Teilnehmerberichte
Über die Ruhr. Wie der Stahl gehärtet wurde. Eine Geschichte aus meinem Leben

Über Ruhr. Eine Geschichte aus meinem Leben. Foto: Taissija Melnyk-Welsch
Foto: Taissija Melnyk-Welsch

Meinem Vater, Alexandr Borissowitsch Melnyk, gewidmet.
Papa, ich danke Dir für den Namen, Freiheit und deine buddhistische Lebensphilosophie.
Ich behalte Dich für immer in Erinnerung.

Wir sind starke Bäume, die mit den Wurzeln ausgerissen und vom Schicksal von Land zu Land getrieben wurden; wir sahen uns gezwungen, uns immer wieder einem neuen Lebensumfeld anzupassen. Vati hielt uns für Eichenbäume, die aus kleineren und größeren Eicheln wachsen - und heute weiß ich, warum!

Dieser merkwürdige Zustand des Ausgerissen-Seins, in dem du dich unter neuen Lebensumständen wieder finden und ein neues Verständnis für solche Begriffe wie dein Haus, dein Heimatland, deine Familie und dein Lebensort entwickeln musst!

Ein Teil meiner Familie mütterlicherseits reiste noch in den 90-er Jahren aus, nachdem vom deutschen Staat beschlossen wurde, alle Menschen deutscher Abstammung zu unterstützen, die noch zu Zeiten von Katharina II. nach Russland übergesiedelt waren. Meine Familie, die damals aus Eltern und nahen Verwandten beider Elternteile bestand, blieb in der Ukraine. Der Rest, d.h. entfernte Verwandte meiner Mutter, die Russischdeutsche waren und zur lutherischen Gemeinde gehörten, siedelten in die Industrieregion Ruhrgebiet, nämlich nach Duisburg, Essen, Köln und Düsseldorf, um. 

Es hat lange gedauert, bis sie ihren alten Arbeitsstatus wieder erlangen konnten. Sie waren gezwungen, niedrigere Positionen anzunehmen, auf ihren alten Beruf zurückzugreifen oder in anderen Bereichen tätig zu werden, denn sie wurden von den Deutschen als Heimkehrer nicht akzeptiert und galten als nicht würdig, eine gleiche gesellschaftliche Stellung zu genießen. Viele wohnten in Kneipen, Behelfsunterkünften und bekamen Sozialhilfe, um am neuen Ort zurechtzukommen.

Über Ruhr. Wasserfall. Foto: Liudmyla Nycha Foto: Liudmyla Nycha Meine Mutter, zur Hälfte deutsch und zur Hälfte russisch, war damals bereits mit meinem Vater (Ukrainer polnischer Abstammung) verheiratet und trug nicht den Familiennamen Welsch, sondern Melnyk. Sie war als Trainerin und Schiedsrichterin tätig und hielt es für nicht möglich, sich unter den neuen Umständen in ihrer neuen für sie jedoch fremden Heimat einzuleben. Sie war ein Kind der Nachkriegszeit und wollte wohl ihren deutschen Familiennamen ruhen lassen, alte Geschichten nicht aufwärmen und an Sticheleien sowie Vorwürfe des sowjetischen Staates und der sowjetischen Politik gegenüber allen Menschen mit kleinstem Bezug zu Deutschland nicht zurückdenken. Ich und meine Schwester konnten damals keine selbständige Wahl und Entscheidung treffen, ohne Eltern auszureisen, deshalb hing unser Schicksal von ihrer Entscheidung ab. Zugleich begann sich ein Verhältnis zwischen mir und einem Heimkehrer anzubahnen, doch seine Familie wanderte nach Deutschland aus. Wir haben den Kontakt zueinander für viele Jahre verloren und konnten uns erst nach zehn Jahren wiederfinden; unsere Wege kreuzten sich in verschiedenen Städten und Ländern, und wir haben uns bemüht, möglichst oft zusammen zu sein.

Von Zeit zu Zeit komme ich immer wieder auf den Gedanken, dass ich bereits fünfzehn Jahre lang irgendwo in Westphalen hätte leben, mich in Duisburg kreativ betätigen, in Wuppertal tanzen oder Bilder in Bochum malen können. Vielleicht wäre ich dann gar keine Malerin geworden, hätte Ukrainisch längst vergessen und weder den Namen Welsch, noch Melnyk getragen…. Und ich bin hier in der Ukraine und kehre jedes Mal mit der Frage zurück: Was ist denn das Gefühl des Zuhause-Seins?

So lebten wir, voneinander getrennt. Sie führten dort ein elendes Dasein und wir hierzulande, und wir haben versucht, zu begreifen, was unsere Identität, unsere wahre Heimat und unser Land sind. Und dann ging die Verbindung zwischen uns angesichts schwieriger Zeiten in unseren Ländern verloren.

Mein Großvater, ein hundertprozentiger Deutscher, jedoch in Russland geboren, hat die Rückkehr nach Deutschland strikt abgelehnt und wollte dort beerdigt werden, wo er geboren ist. So ist es auch einige Monate vor unserem Treffen geschehen. Ich habe ihn also niemals gesehen und werde ihn auch nie mehr sehen. Allerdings ist es mir gelungen, dank modernen Kommunikationsmöglichkeiten und einem Wunder, meine Verwandten im Jahr 2011 zu finden, zu besuchen und kennenzulernen. Zu dem Zeitpunkt bin ich mit meiner Familie ins Ruhrgebiet gekommen und habe für mich eine neue Welt entdeckt, nicht ohne Zutun von Pina Bausch, der Gründerin eines Tanztheaters, von deren Schaffen ich begeistert bin. Nach der Rückkehr in die Ukraine ist es mir gelungen, das ihr gewidmete Projekt "Lebensdiorama…." umzusetzen.

Jetzt, nach fünf Jahren, kam ich in ein neues und zugleich vertrautes Umfeld mit neuen Erlebnissen, gewonnenen Erfahrungen und verloren gegangenen Verwandten. Wenn man zehn Jahre lang von der väterlichen Linie und dem Großteil von Kontakten Abschied nimmt, wobei auch die Bindung an den Heimatort, das Land, die Region und das Vaterhaus verlorengeht, denkt man nur ungern an die Selbstidentifizierung. Und nach dem Verlust des Vaters beginnst du mehr denn je darüber nachzudenken, wo du stehst und wo deine Heimat ist...

Taissija Melnyk-Welsch. Foto: Anton Ovchinnikov Foto: Anton Ovchinnikov Jedes Mal ordne ich mich mental als ukrainisch-polnisch-russische Deutsche, Heimkehrerin, Künstlerin, die mit einem schweren Kontext der Gegenwart zu tun hat und die Verantwortung für die Weitervermittlung von Inhalten trägt, neu ein. Ich bin dabei, dieses Ereignis in meinem Leben weiter zu reflektieren und zu begreifen, was neue Gedanken und Ideen nährt und entstehen lässt.

Was ist Ruhrtriennale für mich? Ein Festival? Eine Reise in das Ruhrgebiet? Offen gesagt, weiß ich keine Antwort, aber es ist einem Besuch seines eigenen Hauses ähnlich! Ich empfinde bis heute überwältigende Eindrücke und Ästhetik, die mir diese Reise gebracht hat, und bin begeistert von den Teams auf beiden Seiten, der ukrainischen und der deutschen. Die Ruhrtriennale ist nicht nur eine Reise zwecks Erfahrungsaustausch, bei der man neue Erkenntnisse gewinnt, mit Kollegen seiner Zunft ins Gespräch kommt oder auch Partner für gemeinsame Kunstprojekte findet, es ist viel mehr, viel umfassender, viel tiefgreifender. Für mich ist es der Weg zur Selbstfindung, zum Zuhause-Sein, zur Suche nach Antworten, die sich dem Künstler, dem Kulturschaffenden und dem Menschen mit direkter Bindung an das Ruhrgebiet stellen. Ich hoffe darauf, dass es für mich in der absehbaren Zeit möglich sein wird, das Thema der Selbstidentifizierung, der Heimkehrer, der Einwirkung des Lebens- und Kulturumfelds mit dazugehörigen Regionen, Eigenständigkeit und Erbe auf die Persönlichkeitsentwicklung und Künstler weiterzuführen.

Ich danke dem Goethe-Institut für das Vertrauen und dem Team für überwältigende und gemeinsam erlebte Erfahrungen. Ich beabsichtige, die Erforschung meiner Thematik im Ruhrgebiet im Format eines Aufenthalts in einer Kulturresidenz und der Beteiligung an Kulturveranstaltungen fortzusetzen.