Deutsche Lyrik
„Das Wunderbare am Schreiben ist, dass man reisen kann ohne das Haus verlassen zu müssen“ - Jan Wagner im Gespräch

Jan Wagner
Jan Wagner | Foto: Alberto Novelli - Villa Massimo

Der deutsche Lyriker Jan Wagner erklärt im Interview fürLitakcent, wie ein Dichter mit seinem Ohrensessel verreist,  und wie einem ein  Buchtitel eine magisch anmutende Einladung in ein fernes Land bescheren kann.

Herr Wagner, wie würden Sie sich den ukrainischen Leserinnen und Lesern vorstellen und was erwarten Sie sich von Ihrer bevorstehenden Reise in die Ukraine?

Vermutlich würde ich sagen, dass ich aus Berlin komme, obwohl ich ursprünglich aus Hamburg stamme. Ich würde erzählen, dass ich Gedichte schreibe und englischsprachige Lyrik ins Deutsche übersetze.

Auch würde ich erwähnen, dass ich bis dato sechs Lyrikbände veröffentlicht habe, die allesamt in der deutschen Tradition wurzeln, aber auch stark von der modernen amerikanischen und britischen Lyrik beeinflusst sind. 
 
Ist Lyrik ihrer Bestimmung nach überhaupt dazu geeignet vor Publikum präsentiert zu werden? Gibt es in Ihrem Schaffen Gedichte, die Sie üblicherweise laut vortragen, und andere, die nur im stillen Lesen ihre Wirkung entfalten? Anders gesagt: Ist Ihre Lyrik eher visuell oder akustisch angelegt?

Die Melodie der Sprache, die poetische Komposition ist so grundlegend, dass bestimmt etwas fehlen würde, trüge man die Verse nicht laut vor. Man würde gewisser Sinnebenen verlustig gehen und auch insgesamt wäre der Genuss geschmälert.

Andererseits hat gerade auch das stille Lesen seinen Reiz. Wie ich es sehe, haben beide Zugänge etwas für sich. Manche Dinge, das Spiel mit der Form etwa, stechen nur auf dem Papier ins Auge. Auf der anderen Seite ist ein bestimmter Vokal, der durch die Textzeilen wandert, nur im lauten Vortrag merklich.

Was meine Gedichte betrifft, so gibt es keine, die nicht auch laut vorgelesen wurden. Aber natürlich gibt es Verse, die ich bevorzugt vor Publikum rezitiere. Meine Wahl ändert sich diesbezüglich ständig und hängt in der Tat davon ab, was ich gerade aktuell geschrieben oder publiziert habe.

Im Allgemeinen bin ich der Ansicht, dass der Leser bzw. die Leserin eine bedeutende Rolle dabei spielt, einem Gedicht lebendigen Klang zu verleihen; die individuelle Lesart, die Verbindung mit dem eigenen Leben, eigenen Leseerfahrungen – das alles ist ein unabdingbarer Teil des Gesamtprozesses.

Das Motiv des Reisens spielt in Ihrer Lyrik eine große Rolle. Würden Sie es für angemessen halten, einige Ihrer Gedichte als Reiseberichte zu bezeichnen? Ich denke da etwa an Ihr Buch „Australien“.

Das Wunderbare am Schreiben ist, dass man reisen kann ohne das Haus verlassen zu müssen.  Ich liebe es in meinem Ohrensessel zu schreiben. Der wiegt mehr als ein kleiner Fiat und bringt mich weiter als Reisen dies jemals könnten.

In der Tat schreibe ich über Gegenden, die mir bekannt sind.  Aber in meiner Lyrik kommen auch Orte vor, an denen ich noch nie gewesen bin und die ich auch gar nicht bereisen möchte. Das Buch „Australien“ handelt genau von so einer Reise. Am Anfang des Bandes zitiere ich Alvaro de Campos (das ist eines der vielen Heteronyme des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa): „Man ist glücklich in Australien, sofern man dort nicht hinfährt.“

In diesem Sinne kommt Australien in meiner Anthologie überhaupt nicht vor, nicht mal als Titel eines Gedichtes. Interessanterweise erhielt ich nur wenige Tage nach der Veröffentlichung des Buches eine Einladung nach Australien, und zwar von Leuten, die von dem Erscheinen besagten Buches nichts wussten und auch nichts gewusst haben konnten. Solch kleine magische Zufälle könnten für mich zu einem Anlass werden auch in Zukunft Bücher nach bestimmten Ländern zu betiteln.

Herr Wagner, man zählt Sie zur so genannten jungen Generation deutscher Lyriker. Auch waren Sie Mitherausgeber einer Anthologie deutscher Gedichte mit dem Titel „Lyrik von Jetzt“. Wie würden Sie die Gedichte dieser neuen Generation beschreiben, und welche Autoren haben Eingang Ihre Anthologie gefunden?

Im Jahr 2003 haben Björn Kuhligk und ich beschlossen, die von Ihnen erwähnte Anthologie herauszubringen, da wir uns als Vertreter der deutschen Lyrikszene wohl bewusst waren, wie viele interessante junge Lyriker in eben dieser Szene noch nicht Fuß gefasst hatten.

Auch war uns klar, dass nur wenige Leute die Literaturzeitschriften lesen, in denen die jungen Autoren publizieren. Die meisten Leser können sich gar nicht vorstellen, wie lebendig die deutsche Lyrikszene ist und wie stetig sie sich weiterentwickelt. Die Idee bestand also darin, den Nachwuchslyrikern  mit einem Buch ein Forum für ihre Arbeiten zu bieten. Jeder Name sollte mit vier Gedichten, einer Kurzbiographie und – falls vorhanden – einem Werkverzeichnis vertreten sein.

Seit der Veröffentlichung der Anthologie sind noch mehr junge Lyriker auf den Plan getreten. Man kann durchaus sagen, dass die deutsche Lyrik in den letzten Jahrzehnten noch nie so vielgestaltig gewesen ist wie heute. Nun stellt sich natürlich die Frage, warum dem so ist. Ein Grund könnte sein, dass die Kluft zwischen der experimentellen Lyrik und einer Lyrik, die sich einer traditionellen Poetik verpflichtet fühlt, nicht mehr so groß ist wie früher. Die Mehrzahl der Lyriker, die ich kenne, löst sich bedenkenlos von jedweden Traditionen und lernt von den dadurch gewonnenen Erfahrungen. Sie picken sich das Beste heraus und benutzen es für ihre Gedichte, ohne sich irgendeiner Schule oder einem bestimmten Dogma verpflichtet zu fühlen. Diese Freiheit hat, meiner Meinung nach, zu dieser großen Vielfalt an Stilen und lyrischen Genres geführt; und in dieser Vielfalt  liegt wohl auch die Stärke der zeitgenössischen Lyrikszene in Deutschland.

Ihr letzter Lyrikband ist nach einem ihrer Gedichte betitelt: „Selbstporträt mit Bienenschwarm“. Bei dieser Überschrift stellt sich unweigerlich die Frage: Wie persönlich ist die Lyrik des Jan Wagner? Gibt es ein Gedicht, das Sie als Porträt ihrer selbst gelten lassen könnten?

Bei dem Gedicht „Selbstporträt mit Bienenschwarm“, das Sie eben erwähnten, könnte man meinen, es handele sich in gewissem Maße um eine Selbstbeschreibung, obwohl der Erzähler sich ja hinter seinen Insekten versteckt. Er wird, wie er sagt, „wirklich sichtbar erst mit dem Verschwinden“; und in der Tat ist der Autor des Gedichts mit seinen persönlichen Bedürfnissen und Nöten gänzlich unwichtig für dessen Verständnis.

Der Erzähler im Gedicht, das „Ich“ in ihm, ist für mich eine Rolle, die man spielen muss. Es ist kein Wesen, das klar definierbar wäre, sondern eine Auswahl spannender Masken, die man je nach Situation wechseln kann. Gleichwohl ist es möglich, dass man mit übergestülpter Maske mehr von sich selbst offenbart als ohne. Es ist zweifellos richtig, dass die eigenen Erfahrungen, Gefühle und Gedanken das Rohmaterial eines jeden Gedichtes sind; und ein Gedicht bedarf seinerseits keiner Selbstidentifikation.