Deutsche Nachkriegsmoderne
Das architektonische Erbe der 1960er-Jahre

Helmut Hentrich, Hubert Petschnigg, Europa-Center, Postkarte um 1968
Helmut Hentrich, Hubert Petschnigg, Europa-Center, Postkarte um 1968 | © Krüger Verlag / Berlinische Galerie

Abreißen, Umbauen oder doch denkmalgerecht sanieren? Über den schwierigen Umgang mit dem Baukultur-Erbe der 1960er-Jahre.

Die deutsche Nachkriegsmoderne, bisher eher ein Steckenpferd von Architekturenthusiasten, steht im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Vor allem über den Umgang mit den gewaltigen Wohnsiedlungen, betonlastigen Kulturbauten und autogerechten Innenstädten der 1960er-Jahre wird heftig diskutiert, und das nicht nur unter Denkmalschützern und Stadtplanern, sondern auch in der Lokalpresse oder in Bürgervertretungen: Ist die radikale Form, der Wille zur Verdichtung der Innenstädte, die Nutzung von Stahl, Glas und Beton etwas Visionäres? Das Abbild einer zukunftszugewandten Zeit, und somit unbedingt erhaltenswert? Oder muss und darf rigoros umgestaltet und sogar abgerissen werden, um die in der deutschen Öffentlichkeit oft aufgrund ihrer Dimensionen und ihrer rasterhaften, monotonen Fassaden als „menschenfeindlich“ postulierten Bauten kleinteiliger und somit menschenfreundlicher zu machen?

Freie Flächen, viel Platz

Hermann Henselmann, Haus des Lehrers Hermann Henselmann, Haus des Lehrers | Foto: Gisela Dutschmann, 1965, © Berlinische Galerie Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es in Deutschland viele freie Flächen, die die Möglichkeit zu umfassenden Neugestaltungen der Städte boten. Der Fokus in der Baupolitik wurde dabei auf Verdichtung der Innenstädte gelegt. Im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs wurden außerdem ab dem Ende der 1950er-Jahre im Westen große Bürohäuser und neue Universitätskomplexe gebaut. Der Architekt Helmut Hentrich beispielsweise errichtete in Düsseldorf das Dreischeibenhaus (1960) und in Bochum die Ruhruniversität (1964-74). Zuvor waren in Berlin bereits Kulturbauten wie die Akademie der Künste von Werner Düttmann (1958-60) oder die Deutsche Oper von Fritz Bornemann (1961) entstanden.

Egon Eiermann, Neue Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Egon Eiermann, Neue Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche | Foto: Otto Barutta, 1963, © Berlinische Galerie Zudem benötigte die damalige neue westdeutsche Hauptstadt Bonn diverse Regierungsbauten, wie etwa den Kanzlerbungalow von Sep Ruf (1966). Im geteilten Berlin sind jeweils neue Zentren gestaltet worden, eines als sozialistische, eines als kapitalistische Variante. In ganz Deutschland wurde so viel gebaut wie nie zuvor und mit Betonfassaden, Glasbausteinen, vorfabrizierten Elementen und Rasterarchitekturen experimentiert.

In dieser Zeit visionär-radikaler Entwürfe in Ost und West entstanden Gebäude, die heute als Ikonen der modernen Baukultur gelten, wie in Ostberlin Hermann Henselmanns Haus des Lehrers (1964) oder Josef Kaisers Kino International (1963). In West-Berlin stechen Egon Eiermanns Neue Gedächtniskirche (1961), Hans Scharouns Philharmonie (1963) und Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie (1968) hervor.

Die Abrissbirne droht

Umbauung Fernsehturm mit Blick auf die Marienkirche Umbauung Fernsehturm mit Blick auf die Marienkirche | Foto: unbekannter Autor, um 1970, © Berlinische Galerie Viele der nicht so prominenten Bauten stehen heute auf dem Prüfstand oder wurden bereits abgerissen. Geschuldet ist das aber nicht nur Größe, Form oder „Unwirtlichkeit“, sondern auch oft schlechter Bauqualität. Selbst auf die Erhaltung der Gebäude als Kulturgut plädierende Fachleute haben „mangelhafte Materialtechnik“ (Wolfgang Pehnt) und „hohe Instandsetzungskosten nach oftmals jahrzehntelang unterlassener Bauunterhaltung“ (Adrian von Buttlar) als Problem benannt. 

Ludwig Leo, Christian Boes, Umlauftank 2 der Versuchsanstalt für Wasser-  und Schiffsbau Ludwig Leo, Christian Boes, Umlauftank 2 der Versuchsanstalt für Wasser- und Schiffsbau | Foto: Thomas Bruns, 2011, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie Allerdings trifft die Entscheidung zum Abriss nicht nur Großsiedlungen mit mangelhafter Bauqualität. In Berlin wurde zum Beispiel die Großgaststätte Ahornblatt mit der legendären Schalenkonstruktion von Ulrich Müther (1971-73) trotz Denkmalschutz im Jahr 2000 abgerissen. Ähnlich erging es dem Schimmelpfenghaus von Sobotka/Müller (1960) am Zoo. Beide fielen Neubauprojekten zum Opfer. Andere Gebäude dieser Zeit werden mal mehr, mal weniger gelungen überformt. Ein Beispiel ist die Neugestaltung der Kaufhoffassade am Berliner Alexanderplatz durch Jan Kleihues, der die charakteristische Aluminium-Wabenfassade von 1967 im Jahr 2006 durch Naturstein ersetzte und dafür ebenso viel Beifall wie Ablehnung erntete.

Beispiele für Sanierung und Umgestaltung

Als ein gelungenes Beispiel gilt dagegen die denkmalgerechte Sanierung des Staatsratsgebäudes der DDR (1962-64) durch HG Merz (2003-05) und die Sanierung der Deutschen Oper (2011-14) in Berlin. Eine derart umfangreiche Instandsetzung nach neuesten energetischen Standards hätte diese komplexen Gebäude auch ruinieren können. Die Kosten waren allerdings so hoch, dass nicht viele Bauten auf diese Weise denkmalgerecht instand gesetzt werden können.

Ralf Schüler, Ursulina Schüler-Witte, Turmrestaurant Stieglitz, 1972 Ralf Schüler, Ursulina Schüler-Witte, Turmrestaurant Stieglitz, 1972 | Foto: Ursulina Schüler-Witte, © Berlinische Galerie Auf eine Lösung warten momentan zwei weitere prominente Berliner Bauten aus den früheren 1970er-Jahren: Das futuristische ICC Kongresszentrum und der „Steglitzer Bierpinsel“ im Stil der Pop Art, beide von Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte entworfen. Bei diesen Gebäuden macht sich die jahrelange Vernachlässigung ihrer anspruchsvollen Architektur bemerkbar. Zwar zeigt die Politik den Willen, sie zu erhalten, bietet aber noch keine tragfähigen Konzepte. Der Bund Deutscher Architekten sieht gerade im ICC ein wichtiges Zeugnis seiner Zeit und will unbedingt einen Abriss wie bei der Gaststätte Ahornblatt verhindern. Aber auch ein Sanierungskonzept kann denkmalgeschützte Gebäude nicht immer retten, wie gerade die Hamburger City-Hochhäuser (1956-58) zeigen. Den Zuschlag für das Ensemble bekam ein Abriss-Investor. Der bekannte deutsche Architekt Volkwin Marg, der zuvor ein Sanierungskonzept vorlegte, sprach daraufhin von einem „Skandal“. Die Diskussion um die Erhaltung der Nachkriegsmoderne könnte in Deutschland gerade erst richtig begonnen haben.
 

Radikal Modern

Die Bilder in diesem Artikel waren Teil der Ausstellung mit Katalog „Radikal Modern – Planen und Bauen im Berlin der 1960-er Jahre“, die vom 29. Mai bis 26. Oktober 2015 in der Berlinischen Galerie stattfand.