2015

Marc-Gegenfurtner Foto: Natalka Dyachenko

„Man sollte nie die Kosten für eine kugelsichere Weste mit denen für ein kulturelles Projekt vergleichen“

Was braucht man, um ein effizienter Kulturmanager zu werden? Was kann die Ukraine von Europa lernen? Und gibt es fertige Erfolgsrezepte in der Kulturbranche? Darüber und über andere Dinge hat Ilona Demchenko speziell für UP.Kultura mit dem Abteilungsleiter im Kulturreferat der Landeshauptstadt München, Marc Gegenfurtner, gesprochen.

Marc, in der Ukraine wird im Moment viel über die nachhaltige Entwicklung des Kulturbereichs diskutiert. Dieser Begriff wird aber wie viele andere auch auf verschiedene Art und Weise definiert. Wie ist Ihre persönliche Definition?

Um nachhaltige Entwicklungen ermöglichen zu können, bedarf es der Schaffung einer grundlegenden Infrastruktur, beginnend bereits mit dem Bewusstsein der Menschen für Kultur. Auf dieser Basis wird Diskurs befördert und werden Ideen verbreitet, was kultureller Arbeit längerfristig Wert und Gehalt verleiht. Es geht dabei aber nicht nur um konkrete Ideen, sondern vor allem auch um die Werkzeuge zu deren Verbreitung und Weiterentwicklung.

Ist eine nachhaltige Entwicklung für den Kulturbereich in Deutschland typisch?

Ja, einigermaßen. Aber auch wenn Deutschland den Weg einer nachhaltigen Kulturarbeit vielleicht etwas früher als die Ukraine beschritten hat, würde ich nicht sagen, dass dieses Konzept grundsätzlich schon ausreichend verbreitet ist. In der Tat ist der Begriff der Nachhaltigkeit in der Kulturarbeit ähnlich wie auch der Begriff des Kulturmanagements relativ neu für uns. Wir sprechen darüber erst seit etwa 20 bis 25 Jahren. Vorher hat es diese Begrifflichkeiten sowie die Ausbildung im Kulturmanagementbereich so noch nicht gegeben. Die Verbreitung von Neuem braucht Zeit. Umso mehr, da im Kulturbereich in Deutschland, sowie in vielen anderen Ländern, in weiten Teilen eine gewisse Trägheit hinsichtlich der Fortschreibung neuer Tendenzen typisch ist. In Deutschland bildeten ursprünglich etwa fünf Hochschulen explizit Kulturmanager aus. Mittlerweile ist es ein Vielfaches.

In der Ukraine gibt es im Moment leider nur wenige Hochschulen, an denen man ein solches Diplom erhalten kann. Und dieses Diplom garantiert nicht automatisch die erforderlichen Kenntnisse. Halten Sie eine formelle Ausbildung für unbedingt notwendig im Bereich des Kulturmanagements?

Natürlich ist eine Hochschulausbildung zum Kulturmanager nicht unbedingt erforderlich. Ich selbst habe beispielsweise Literatur und Philosophie studiert; die Kenntnisse von Kulturmanagement habe ich dann in der Arbeit selbst erworben. Das Wesentliche kann und muss man auch in der Praxis lernen. Es geht also eher um eine Art lebensbegleitendes Lernen das ganze Berufsleben hindurch.  Unsere Hochschulen leisten zunehmend einen wichtigen Beitrag eben zur nachhaltigen Entwicklung des Kulturmanagements als einer eigenen Disziplin. Die ukrainischen Kulturmanager hingegen haben derzeit wenig Optionen; sie müssen vor allem in der Praxis lernen. Dabei sammelt die momentan „erste“ Generation die nötigen grundsätzlichen Kenntnisse, die mit der Zeit als Grundlage für eine zukünftige formelle Ausbildung dienen können. Worauf man aber schon jetzt achten sollte, ist der Erwerb eines international diskursfähigen Vokabulars des Kulturbereichs, damit die ukrainischen Kulturmanager international auf Augenhöhe kommunizieren können.

Welche Eigenschaften braucht ein guter Kulturmanager?

Das ist ein sehr weites Feld. Ich würde mich zunächst auf das Wesentliche konzentrieren und sagen, dass jeder Kulturmanager moderieren, ermöglichen und vernetzen können sollte. Diese Fähigkeiten sind grundlegend für die erfolgreiche Arbeit mit unterschiedlichen Teilhabern. Eine andere wichtige, aber oft vernachlässigte Eigenschaft ist, eine Sache zu Ende führen zu können. Zum Aufgabenbereich des Kulturmanagers gehört es auch, nichtkünstlerische, aber unabdingbare Prozesse effizient zu machen und das gerade in einer Branche, in der es lange Zeit gar nicht um Effizienz ging, weil die Freiräume für die künstlerische Arbeit fatalerweise mit einer Nachlässigkeit in Bezug auf administrative Vorgänge einhergingen. Deshalb muss der Kulturmanager ein guter Organisator sowohl für sich als auch vor allem für die anderen sein. Übrigens scheinen die Ukrainer öfter zu denken, dass eine geringe Effizienzquote bei den Prozessen typisch für die Ukraine sei. Tatsächlich haben aber alle damit zu kämpfen. Auch in Deutschland wird in weiten Teilen eine enorme Energie für unnötige Bürokratie und sinnlose Tätigkeiten verschwendet. Also, wo sie auch arbeiten, bitte behalten Sie die wesentlichen Inhalte der eigenen Arbeit im Fokus.

Trotz der Tatsache, dass in der Ukraine oft über nachhaltige Entwicklung gesprochen wird, glauben nicht alle an diese Möglichkeit.

Zweifel sind absolut normal, insbesondere am Beginn eines langen Weges. Alles braucht seine Zeit. In der Tat kann man nachhaltige Entwicklung selten auf Anhieb sofort erkennen und bemessen. Die nachhaltigen Aspekte eines Projekts sind zunächst oft nicht erkennbar, manchmal sogar jahrelang nicht. Dennoch spricht viel für eine weitläufige Planung. Denn um nachhaltig agieren zu können, gilt der alte Grundsatz: Wenn du nichts tust, dann veränderst du auch nichts.

Als Beispiel für nachhaltige Kulturarbeit kann man momentan viele deutsche Stadttheater betrachten, die begonnen haben, nicht nur für, sondern auch mit einem breiteren Publikum zu arbeiten und dabei neue Bevölkerungsschichten miteinbeziehen; in zunehmendem Maße Menschen, die früher gar nicht ins Theater gegangen sind. Dafür ist es aber erforderlich, auf dieses neue Publikum zuzugehen. Neben dem Aspekt der Publikumsentwicklung hat man damit auch die angenehme Begleiterscheinung eines Multiplikatoreneffektes in den weiten Stadtraum hinein.

Ein konkretes Beispiel aus demselben Bereich sind die Münchner Kammerspiele, das Theater der Stadt München, das schon seit einigen Jahren verstärkt an seiner Internationalisierung arbeitet. Das Theater hat seit einigen Jahren internationale Regisseure und Schauspieler, es arbeitet zudem interdisziplinärer, also mit mehr Tanz, Performance, also auch mit Disziplinen, die ohne sprachliche Übersetzungsleistungen verständlich sind. Eines der aktuellen Projekte ist dem Thema der bezahlbaren Wohnungen in München gewidmet. Auf den ersten Blick scheint das kein besonders künstlerisches Thema, vor allem kein theatertypisches Thema zu sein. Es ist aber sehr virulent für den Großteil der Stadtbevölkerung, denn es wird darin die Frage gestellt, was es bedeutet, in München zu leben und welchen Preis man dafür zahlen muss, auch im übertragenden Sinne. Das Projekt fand im öffentlichen Raum statt, auf der Straße. Die Thematik hat natürlich das Interesse der Medien geweckt und die Aufmerksamkeit auf das Theater gezogen, damit zugleich aber auch den Startschuss zu einer gesellschaftlichen Diskussion mit künstlerischen Mitteln gegeben. Gegenwärtig befassen sich viele Künstlerinnen und Künstler in München mit dem Thema Flucht. Das Thema ist auf andere Art sicherlich auch sehr aktuell für die Ukraine. Die Geflüchteten (in Deutschland) verstehen meist die Sprache nicht, aber das Theater hat Mittel, sie zu erreichen. Die Kunst kann auch eine wichtige soziale Funktion einnehmen, denn sie hilft, bestimmte Aspekte des gesellschaftlichen Lebens zu begreifen, aber auch sie zu hinterfragen.

Viele stellen die Frage nach den Ausgaben für die Kultur. Die Ressourcen sind knapp im Lande, es gibt Krieg. Wie kann man jemanden überzeugen, dass diese Kosten ausgerechnet jetzt notwendig sind?

Man sollte nie die Kosten für eine kugelsichere Weste mit denen für ein kulturelles Projekt vergleichen. Das ist der Anfang vom Ende. Kultur ist notwendig. Punkt. Ohne Kultur und ohne kulturelles Bewusstsein zerstört die Menschheit sich selbst. Gerade gemeinsame kulturelle Praktiken schaffen u.a. die Möglichkeit, dass sich unterschiedliche Gruppen miteinander beschäftigen. So versuchen wir jetzt beispielsweise mit dem Goethe Institut Projekte zu unterstützen, die unterschiedliche Teilhaber zusammen bringen. Das schafft Verbindungen, aus denen sich dann soziale Netzwerke formen, die in der Ukraine noch verstärkt werden können. Kulturprojekte ermöglichen den Austausch, sie schaffen letztlich Verständigung, auch wenn das manchmal kurzfristig noch nicht erkennbar ist. Man kann nicht einfach sagen: „Wir machen jetzt ein nachhaltiges Kulturentwicklungsprojekt“. Das heißt, man kann das schon behaupten, aber man kann das nicht direkt messen. Messen kann man materielle Werte: die Anzahl der Tickets oder der Zuschauer zum Beispiel. Ersichtlicher werden derlei Handlungen meist im Rückblick: Was hat sich in einem halben Jahr, einem ganzen Jahr oder innerhalb einiger Jahre verändert? Aber Zahlen und Fakten sind auch nicht die allein relevanten und zuverlässigen Aspekte. Denn Projekte entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern im Zusammenspiel vieler Faktoren. Manchmal erreichen Kulturprojekte nur einen extrem kleinen Kreis, nur wenige Personen. Auf den ersten Blick bewirkt ein solches Projekt nicht viel. Tatsächlich aber bleibt uns letztlich unbekannt, welche Folgen das Projekt für die Teilnehmer – auch als Multiplikatoren – gehabt hat. Sollen wir aber deshalb ein solches Projekt, das das Leben von mindestens einer Person qualitativ verändert hat, als misslungen betrachten?

Insofern lässt sich die Frage nach der Größe von Projekten grundsätzlich schwer beantworten und jeder wird seine eigene Antwort darauf suchen müssen.

Inwieweit kann man die Erfahrung eines Landes auf ein anderes übertragen? Viele Menschen in der Ukraine haben die Hoffnung, dass man einfach die erfolgreichen Vorlagen anderer Gesellschaften eins zu eins adaptieren kann; was Mühe erspart. Ist das in Ihren Augen wirklich möglich?

Nicht wirklich. Jedes Land, jede Gesellschaft hat je eigene Spezifika und besondere Rahmenbedingungen. Es gibt keine Blaupause, die man vorbehaltlos überall anwenden kann. Und ohne eigene Fehler, ohne Gespür für die Besonderheit einer Situation und ohne Analyse der lokalen Situation kann man keine lebensfähige Struktur erschaffen. Das mag etwas pessimistisch klingen, aber die positive Nachricht ist, dass auf eine solche Art und Weise die Summe aller gesammelten Erfahrungen einen speziell Ukrainischen Weg ermöglicht. In diesem Fall ist der lange Weg vermutlich kürzer als die Versuche, eine Abkürzung zu nehmen. Die Ukrainer sollten jetzt scheinbar einfache aber damit manchmal falsche Entscheidungen vermeiden. Es wird gegenwärtig zum Beispiel viel darüber gesprochen, das ganze Beamtentum in den Kultureinrichtungen auszutauschen. Das stößt naturgemäß auf einen starken Widerstand des Systems. Und meistens ist es auch so, dass neue Netzwerke zu etablieren mindestens solange dauert wie alte Kader zur Veränderung ihrer Denkweise zu bewegen. Deswegen sollte man mit den Menschen arbeiten, nicht gegen sie.

Das ist schon Ihr dritter Besuch in die Ukraine. Welche Eindrücke haben Sie von dem Land selbst und von den ukrainischen Kulturmanagern?

Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Ukrainer sich zu wenig darüber bewusst sind, wie groß und mannigfaltig ihre kulturelle Landschaft ausgeprägt ist. Hier kann man womöglich gewisse Parallelen zu Deutschland erkennen, denn von außen wird Deutschland mitunter etwas stereotyp als Land mit einer Kultur wahrgenommen, obwohl sich die Regionen gerade kulturell stark voneinander unterscheiden. Die Ukrainer sollten ihre Unterschiede, aber auch die Vielfalt positiv sehen, verstehen lernen und zum eigenen Wohl nutzen. Das wäre tatsächlich ein großer kultureller Vorteil.

Was die Kulturmanager in der Ukraine anbetrifft, sind das sehr kluge und extrem agile Menschen, die meist mit großer Hingabe arbeiten. Sie lassen sich aber mitunter von zwei ebenso wesentlichen wie menschlichen Aspekten beeinträchtigen: Erstens ihrer Ungeduld. Viele erwarten schnelle Ergebnisse und scheuen langfristige Verpflichtungen. Zweitens überdeckt der nachvollziehbare Hang zu großen allgemeinen Visionen mitunter die Bereitschaft zur Umsetzung konkret anstehender Aufgaben. Das ist zwar ebenso verständlich wie historisch begründbar. Das verlangsamt aber die Entwicklung letztlich. Und auch deshalb sind Projekte zur nachhaltigen Kulturentwicklung in der Ukraine wirklich erforderlich.
 

Marc Gegenfurtner hat Germanistik, Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München studiert. Er hat in vielen kulturellen Kontexten gearbeitet, darunter in der Dramaturgie der Münchner Kammerspiele und am Schauspielhaus Bochum sowie als Lektor für literarische und Theater-Verlage. Er war Mitarbeiter der Münchner Bücherschau und Kulturkorrespondent der Nachrichtenagentur dpa. Einige Zeit war er in der politischen Beratung in Berlin tätig. Seit 2007 arbeitet er im Kulturreferat der Landeshauptstadt München, seit 2014 als Leiter der Abteilung für Bildende Kunst, Darstellende Kunst, Literatur, Musik, Film, Wissenschaft und Stadtgeschichte. Seit 2014 begleitet er die Kultur- und Bildungsakademie in der Ukraine.