Familientheater zu Weihnachten
Bühnenzauber? Ja, bitte!

„Robin Hood“ am Residenztheater München
„Robin Hood“ am Residenztheater München | © Julian Baumann

Im Advent fällt an vielen deutschen Stadt- und Staatstheatern der Startschuss für das Weihnachtsstück, das alle Jahre wieder Kinder und Familien als gemeinsame Zielgruppe entdeckt.

Neben den Krippenspielen lokaler Kirchengemeinden locken Familienballette wie Tschaikowskys Der Nussknacker, jahrzehntealte Opern-Inszenierungen von Humperdincks Hänsel und Gretel und die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens, in der der Geizhals Ebenezer Scrooge vom „Geist der Weihnacht“ geläutert wird. Die Zeichen stehen auf Erbauung, Besinnung – und volle Kassen. Das Weihnachtsmärchen, eine Marketingidee aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, um den Theatern über den Zuschauerschwund in der kalten Jahreszeit hinwegzuhelfen, ist vielerorts immer noch eine rein kommerzielle Angelegenheit, die Widerstand provoziert. In den 1980er-Jahren riefen professionelle Kindertheatermacher zum „Krieg“ gegen das Weihnachtsmärchen auf. Heute heißt das Weihnachtsmärchen „Familienstück“ und man muss stärker differenzieren.

Klassische Märchen, bekannte Geschichten

Zunächst, was die Stoffe angeht. Denn das klassische Märchen aus den Sammlungen der Brüder Grimm dominiert zwar noch immer die Spielpläne, hat aber Konkurrenz bekommen von anderen fast ebenso bekannten Geschichten. 2016 steht etwa in Hannover Johanna Spyris Heidi auf dem Programm. Das Schauspiel Frankfurt spielt James Matthew Barries alterslosen Peter Pan. Und die Staatsschauspiele in Dresden und Stuttgart greifen zu Astrid Lindgren, die Dresdner zu Mio, mein Mio und die Stuttgarter zu Ronja Räubertochter, die schon im Januar 2014 Premiere hatte. Auch das Münchner Residenztheater hat ein einziges Mal versucht, ein Familienstück außerhalb der Adventszeit in den Spielplan zu setzen, was laut Chefdramaturg Sebastian Huber ordentlich schiefgegangen ist. Offenbar haben Schulen wie Familien längst verinnerlicht, dass der oft einzige gemeinsame Theaterbesuch in die Vorweihnachtszeit gehört, auch wenn diese ohnehin schon event-übersättigt ist.
 

  • „Heidi“.Ein Familienstück von Johanna Spyri am Staatsschauspiel Hannover © Katrin Ribbe
    „Heidi“.Ein Familienstück von Johanna Spyri am Staatsschauspiel Hannover
  • „Peter Pan“ von James Matthew Barrie am Schauspiel Frankfurt Foto: Birgit Hupfeld
    „Peter Pan“ von James Matthew Barrie am Schauspiel Frankfurt
  • „Mio, mein Mio“ von Astrid Lindgren am Staatsschauspiel Dresden Foto: David Baltzer
    „Mio, mein Mio“ von Astrid Lindgren am Staatsschauspiel Dresden
  • „Ronja Räubertochter“ von Astrid Lindgren am Staatsschauspiel Stuttgart Fotos: Bettina Stöß
    „Ronja Räubertochter“ von Astrid Lindgren am Staatsschauspiel Stuttgart
  • „Robin Hood“ am Residenztheater München © Julian Baumann
    „Robin Hood“ am Residenztheater München
  • „Der Aufsatz“ von Antonio Skármetas an der Münchner Schauburg © Digipott
    „Der Aufsatz“ von Antonio Skármetas an der Münchner Schauburg
  • „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ von Andreas Steinhöfel am Jungen Nationaltheater Mannheim Schnawwl cc
    „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ von Andreas Steinhöfel am Jungen Nationaltheater Mannheim Schnawwl

Spaß für alle

Während die Münchner unter ihrem früheren Intendanten Dieter Dorn mit dem Bilderbuchtheater rund ums Jahr hübsche kleine Appetizer ans Nachwuchspublikum verteilten, haben sich der aktuelle Residenztheater-Intendant Martin Kušej und sein Team für das jährlich neue theatrale Großereignis entschieden, das dann oft bis Ostern im Spielplan blieb. Ob das Stück nun Pünktchen und Anton, Die Irrfahrten des Odysseus oder aktuell Robin Hood heißt: Entscheidend für die Theatermacher ist dabei laut Huber, „dass es Spaß macht: die Begeisterung, die bei diesen Vorstellungen durch das Haus fegt, ist unser erster Ansporn.“ Damit auch Kinder ins Theater kommen, deren Eltern selbst keine Theatererfahrung haben oder die Mittel fehlen, bietet das Haus Schulklassen unbürokratische finanzielle Unterstützung sowie Vor- und Nachbereitungen an, wie sie auch im professionellen Kindertheater üblich sind.

Lustig, lehrreich und oft viel zu süß

Entscheidend bleibt: Da Familienstück-Inszenierungen den Teenager wie seine kleine Schwester, Tanten und Großeltern gleichermaßen ansprechen müssen, sind sie auf Konsens aus, gerne lustig, lehrreich und voller Musik zum Mitsingen und -klatschen. Ästhetische Experimente sind selten. Entsprechend deutlich ist auch die Ablehnung aus dem Lager der professionellen Kinder- und Jugendtheater: „Viele Vorstellungen kommen daher wie ein Kindergeburtstag: Zu laut, zu süß, zu schrill“, so die Chefdramaturgin der Münchner Schauburg Dagmar Schmidt. Ihre Kollegin Anne Richter vom Mannheimer Jungen Nationaltheater denkt beim Thema Weihnachtsmärchen an das kunterbunte Durcheinanderessen von Süßigkeiten: „Wenn man zwischen vielen Fruchtgummis noch einen Schokoriegel isst, sind alle glücklich, aber trotzdem hatte keiner eine richtige Mahlzeit.“ In der drittgrößten Stadt Baden-Württembergs arbeiten Schnawwl und Schauspiel als Kollegen des Nationaltheaters in Sachen Familienstück eng zusammen. Wenn also aktuell Rico, Oskar und die Tieferschatten über die Bühne geht, haben sowohl das Regieteam als auch einige Schauspieler Kindertheatererfahrung. Die große, bekannte Geschichte muss es zwar auch hier sein – schließlich sind knapp 600 Sitzplätze zu belegen – aber, so Richter, „unbedingt auch Kunst – das ist unser Auftrag“. Dazu gehören Darsteller, die nicht „kindertümeln“ und Kinder ernst nehmen sowie –  in diesem Fall – eine Bühne und Spielweise, „die die verschrobene Sicht der Hauptfigur auf die Welt zeigt und auch emotional herausfordert“. Bühnenzauber? Ja, gerne! – „Sofern er inhaltlich Sinn macht und nicht versucht, mit dem Kino zu konkurrieren“.

Kooperationen mehrerer Sparten

Wie in Mannheim entstehen heute auch an vielen anderen Stadt- und Staatstheatern die Familienstücke als Kooperationen mehrerer Sparten. Man ist zunehmend bereit, voneinander zu lernen und die Kompetenzen der Kindertheaterexperten anzuerkennen. So inszeniert etwa im Theater Regensburg die Leiterin des Jungen Theaters das diesjährige Weihnachtsmärchen im 620 Zuschauer fassenden Velodrom – und auch am  Staatstheater Hannover zieht mit Florian Fiedler der Chef des Jungen Schauspiels die Strippen von Heidi, Alm-Öhi und Geißenpeter!
 
Doch das Stadt-Land-Gefälle ist groß. Während in kleineren Orten oft Anfänger mit der Familienstückregie betraut oder Schauspieler von außen angeheuert werden, brauchen große Ensembles wie das des Residenztheater diese Unterstützung nicht, wo Sebastian Huber beteuert: „Wir arbeiten mit Regisseuren, bei denen das Arbeiten für Kinder und Jugendliche zum künstlerischen Selbstverständnis gehört. Und wir besetzen die Produktionen nach den gleichen Kriterien wie alle anderen Inszenierungen unseres Hauses.“ In der Berlin dagegen verzichten die großen Häuser fast flächendeckend auf zusätzliche Familienbeglückung. Es gibt hier ja genügend Theater für alle Altersgruppen, die auch vor Weihnachten ihr Klientel bedienen.
 
Auch Stephanie Junge, Chefdramaturgin des Theaters Regensburg, sieht das vorweihnachtliche Familienstück eher im Kontext des theatralen Gesamtpakets einer Stadt: Ist das reich bestückt und genügend differenziert, sagt sie, „kommt dem sogenannten Weihnachtsmärchen eine andere Bedeutung zu: es ist ein theatralisches Großereignis für die gesamte Familie oder Klasse, mit allem Zauber, den man auf einer großen Bühne herstellen kann. Ein tolles gemeinsames Erlebnis!“