Die Gemeinde rettet einen Fluss
Ein Platz am Wasser

Kajak-Fahrt auf der Lybid | Foto: facebook. com/lybidye
Foto: facebook.com/lybidye

Die Bevölkerung von Kiew erobert den öffentlichen Raum zurück. Die Uferpromenade des ehemals stark verschmutzten Flüsschens Lybid füllt sich dank einer Bürgerinitiative mit Leben.

Zu Jahresbeginn 2016 befuhren drei junge Kiewer mit ihren Kajaks das Flüsschen Lybid. Daran wäre nichts Ungewöhnliches, verliefe das Gewässer nicht in weiten Abschnitten unterirdisch. Mit ihrer Aktion wollten Maksym Mramonow, Dmytro Hetschwolod und Artem Zawarzin auf die zahlreichen ökologischen und infrastrukturellen Probleme des kleinen Flusses aufmerksam machen.

Ihre Tour begannen die drei Jungs im Herzen der Stadt. Die ersten Entdeckungen waren ernüchternd: Weite Teile der Ufervegetation waren von Müll übersät. Mancherorts waren verschmutzter Schnee, Industrie- und Haushaltsabfälle in den Fluss geworfen worden, und immer wieder stießen die Aktivisten auf Autoreifen, die auf dem Grund der Lybid ihr Endlager gefunden hatten.

Die Lybid – Leidensgeschichte eines Flusses

Die etwa 17 Kilometer lange Lybid ist der rechte Nebenfluss der Dnepr. Bis zu ihrer Mündung durchquert sie zahlreiche Innenstadtbezirke der Metropole Kiew. In den 1930er-Jahren galten die sumpfigen Uferbereiche der Lybid als Brutstellen der Malaria, weshalb die sowjetische Stadtverwaltung einen Beschluss zur Regulierung fasste und eine unterirdische Kanalanlage errichten ließ. Aus den Augen, aus dem Sinn geriet das einst schiffbare Flüsschen bald in Vergessenheit.

Heute machen der Lybid vor allem die Abwässer zu schaffen. Schlammablagerungen, Ansammlungen von Radionukliden und Schwermetallen sowie gesetzeswidrig entsorgte Haushaltsabwässer haben stark zur Verschmutzung des Flusses beigetragen.

Gerade letzterer Aspekt ist den Umweltaktivisten ein Dorn im Auge. Durch die rege Bautätigkeit der letzten 15 Jahre sind in Kiew zahlreiche Wohnhausanlagen entstanden, von denen so manche nicht an die städtische Kanalisation angeschlossen ist. Über illegale Einleitungen gelangen Haushaltsabwässer ungefiltert in die Zubringerflüsse der Lybid. Zwar konnten mittlerweile einige dieser Einleitungen durch Umweltaktivisten beseitigt werden, die größeren von einem halben Meter Durchmesser aber lassen sich nicht so leicht entfernen und bestehen somit bis zum heutigen Tage.
Rund 40 Prozent der Kiewer Stadtfläche rechts der Dnepr liegen im Einzugsgebiet der Lybid. Alle dortigen Straßenabwässer fließen in das unterirdische Kanalsystem und damit zwangsläufig in das Flüsschen.

Die Gemeinde mobilisieren – den Fluss retten

Vor zwei Jahren erhielt der Kiewer Landschaftsarchitekt Semen Polomanyj den Spezialpreis des internationalen Architekturwettbewerbes CANactions 2014 für sein Konzept zur Revitalisierung des Flussnetzes und der Grünlandschaften Kiews (Titel: Revival of the Green Material and Blue Arteries).

In der Folge wurde beschlossen, das recht umfangreiche Konzept in kleinen Schritten Wirklichkeit werden zu lassen. Der Wiederbelebung der Lybid wurde dabei oberste Priorität eingeräumt. Eine kleine Gruppe Kiewer Bürger um Preisträger Semen Polomanyj avancierte zur treibenden Kraft hinter dem Projekt.

Um einen Fluss wiederzubeleben, muss man zuerst ein öffentliches Bewusstsein für dessen Probleme schaffen. Via Facebook wurden die Kiewer dazu aufgerufen, sich an einer Aufräumaktion am Lybider Flussufer zu beteiligen. Diverse Events und Veranstaltungen an den Ufern der Lybid sollten die Aufmerksamkeit auf die Probleme des Flusses lenken.

Interventionen am Flussufer

Breite Öffentlichkeit ist auch das Ziel von städtischen Interventionen – schnellen provisorischen Umwandlungen im Raum, die junge Kiewer Architekten ins Leben rufen: eine Gruppe um Serhij Kowaljow, der sich auf Sozialarchitektur spezialisiert und sich darüber hinaus mit Öffentlichkeitsarbeit und Bildungsprojekten beschäftigt, hatte sich den Lybid-Aktivisten mit Vorschlägen zur Aufwertung der Uferpromenade angeschlossen.

So entstand ein Holzpodium, das als Sitzgelegenheit dient, gleichzeitig aber auch als Bühne Verwendung findet. Bald nach der Fertigstellung der Uferterrasse begann man, diese als öffentlichen Raum für Veranstaltungen zu nutzen. Auch für Studenten naheliegender Hochschulen sowie Büroangestellte aus dem Office-Center um die Ecke ist die neue Promenade ein Gewinn, als Ort der Erholung und Entspannung.

Die Lybid gibt es, vorerst als NGO

Die städtischen Medien berichten über die Veranstaltungen an der Uferterrasse und befördern damit den Wunsch der Kiewer, die Flussufer als öffentlichen Raum zu nutzen. Immer mehr Menschen schließen sich den Aktivisten an und bieten ihre Hilfe an. Dabei haben die Initiativen eine Eigendynamik entwickelt. Mittlerweile wurde mit Lybid Je (Deutsch: „Es gibt die Lybid“) eine NGO gegründet, die sich aktiv für die Revitalisierung des Flusses einsetzt.

Seit dem Start der Aktivitäten für den Fluss wurden an seinen Ufern Dutzende von Veranstaltungen durchgeführt. Gerade die Zusammenarbeit unterschiedlicher Menschen aus verschiedenen beruflichen Sphären hat sich als äußerst fruchtbar erwiesen. Bisher haben alle Beteiligten an einem Strang gezogen, um ihr gemeinsames Ziel zu erreichen. Es besteht die berechtigte Hoffnung, dass die Initiative mit der wachsenden Unterstützung der Kiewer Stadtbevölkerung mehr und mehr öffentlichen Raum zurückerobert.

Im Mai 2016 machten Maksym, Dmytro und Artem erneut eine Kajak-Fahrt auf der Lybid. Diesmal wollten sie damit ihren Mitbürgern zeigen, dass der Fluss ein Raum ist, den sie zu ihrem Vergnügen nutzen können.

Der Artikel wurde in Zusammenarbeit mit dem Kiewer Stadtmagazin Hmarochos für das Projekt des Goethe-Instituts Future Perfect produziert.