Gegenwartslyrik
Blüte in der Nische

Jan Wagner
Jan Wagner | Foto (Ausschnitt): © Lesekreis CC0 1.0

Die junge deutsche Dichtung hat viele Talente. In der Literaturszene bekommen die Autoren zwar viel Anerkennung, im Buchhandel hat Lyrik jedoch nur selten Erfolg.

Die deutsche Lyrik-Szene freut sich schon seit einigen Jahren über einen Aufschwung. An Talenten, so scheint es, herrscht kein Mangel. Man kommt rasch auf zwei Dutzend Namen, wenn man die bemerkenswertesten Lyrikerinnen und Lyriker der vergangenen Jahre aufzählen wollte: von Carolin Callies, Steffen Popp, Jan Volker Röhnert, Sabine Scho, Björn Kuhligk, Nico Bleutge, Arne Rautenberg und Ann Cotten bis zu Silke Scheuermann, Marion Poschmann, Jan Wagner, Uljana Wolf, Alexander Gumz, Ron Winkler, Monika Rinck, Anja Utler und vielen anderen.

Als jüngstes Indiz dafür, dass hier keine Scheinblüte beschworen wird, muss die Vergabe des Leipziger Buchpreises auf der Buchmesse im Frühjahr 2015 gelten. Erstmals in der Geschichte der viel beachteten Auszeichnung entschied sich die Jury für einen Lyriker: Jan Wagner, Jahrgang 1971, wurde für seinen Gedichtband Regentonnenvariationen ausgezeichnet und setzte sich gegen bekannte Prosaautoren wie Norbert Scheuer und Michael Wildenhain durch.

Würdigung auf großer Bühne

In den Feuilletons wurde diese Entscheidung nahezu einhellig begrüßt. Insgesamt herrschte die Ansicht vor, Wagner erhalte die Auszeichnung wohl auch stellvertretend für die deutschsprachige Gegenwartslyrik schlechthin, die nun endlich bekomme, was sie schon so lange verdient habe: eine Würdigung auf großer Bühne. Die Tatsache, dass Wagner zuvor bereits knapp 30 Literaturpreise und Stipendien für sein literarisches Schaffen erhalten hatte, trug im Laufe der Jahre zwar wesentlich zur Sicherung seines Lebensunterhalts bei, brachte abernur einen Bruchteil der medialen Aufmerksamkeit, die mit dem Leipziger Buchpreis verbunden ist. Daran zeigt sich ein Paradox: Ein Lyriker wie Jan Wagner genießt bei Literaturpreisjurys und Fördergremien ein Vielfaches der Aufmerksamkeit, die er im Buchhandel und bei den Lesern erhält.

Kleine Auflagen, hoher Erfolgsdruck

Wagner ist durchaus kein Einzelfall. Der Anteil von Gedichtbänden am Gesamtumsatz des deutschen Buchhandels beträgt weniger als ein Prozent, verkaufte Auflagen von 200 bis 500 Exemplaren sind üblich, schon tausend verkaufte Bände gelten in vielen Fällen als Erfolg. Zwar ist die Lyrik aus den Programmen der großen Publikumsverlage wie Hanser, S. Fischer oder Suhrkamp nicht verschwunden, aber sie hat es weitaus schwerer als früher. Der Rentabilitätsdruck, der auf jedem einzelnen Titel lastet, ist gestiegen und stellt das Prinzip der Querfinanzierung zunehmend in Frage.
 
  • Ann Cotten Foto (Ausschnitt): © Amrei-Marie - CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons
    Ann Cotten
  • Jan Volker Röhnert Foto (Ausschnitt): © Alexander Paul Englert - CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons
    Jan Volker Röhnert
  • Ron Winkler, Berlin 2011 Foto (Ausschnitt): © Perrudja - CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons
    Ron Winkler, Berlin 2011
  • Silke Scheuermann Foto (Ausschnitt): © Amrei-Marie - CC-BY-SA 4.0 über Wikimedia Commons
    Silke Scheuermann
Manch kleiner Verlag muss mehr oder weniger permanent ums Überleben kämpfen. Der Verleger Urs Engeler zum Beispiel, der Elke Erb und andere namhafte Lyriker verlegt, musste 2013 seinen Verlag schließen und vertreibt nun sein Programm ausschließlich online. An die Triumphe eines Erich Fried, der in den 1970er- und 1980er-Jahren sechsstellige Auflagen erzielte und den Wagenbach-Verlag auch schon mal im Alleingang durch ein schwieriges Jahr bringen konnte, kommt derzeit kein Lyriker auch nur annähernd heran. Das kann man beklagen. Aber lässt es sich ändern? Und wie viel kann eine einzelne Auszeichnung zu dem ersehnten Konjunkturwandel beitragen?

Diskurse über die „Essenz der Literatur“

Kritik am Buchpreis für Jan Wagner kam eigentlich nur aus einer Richtung: von den Lyrikern selbst. So findet etwa die Schriftstellerin Sabine Scho, Wagner sei zu konservativ, zu brav, zu traditionsverliebt, zu wenig experimentell. Man sollte das nicht einfach als Neidreflex oder Mangel an Souveränität abtun. Denn es zeigt, dass die junge Lyrikszene, die als extrem gut vernetzt und diskursfreudig gilt, alles andere als homogen ist. Schon die grundlegende Frage nach einer Definition des Begriffs Poesie für das 21. Jahrhundert führt zu den unterschiedlichsten Antworten. Arne Rautenberg zum Beispiel spricht von einem „weltweiten und zeitübergreifenden Code der Feinsinnigen“, für Jan Wagner ist Lyrik „die Essenz der Literatur“ und für Ulf Stolterfoht „ein Nachdenken der Sprache über sich selbst“, während Steffen Popp den Traditionen der experimentellen Lyrik eine klare Absage erteilt: Sprachanalyse als Selbstzweck sei „fleischlos und tot“. Die einen begreifen experimentelle Lyrik als hermetisch und unpolitisch, die anderen wittern dort, wo sie den Willen zu Sprachskepsis und Innovation vermissen, allzu schnell nichts als Konvention und den Wunsch nach sprachlich ausgepolsterter Behaglichkeit.

Die Vielzahl der Initiativen und Diskussionsforen für Lyrik, die sich inzwischen gebildet haben, ist erstaunlich: Die Online-Lyrikwerkstatt G13, die Gedicht- und Veranstaltungsplattform lyrikline und die Website von babelsprech, einem Projekt zur Vernetzung junger Lyrik, sind nur einige Beispiele. Die Website Timberpoetologie dokumentiert eine Debatte über das Verhältnis von Poesie und Politik, und die Zeitschrift Gegenstrophe, entstanden im Zusammenhang mit dem seit 2008 in Hannover vergebenen Hölty-Preis, versteht sich als neues Jahrbuch für Lyrik. All diese Plattformen zeigen, dass die Nischen für Lyrik zahlreich und lebendig sind. Die Hoffnung, dass der Leipziger Buchpreis für Jan Wagners Gedichtband Regentonnenvariationen die Gegenwartslyrik schlagartig aus dem Nischendasein befreien könnte, wird sich nicht erfüllen. Doch von einer Scheinblüte der jungen deutschsprachigen Dichtung kann keine Rede sein.