Oh Yeah – Popmusik in Deutschland, oder die speziellere Schau Geniale Dilletanten im Albertinum Dresden, die sich deutschem Punk und Underground-Avantgarde der frühen achtziger Jahre widmete. Die einstigen „Dilletanten“ Einstürzende Neubauten verkörpern den Weg aus der Subkultur hin zu Feuilleton-Protagonisten beispielhaft: Im Januar spielten die Neubauten ein gefeiertes Konzert in der frisch eröffneten Hamburger Elbphilharmonie. Eine hochkulturelle „Adelung“, wie sie schon den Kölner Elektropionieren Kraftwerk mit Präsentationen im New Yorker MoMa und der Tate Modern London zuteil wurde.

Hey Ladies!

Die anfangs erwähnte „Frauenpower“ aus dem Schlagerbereich strahlt auf Künstlerinnen außerhalb des Mainstreams kaum ab. 2017 veröffentlichten Christiane Rösinger, Balbina, Sookee, Schnipo Schranke, Joy Denalane, SXTN, Haiyti und Chefboss positiv besprochene Alben. Bettina Köster, Gründungsmitglied der legendären Band Malaria!, brachte Kolonel Silvertop heraus, ihre frühere Kollegin Gudrun Gut konnte das 20-jährige Bestehen ihrer Plattenfirma Monika Enterprise feiern – mit Auftritten in ganz Europa genießt das rein weiblich besetzte Elektroniklabel auch außerhalb Deutschlands ein hohes Renommée.
 
Auf den Covern von Musikmagazinen landen Künstlerinnen, egal ob aus Deutschland oder anderswo, allerdings nur selten: Der Musikexpress brachte im vergangenen Jahr nur die neuseeländische Sängerin Lorde aufs Deckblatt, als einzige deutschsprachige – männliche – Bands wurden Bilderbuch und Wanda aus Österreich abgebildet. Die deutsche Ausgabe des Rolling Stone zierte im Februar US-Schauspielerin Emma Stone (in durchsichtiger Unterwäsche), ansonsten vertraut man auf wohlbekannte ältere Herren wie Bob Dylan oder immerhin Campino – und von der Jahresendausgabe blickt Darth Vader.
 
Bei großen Festivals wie Rock am Ring und Hurricane, aber auch alternativen Veranstaltungen wie dem US-Import Lollapalooza/Berlin ist die Beteiligung weiblicher Acts traditionell gering. Es gilt schon als erwähnenswert, dass bei internationalen Bands wie The XX eine Bassistin auf der Bühne steht. Deutschsprachige Künstlerinnen muss man mit der Lupe suchen, die Line-ups sind bestimmt von den immer gleichen Männerrockbands wie Beatsteaks, Metallica oder den Toten Hosen.

Beim SXSW-Festival in Austin, Texas wurden als Repräsentantinnen des „German House“ neben Sven Helbig und Oum Shatt Y’Akoto, Gurr und Die Heiterkeit ausgewählt, prozentual kein schlechter Schnitt im Vergleich zu in Deutschland stattfindenden Festivals. Aber – und das muss als Fortschritt gewertet werden: Die fehlenden Frauen sind ein Thema geworden. In vielen Zeitschriften- und Blogbeiträgen oder von der Facebook-Gruppe Hey Ladies wird die niedrige Beteiligung weiblicher Acts diskutiert – und die gängige Veranstalter-These, es gebe eben viel weniger in Frage kommende Künstlerinnen, angezweifelt.

Endlich wieder „Hure“ sagen dürfen

In diesem Zusammenhang fällt die unverhohlene Misogynie einiger männlicher Bands auf – eine Haltung, die in 2017 nicht mehr dem Deutsch-Rap vorbehalten ist, in dem freilich nach wie vor derbe Rollenprosa produziert wird. So tönen Majoe und Kurdo: „die Bitch muss bügeln, muss sein / wenn nicht gibt’s Prügel, muss sein“. Muss das sein?

Zweifelsohne ist Frauenfeindlichkeit mittlerweile auch im Indierock probat: Kraftklub aus Dresden texten: „Du verdammte Hure, das ist dein Lied“ – auch wenn gern betont wird, im betreffenden Stück spräche ein vom realen Sänger abgekoppeltes „lyrisches Ich“, lässt sich der Effekt tausender mitgrölender Fans bei Konzerten nicht wegdiskutieren. In dieselbe Kerbe schlagen auch Von Wegen Lisbeth mit Bitch und der Schweizer Liedermacher Julius Pollina alias Faber mit Zeilen wie „Warum, du Nutte, träumst du nicht von mir?“.

Die Stilisierung als zu Unrecht verschmähter, aber unbeugsamer einsamer Wolf, der seine Erniedrigungsphantasien – zumindest verbal – ungefiltert ausagiert, wird vom deutschen Feuilleton als durchaus erfrischend goutiert.

Neue Melancholie

Dass sich Gefühle auch anders in Worte fassen lassen zeigt sich beispielsweise bei Cloud-Rappern wie Yung Hurn oder Rin, die keine Probleme mit neuen Männlichkeitsmodellen haben. Und (Stefan) Trettmann, der sich vom spaßigen Dresdner Dancehall-Act zum Melancholiker wandelte, veröffentlichte mit #DIY eins der besten deutschsprachigen Alben des Jahres: Anders als Prinz Pi, Sa4, Kollegah oder das Kollektiv 187 Straßenbande spielt Trettmann nicht mit dem gängigen Klischee des unbesiegbaren Bandenbosses. Offen thematisiert Trettmann Schwäche und Angst, wie auch sein Bruder im Geiste Benjamin Griffey alias Casper, der ebenfalls schwer verdauliche Lyrics rappt: „Diese Wände kommen näher / Fühl mich wie ich fühl, weil ich nichts mehr fühl / Kann mich irgendjemand hören?“ Die düstere, depressive Stimmung seines Erfolgsalbums Lang lebe der Tod brachte Casper Vergleiche mit Kendrick Lamar ein. Auch der alle Stilgrenzen überschreitende, bezopfte Romano taugt nicht zur maskulinistischen Identitätsbildung: Wenn er auf der Tour zu seinem neuen Album Copyshop ALLE Besucherinnen und Besucher heiraten will, dürfte das auf „harte Jungs“ eher befremdlich wirken.
 
Wie schmal der Grat zwischen Emotionaliät und Kitsch ist, unterstreicht die weichgespülte Poesie von Hitparaden-Abonnenten wie Mark Forster: In seiner Rubrik Eier aus Stahl nahm Satiriker Jan Böhmermann im April den Musikpreis ECHO aufs Korn, der wegen eines Auftritts der rechten Südtiroler Band Frei.Wild in die Kritik geraten war und daraufhin nicht mehr von der ARD, sondern vom Privatsender Vox ausgestrahlt wurde (moderiert von Xavier Naidoo und Sasha). Im selben Beitrag lästerte Böhmermann auch über „Max Giesinger und die deutsche Industriemusik“: Die spöttische Tirade über ach-so-authentische Texte deutscher Popliedermacher wurde vom Preis für Popkultur ausgezeichnet – und im Frühjahr kannte Böhmermann Julia Engelmanns Poesiealbum ja noch nicht. Die beliebte Poetryslammerin (Eines Tages, Baby) erntete mit ihrer „Wandtattoo-Lyrik“ und gutgemeinten Ratschlägen, bei Depressionen eine Grapefruit zu essen, Hohn und Ärger. Mit an Kalendersprüche erinnernden Texten ist Engelmann jedoch keine solitäre Erscheinung: Junge Sängerinnen wie Lina, Alina oder Lotte stehen ihren männlichen Kollegen Vincent Weiss oder Johannes Oerding in nichts nach – es scheint, als habe aussagelose Erbauungspoesie à la Mark Forster („Egal was kommt, es wird gut, sowieso / immer geht 'ne neue Tür auf, irgendwo“) nach wie vor Konjunktur.

Pop und Politik

Nun ist es völlig legitim, vielleicht sogar die eigentliche Aufgabe von Popmusik, eskapistisch zu sein. In einem politisch brisanten Jahr wie 2017 (Trump, G20 in Hamburg, Bundestagswahl / AfD im Bundestag, Flüchtlings“krise“, Gewalt von rechts) werden allerdings auch von Künstlerinnen und Künstlern Positionen erwartet. Dass von den etablierten Stars kaum politische Äußerungen lautbar werden, überrascht nicht, aber auch in anderen Genres herrschte Zurückhaltung. So initiierte die Zeitschrift Musikexpress eine Fragebogenaktion zum politischen Selbstverständnis, die an 150 deutsche Künstlerinnen und Künstler verschickt wurde – beantwortet wurden nur 29 Bögen.
 
Die Toten Hosen, längst im Mainstream-Stadionrock zu Hause, begreifen sich trotz Campinos Merkel-Apologetik wahrscheinlich immer noch als irgendwie links. Auf ihrem neuen Album Laune der Natur wirkt die einstige Punkband jedoch resigniert und ratlos, verwaltet musikalisch als auch textlich Stillstand: „Wir halten hier die Stellung / sind längst nicht abgetaucht / Unter den Wolken / wird’s mit der Freiheit langsam schwer / Wenn wir hier und heute / Alle wie betäubt sind / Unter den Wolken / Gibt’s keine Starterlaubnis mehr / Für all die Träume“.

Vitaler dagegen Die Fantastischen Vier: Die unkaputtbaren Spaß-Hip-Hopper greifen in ihrem neuen Track Endzeitstimmung Nazis direkt an. „Geht mir weg mit eurem Stolz auf die eigne Nation / Ihr seid nicht das Volk, ihr seid die Vollidioten“ – so explizit wurden heuer nur wenige Topstars, wobei man Xavier Naidoo beispielsweise durchaus dankbar dafür sein kann, dass er sich auf seiner Soloplatte Für dich Verschwörungstheorien à la Marionetten vom Söhne-Mannheims-Album MannHeim verkneift und sich auf Romantik konzentriert.
 
Der wohl am heftigsten diskutierte, dezidiert politische Song 2017 stammt von Kettcar: Nach fünf veröffentlichungslosen Jahren kehrte die Hamburger Band mit dem Album Ich vs. Wir (erschienen bei Grand Hotel van Cleef) zurück. Im literarisch arrangierten Stück Sommer '89 (Er schnitt Löcher in den Zaun) greift Texter und Sänger Marcus Wiebusch zwar kein aktuelles, aber schicksalhaftes Thema der Deutschen auf. Mit unüberhörbarem Pathos bedienen Kettcar das Bedürfnis, positive, „aufrechte“ Akteure der Wiedervereinigung zu präsentieren.

Konkret sozialkritisch wird Christiane Rösinger in Eigentumswohnung, einem so lakonischen wie bitteren Song über Gentrifizierung, die inzwischen auch alternative Refugien wie Berlin-Kreuzberg erreicht hat. Doch ganz gleich, welchen Ansatz man bevorzugt: Es gibt sie noch, die politisch bewussten Künstlerinnen und Künstler. 

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