Obdachlosenzeitung
Unter freiem Himmel in Lwiw

Mitherausgeber der Zeitung "Unter freiem Himmel" Marjana Sokha und Grygorij Sementschuk
Mitherausgeber der Zeitung "Unter freiem Himmel" Marjana Sokha und Grygorij Sementschuk | Foto: facebook.com/prostoneba

Die Zeitung „Unter freiem Himmel“ kann man auf den Straßen der westukrainischen Metropole Lwiw erwerben, wo sie von obdachlosen Menschen verkauft wird. Diese soziale Initiative bringt einerseits einen Verdienst und soll andererseits die Meinung über Obdachlose in der Gesellschaft ändern. Durch die Beiträge bekannter ukrainischer Autoren ist sie gleichzeitig ein hochwertiges Kulturmagazin, das ihre Stammleser hat.

Das Team von „Unter freiem Himmel“ hat uns erzählt, wie sie auf das Thema Obdachlosigkeit gekommen sind und ob sich ihre Einstellung zu Obdachlosen durch die Zeitungsarbeit geändert hat.

"Am meisten hat mich verwundert, dass obdachlose Menschen anderen gegenüber positiv eingestellt sind"

Chefredakteurin Marjana Sokha studierte Sozialarbeit. Das Thema Obdachlossein interessierte sie am meisten, weshalb sie auch ihre Seminar- und Diplomarbeiten darüber verfasste. Als in Lwiw die Organisation Oselja ihre Arbeit mit Obdachlosen begann, half Sokha zuerst als Freiwillige mit und begann 2007 in der Organisation zu arbeiten. Das junge Team war damals mit der Unfreundlichkeit und Voreingenommenheit der Lwiwer Bevölkerung gegenüber obdachlosen Menschen konfrontiert. Ein Medieninstrument musste her, um die Ideen der Organisation zu verbreiten und die gesellschaftliche Meinung über Obdachlose zu ändern.

Marjana Socha erzählt: „Es gab Winter, in denen viele Leute auf den Straßen starben. Aber es konnten keine Räumlichkeiten für eine Schlafstelle gefunden werden – jedes Mal protestierten die Anwohner. Man hatte Angst, dass Obdachlose stehlen und Krankheiten verbreiten würden. Wir erklärten ihnen: wenn es in Lwiw zumindest eine Schlafstelle gäbe, wo Menschen medizinische Hilfe erhielten, würde sich die Situation, ganz im Gegenteil, verbessern. Obdachlose Menschen leben sowieso in der Stadt und verwenden öffentliche Verkehrsmittel.“

Während der Kampf um eine Schlafstelle andauerte, verschlug es Sokha nach Polen auf eine Konferenz zum Thema Straßenzeitungen. Solche Zeitungen werden in verschiedenen Ländern seit Ende der 1980er mit dem Ziel herausgegeben, die gesellschaftliche Meinung zu ändern und gleichzeitig den obdachlosen Menschen eine Arbeit zu geben. Sokha hatte das Gefühl, dass eine Straßenzeitung genau das war, was Lwiw brauchte.

Die Arbeit in der Organisation Oselja und an der Zeitung formte sie, sagt die Gründerin von „Unter freiem Himmel“: „Am meisten hat mich verwundert – und verwundert mich noch – dass obdachlose Menschen anderen gegenüber positiv eingestellt sind. Man glaubt, dass sie nur an ihre eigene, furchtbare Situation denken können, und dass sie das, was in der Stadt oder im Land passiert, nicht interessiert. Aber es interessiert sie. Sie leben so wie alle anderen Mitglieder der Gesellschaft und haben die gleichen Interessen und Sorgen. Menschen ohne Obdach haben eine bedeutend positivere Einstellung zu Menschen mit Obdach, als umgekehrt.“

Eine ziemlich gute Zeitschrift, die Erfolg und Mission hat

Der künstlerische Inhalt des Magazins ist Grygorij Sementschuk zu verdanken. Die erste Ausgabe von „Unter freiem Himmel“ haben Sozialarbeiter gemacht, die zweite dann schon überwiegend Künstler. Sementschuk arbeitet seit vielen Jahren im Kulturbereich der Stadt und wusste bis zur Bekanntschaft mit Marjana nichts vom Format der street papers.

Seit 2008 ist er Mitherausgeber der Zeitung, sucht Mitwirkende und schreibt eine Kolumne in der Rubrik „After Dark“. Sementschuk sagt, dass er Obdachlosen auf der Straße immer von Oselja und der Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen, erzählt.

„Bei einer Lesung kam Marjana irgendwann zu mir, erzählte mir über dieses Magazin und fragte mich, ob ich nicht daran mitarbeiten wolle. Die Idee und das Thema gefielen mir total“, erinnert sich Sementschuk: „Ich interessierte mich schon früher für die Geschichten von Leuten, die am Rand unserer Gesellschaft sind“.

Den ersten Text für die Zeitung schrieb er über einen Obdachlosen, der in einem sehr schlechten Zustand war. Wie seine Geschichte ausging, weiß er nicht. Er befürchtet tragisch.

„Meine Einstellung zu Obdachlosen war immer normal“, sagt Sementschuk: „Ich erinnere mich, dass ich mit meinem Opa, einem Polizeioberst, die Straße entlang ging und sah, wie er einen Obdachlosen grüßte. Ich fragte ihn: „Opa, wieso grüßt du ihn?“. Er antwortete, dass das sein Klassenkamerad gewesen ist. Mir wurde klar, dass jeder von uns obdachlos werden kann“.

Seit Sementschuk Mitglied von Oselja ist, hat er viele schöne Geschichten gesehen. Leute, die vollkommen am Boden waren und jetzt Familie und Heim haben. Alles hängt von ihrem Wunsch ab, etwas zu ändern. Der Schriftsteller kann das positive Beispiel eines jungen Mannes nennen, der aus einer nicht funktionierenden Familie abgehauen ist und eine Zeit lang obdachlos war. Dann lebte er imOselja und änderte sein Leben. Jetzt studiert er an einer guten Universität, hat eine schöne Arbeit. Wenn man ihn in der Stadt trifft, würde man nie meinen, dass er einmal obdachlos war.

„Ich glaube daran, dass diese Zeitung eine konkrete Werbemaßnahme ist, dass Menschen die Chance haben, sich zu ändern und in ein normales Leben zurückzukehren. Abgesehen davon, haben wir eine ziemlich gutes Kulturmagazin daraus gemacht, das Erfolg sowie eine Mission hat - Verständnis in der Gesellschaft zu finden. Wenn das eine Werbezeitschrift oder ein Politikmagazin wäre, würde ich wohl kaum mitarbeiten“, erklärt Sementschuk.

Keine Anzeichen künstlerischen Lebens

Das Fotoprojekt BOMZH: bez oznak mysteckoho zhyttja, zu Deutsch „Keine Anzeichen künstlerischen Lebens“, wurde zur Visitenkarte der Zeitung. Grygorij Sementschuk ist Autor dieser alternativen Lesart des Wortes BOMZH, das ein Akronym für „ohne bestimmten Wohnort“ und zur Bezeichnung für Obdachlose weit verbreitet ist. Dafür ließen sich Taras Prochasko, Jurij und Sofia Andruchowytsch, Tanja Maljartschuk, Jurij Izdryk, Andrij Bondar mit Tochter und einige andere bekannte Schriftsteller als Obdachlose fotografieren.

Marjana Sokha ist überzeugt: „Wenn wir Politiker oder Popstars darum gebeten hätten, sich als Obdachlose fotografieren zu lassen, hätten sie nicht zugestimmt. Das Magazin fand Unterstützung bei Leuten, die stärker als andere gesellschaftliche Probleme spüren und mitfühlen. Sie hatten keine Angst, die soziale Barriere zu überschreiten.“

Rostyslaw Spuk, ein Fotograf aus Iwano-Frankiwsk, der ebenfalls regelmäßig an der Zeitung mitwirkt, setzte das Projekt um. Alles begann mit einem Coverfoto – der Autor Taras Prochasko als Obdachloser. Seither gab es schon sieben Fototermine.

Rostyslaw Spuk erzählt: „Die Akteure dieser Fotogeschichten zeigen, dass der soziale Lift horizontal und vertikal funktioniert. Jeder kann sowohl da als auch dort sein. Alle Hauptpersonen waren aufrichtig dabei, scherten sich nicht um Äußerlichkeiten und hatten volles Vertrauen. Das schuf Zusammenhalt, weil jegliche Überlegenheit wegfiel. Unter all den Leuten, die beim Projekt teilgenommen haben, gab es nicht eine Person, die den Obdachlosen mit einem irgendwie geratenen Ekel entgegen trat.
Auf einem Foto kann man nur schwer etwas vortäuschen. Wie eine Skulptur ein Ausschnitt aus Stein ist, so ist ein Foto ein Ausschnitt der Zeit davor und danach. Man sieht sofort, wer ein Lachen spielt und wer ehrlich lacht.“

Rostyslaw Spuk ist überzeugt, dass man obdachlose Menschen nur mit Aufmerksamkeit, Solidarität und Förderung resozialisieren kann. Er erzählt von seiner Idee, in Iwano-Frankiwsk eine jährliche Geldprämie für den Obdachlosen auszuschreiben, der sich am interessantesten darstellt. Die Aufmerksamkeit soll dabei seiner Meinung nach darauf liegen, ihn oder sie aus dieser Lage zu helfen.

Zeitung hilft

Die Straßenzeitung spielt eine wichtige Rolle und konnte bereits vielen Obdachlosen helfen. Eines der leuchtenden Beispiele ist Wolodymyr Hilenko. Seit er am Projekt teilnimmt, hat er sich vollkommen verändert und ist so engagiert bei der Arbeit, dass man nicht glaubt, er wäre früher obdach- und arbeitslos gewesen. Wolodymyr Hilenko verkauft schon das 7. Jahr die Zeitung auf dem Lwiwer Ringplatz und wird von vielen Lwiwern stark mit der Zeitung in Verbindung gebracht.

Marjana Sokha erzählt: „Herr Hilenko, der die Zeitung auf dem Ringplatz seit 2009 verkauft, ist unser erfolgreichster Verkäufer. Er hat das richtige für sich gefunden. Ihm gefällt die Arbeit mit Leuten, er ist sehr freundlich und kommunikativ, das ist eine ideale Arbeit für ihn. Für andere Verkäufer war der Zeitungsverkauf ein vorübergehendes Mittel, um eine Krise durchzustehen. Aber für Herrn Hilenko wurde es zur Lebensaufgabe und zur Lieblingsbeschäftigung.“

Im Rahmen des Projektes „Zeitgeist“ mit dem Magazin „Platfor.ma“.