Im Interview mit der Auswahljury

Viele Alumni der „Kultur- und Bildungsakademie“ 2014 und 2015 folgten dem Aufruf des Goethe-Instituts, sich um einen Mikrofund zur Organisation und Durchführung einer kulturellen Veranstaltung in ihrer Stadt oder Region zu bewerben. Der Ausgangspunkt war, Projektideen zu unterstützen, die während der Workshops und Seminare der letzten beiden Jahre entwickelt wurden, und dabei die lokale Kulturszene und zivilgesellschaftliche Initiativen zu involvieren.

Die Auswahljury, die aus fünf ukrainischen und deutschen Kulturexperten bestand, wählte 16 Projekte aus, die in den kommenden Wochen durchgeführt werden. Die Jurymitglieder fungieren dabei als Mentoren für die Projektteams.

Vor dem Start des Projekts befragte das Goethe-Institut Ukraine das Expertenteam über seine Motive, sich dabei zu engagieren.

Was finden Sie so wichtig an diesem Projekt?

Dr. Patrick S. Föhl (PSF): Aus meiner Sicht ist es für die gesellschaftliche Entwicklung elementar wichtig, Empowerment-Projekte dieser Art im Kunst- und Kulturbereich zu fördern und zu unterstützen – besonders in einem sogenannten Transformationsstaat wie der Ukraine.

Olesia Ostrovska-Liuta (OOL): Ich habe den Verlauf der Kultur- und Bildungsakademie in den letzten beiden Jahren 2014 und 2015 genau verfolgt – erst in meiner Funktion als stellvertretende Kulturministerin und später als Evaluationsteamleiterin des  pro.mova Think Tanks, der das Projekt 2015 evaluierte. Es war klar, dass das Projekt am meisten beitragen könnte, wenn es in der abschließenden praktischen Umsetzungsphase gestärkt würde, und zwar durch die Entwicklung von kleinen Projekten, die auf dem erworbenen Wissen und den Kontakten basieren, die im Laufe der Kultur- und Bildungsakademie gewonnen werden konnten.  Deshalb war ich wirklich froh, als ich hörte, dass das Goethe-Institut sich dazu entschieden hat, ein kleines Stipendienprogramm aufzulegen und freue mich, als Expertin daran teilzuhaben. Ich glaube, dass diese kleinen Projekte eine exzellente Chance zum Erfahrungen sammeln für ihre Entwickler darstellen und außerdem ein sehr gutes Instrument zum professionellen Networking sind.   Viele dieser Projekte konzentrieren sich auf die Entwicklung der kulturellen Szene in kleinen (oftmals industriellen) Städten und haben somit das Potential, tiefgreifend zu der Entwicklung eben dieser Szene beizutragen.

Kateryna Botanova (KB): Auch ich glaube fest daran, dass  die Stärkung der Kulturaktivisten in den kleineren Städten und Ortschaften im ganzen Land eine der wichtigsten Aufgaben ist, wenn wir eine vielfältige, lebendige und zukunftsfähige Kulturlandschaft haben wollen. Nur durch eine große Vielfalt an sehr unterschiedlichen kulturellen Initiativen, die Kultur als ein Instrument des Wandelns erkennen und nutzen, kann dieses Land sich ändern.  Und dieses Land benötigt einen nachhaltig anhaltenden Wechsel.

Kateryna Stetsevych (KS): Ich glaube, dass Kultur ein starkes Instrument darstellt, mit dem man Gemeinschaften weiterentwickeln kann. Darum bin ich auch glücklich darüber, Teil dieses Projekts des Goethe-Instituts Ukraine zu sein.  Kultur stellt eine „soft power“ dar, die einerseits Nachhaltigkeit, andererseits Wechsel hervorbringen kann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein erfolgreicher Wandel ohne die Beteiligung von Kultur möglich ist. Ich bin nicht nur froh,  meine Erfahrungen mit den ukrainischen Kolleginnen und Kollegen teilen zu dürfen, sondern auch darüber, dass ich weitere Inspirationen aus verschiedenen Regionen meines Heimatlandes bekomme.

Prof. Dr. Gernot Wolfram (GW): Ich denke, dass kulturelle Projekte, gerade in Zeiten von politischen Krisen, immer Teil der Friedensarbeit sind. Das aber auf eine sensible Art und Weise, außerhalb der Logik direkter messbarer politischer Ergebnisse. Dieser künstlerische Ansatz, der neue Netzwerke und Diskurse konzipiert, ist für mich sehr überzeugend.

Auf welche Weise können die Mikrofunds und die professionelle Begleitung der Projekte die weitere Entwicklung der kuIturellen Szene in der Ukraine unterstützen?

KS: Meiner Meinung nach spielen die Mikrofunds eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung lokaler Gemeinschaften und kleiner Projekte. Mikrofunds kurbeln Aktivitäten kleinerer kultureller Akteure an, die meistens ehrenamtlich und ohne Einkommen arbeiten. Mit ihrem Engagement tragen sie zur Institutionalisierung des kulturellen Sektors bei. Ich glaube, dass die Mentorentätigkeit, die durch die Expertinnen und Experten aus der Ukraine und aus Deutschland angeboten wird, ein sehr wichtiges und effektives Instrument darstellt,  um kleinere kulturelle Initiativen und Institutionen zu unterstützen. Dieses Projekt fördert nicht nur die Zusammenarbeit, sondern bietet auch die Möglichkeit, die eigenen Projektmanagement-Fähigkeiten und die Qualität der Projektdurchführung zu verbessern.

KB: Die Mikrofunds erlauben den lokalen Kulturakteuren nicht nur, ihre Projekte durchzuführen, sondern auch, sich immer wieder auf eine realistische und messbare Projektlinie zu fokussieren. Sie bieten ebenfalls einen Stimulus dafür, Partnerschaften und Allianzen aufzubauen, was sich in der Ukraine oftmals als nicht einfach darstellt. Und ich schätze mal, dass man hier besonders hervorheben muss, dass die Geldmittel, die im Land für kulturelle Initiativen zur Verfügung stehen, generell und vor allem in Kleinstädten, dermaßen limitiert sind, dass selbst Mikrofunds einen großen Unterschied machen können. Die Betreuung durch Mentoren bietet eine Qualitäts- und Nachhaltigkeitskontrolle, darüber hinaus aber auch freundlichen professionellen Rat und Unterstützung in solchen Situationen, in denen eine fundierte Kulturmanagement-Ausbildung nicht vorhanden und die eigene Erfahrung noch begrenzt ist. Der Erfahrungsaustausch zwischen Praktikern aus verschiedenen Bereichen und Ländern ist eine großartige Idee dieses Projektes.

OOL: Viele der eingereichten Projektideen beschäftigen sich mit der Entwicklung der kulturellen Szene in kleinen (oft industriellen) Städten und haben somit ein recht gutes Potential, sich tiefgreifend mit der Entwicklung einer professionellen Szene zu beschäftigen. Es wurde schon öfters geäußert, dass kleine Städte meistens sehr beschränkte Möglichkeiten und Ressourcen haben - sowohl im Bereich der vorhandenen Expertise und Visionen, als auch der Finanzen -  um eine eigene kulturelle Szene zu entwickeln. Deshalb könnten Networking und gemeinsam unternommene Anstrengungen verschiedener Akteure aus verschiedenen Orten darauf eine Antwort sein.  

PSF: Die Mikrofunds und die Betreuung durch externe Mentoren sind erprobte und nachhaltige Verfahren, da sie durch die Grundgedanken durch die kooperative Projektentwicklung von einer ersten Ebene (die Idee, Anfangsschritte) auf eine zweite befördern (Start der Implementierung, erste Aktionen, Netzwerkaufbau). Dadurch erhalten sie eine echte Chance auf Realisierung und Folgewirkungen.  

GW: Lokale Gemeinschaften sind oftmals der Mittelpunkt kultureller Veränderungen. Insofern ist es in diesem Kontext sehr schlau, den Fokus weg von den großen Städten zu nehmen. Für mich ist es einer der Schlüsselelemente für die weitere Entwicklung in der Ukraine, neue kulturelle Zentren zu entdecken und Diskussionen über die sogenannten Peripherien zu vermeiden.

Gab es für Sie bei den eingereichten Projektideen irgendwelche Überraschungen?

KB: Einerseits gab es für mich keine wirklichen Überraschungen: Die besten und solidesten Vorschläge kamen von Kulturakteuren, die bereits über Erfahrung verfügen, Es war aber auch toll zu sehen, dass es unerwartete Projektanträge aus Städten gab, die sonst kaum auf der kulturellen Landkarte zu verorten sind, zum Beispiel Buchach, Kherson, Dobropillya, Chernivtsy oder Rivne. Andererseits war es überraschend für mich, dass so viele Initiativen sich mit der Rolle der Kultur im Bereich der städtischen Entwicklung beschäftigen. Es ist wichtig, dass die Fokussierung auf die Stadt und ihre kulturellen Potentiale nicht nur in den großen Städten im Trend liegt.

KS: Ich war von den Projektvorschlägen auch nicht richtig überrascht, aber ich war froh, dass sie aus den unterschiedlichsten Teilen der Ukraine kamen. Diese Vorschläge waren wie eine Art Mapping der kulturellen Entwicklung in Städten und kleineren Gemeinden. Es ist beachtlich, dass sich viele der Projekte auf die Verbesserung der direkten Umgebung, wie etwa Veränderung des öffentlichen Raums, Zusammenarbeit mit Nachbarstädten und Beschäftigung mit der eigenen Realität etwa in Zeiten des Krieges in der Ostukraine, konzentrieren.  

PSF: Erst einmal muss ich betonen, dass in der Ukraine zahlreiche fortschrittliche und aktuelle Herangehensweisen in den Bereichen Kulturmanagement, Kulturarbeit und Kulturpolitik existieren. Eine echte Überraschung war für mich, dass sich viele Projekte mit dem Thema Kulturentwicklung in ukrainischen Städten beschäftigen, etwa durch gemeinsames Planen, Reflexions- und Analyse-Prozesse, Mapping-Verfahren sowie Empowerment- und Qualifizierungsansätze. Das zeigt die Expertise der Antragsteller im Hinblick auf aktuelle Methoden des kulturellen Wandels wie sie gegenwärtig in vielen Teilen der Welt Anwendung finden.

OOL: Ich würde auch nicht sagen, dass es für mich große Überraschungen gab. Aber manche der eingereichten Projekte wurden um wirklich schöne Ideen herum entwickelt – schön im künstlerischen und konzeptuellen Sinn.  Auch wenn sie vielleicht aus professioneller Sicht etwas unterentwickelt sind. Ein solches Projekt – welches ich sehr poetisch finde -  nennt sich „Der alte Freund“ und es geht dabei um ein altes Schiff mit einer sehr komplexen Geschichte, die die Ukraine und Deutschland verbindet. Dieses Projekt handelt von Erinnerung und ihrer Unbeständigkeit, aber auch von unvorhergesehenen Zusammenhängen zwischen sehr verschiedenen Gesellschaften. 

GW: Für mich kommt es da auf die Definition des Begriffs „Überraschung“ an. Wenn Überraschung bedeutet, dass etwas gezeigt wird, das zu einem neuen kulturellen Bewusstsein führt, dann würde ich auf jeden Fall sagen, ja, eine große Anzahl der Projekte hat ein Potential. Aber wir sollten hierbei keine extravaganten Sachen oder Überraschungseffekte erwarten. Diese Art von Kulturarbeit ist meistens auch nicht nachhaltig. Ich bin mehr an der realen Übersetzung von Ideen in lebendige kulturelle Erfahrungen interessiert, die vorher nur auf dem Papier standen. Und hierbei sollten wir die Projektpartner unterstützen, nicht nur irgendwelchen vorformulierten Bedingungen zu vertrauen, sondern eigenen Aktivitäten, die auch mal im Verlauf der Durchführung geändert werden können.

In der Jury sitzen ukrainische und deutsche Experten. Meinen Sie, dass es dadurch unterschiedliche Herangehensweisen bei der Betreuung der Projekte geben wird?

OOL: Es würde mich nicht überraschen, wenn die ukrainischen und deutschen Experten ein geringfügig unterschiedliches Feedback zu den Projekten gegeben haben. Unsere Sichtweisen sind doch etwas unterschiedlich und wir konzentrieren uns vielleicht auf etwas andere Thematiken und Herausforderungen. Andererseits haben die deutschen Kollegen schon ziemlich viel Zeit mit ukrainischen Kulturakteuren verbracht und konnten bereits in den lokalen kulturellen Kontext eintauchen. Ich bin jetzt persönlich sehr neugierig, ob es tiefgreifende Unterschiede in der Projektbewertung durch die ukrainischen und deutschen Experten gegeben hat. Gab es die? (Goethe-Institut: Tatsächlich gab es keine auffallenden Unterschiede bei der Bewertung durch die Expertengruppe)

KB: Ich glaube, dass quasi jedes eingereichte Projekt eine gute Kenntnis über die Antragsteller  und ihren Hintergrund erfordert, über die Städte, aus denen sie kommen, und die Kulturlandschaft.  In diesem Sinne ist es schade, dass es keine gemeinsamen Treffen der gesamten Jury geben konnte, um Eindrücke und Meinungen auszutauschen. Meine Erfahrung als Jurymitglied bei diversen Programmen hat mir gezeigt,  wie sich die eigene Meinung zu einem bestimmten Projekt durch neue Eindrücke, die in einer Diskussion vermittelt werden, radikal ändern kann. Trotzdem finde ich es großartig, dass unterschiedliche Blickweisen und Erfahrungen zusammenkommen können, um die Kulturszene in der Ukraine weiterzuentwickeln.

PSF: Sicherlich gibt es unterschiedliche Herangehensweisen, aber insgesamt sind die Herausforderungen und Potenziale kultureller Transformationsprozesse im internationalen Vergleich in vielen Punkten ähnlich. Deshalb ist es für mich von elementarer Bedeutung, dass gegenseitige Austausch- und Lernprozesse im Mittelpunkt stehen. 

KS: Ein besonderer Vorteil dieser binationalen Jury sind ja die unterschiedlichen Blickwinkel auf die Projekte, die sich gegenseitig ergänzen können. Es wäre toll, wenn wir uns während der Durchführung treffen könnten, um die Projektideen und ihre Realisierung zu diskutieren. Die Kenntnis der lokalen ukrainischen Zusammenhänge und ein unvoreingenommener Blick von außen sind in meinen Augen eine sehr erfolgreiche Kombination für alle Projektteile.

GW: Das ist eine wichtige Frage. Ich sehe meine Rolle nicht als die eines Experten, der aus einer sogenannten deutschen Perspektive hilft. Ich würde meine Rolle lieber als eine Art Beobachter sehen, der Ideen, kritische Punkte und Erfahrungen mit denjenigen teilt, die die Experten für die Kulturlandschaft in ihrem Land sind. Die Perspektive des Außenstehenden kann oft sehr hilfreich sein, um Dinge zu erkennen, die man oftmals nicht sieht, wenn man zu sehr in etwas involviert ist. Und ich freue mich auch schon darauf, von der Erfahrung der Projektpartner zu lernen.