Die Ukraine auf der Berlinale 2020
Macht des Kinos, Resilienz und ethische Fragen

"The Earth Is Blue as an Orange" von Iryna Tsilyk
"The Earth Is Blue as an Orange" von Iryna Tsilyk | © Viacheslav Tsvietkov/Albatros Communicos, Moonmakers

Welche ukrainischen Filme und Koproduktionen wurden auf dem Filmfestival in Berlin präsentiert? Wie kamen sie beim Publikum an?

Von Alex Malyshenko

Sentsov

Die Internationalen Filmfestspiele in Berlin haben ihre Unterstützung für den Regisseur Oleg Sentsov während seiner Zeit in Haft demonstriert. So feierte hier Der Prozess: Der russische Staat gegen Oleg Sentsov von Askold Kurov seine Premiere. Nach der Freilassung präsentierte man im diesjährigen Berlinale Special den Film Die Zahlen nach dem Stück von Sentsov. Bei der Produktion folgte der Regisseur Akhtem Seitablaiev den Anweisungen von Sentsov aus dem Gefängnis.



Die Zahlen sorgten für einen Präzedenzfall: Die Weltpremiere zwei Tage vor der offiziellen Eröffnung des Festivals verlief nicht völlig nach den Regeln. Zum Programm der Berlinale gehörte diese Vorführung trotzdem, wie auch zwei weitere, diesmal ohne Sentsov, aber auch mit ausverkauften Sälen und langen Schlangen vor dem Eingang – der Film schaffte es, das Publikum mehrmals zum Lachen zu bringen, am Ende gab es lang anhaltenden Applaus für das Filmteam.

In der dystopischen Welt des Films leben dessen Figuren in einem Stadion. Sie haben keine Namen, nur Zahlen: ungerade für Männer und gerade für Frauen. Ihr ganzes Stadion-Leben unterliegt strikten Regeln, einst vom Schöpfer dieser Welt („Die Große Null“) geschrieben. Alles wird von Richtern überwacht, die jederzeit bereit sind, Abweichler*innen gleich zu „disqualifizieren“. Ein für dieses Genre obligatorischer Rebell begehrt auf und beginnt seinen Kampf gegen das System.

Wie auch seine theatralische Quelle enthüllt der Film Technologien der Kontrolle und Unterdrückung. Die Intention der „Aufdeckung“ kommt auch durch eine knappe Bühnendekoration zum Vorschein, was an Lars von Triers Dogville erinnert. Aber im Gegensatz dazu bleiben Die Zahlen am Scheideweg stehen, ohne sich für eine Kunstform entschieden zu haben.

The Earth Is Blue as an Orange

Man kannte Iryna Tsilyk als Schriftstellerin und Spielfilm-Autorin. Nach einer Mitwirkung im dokumentarischen Filmalmanach Unsichtbares Bataillon über Frauen im Krieg lieferte die Regisseurin mit The Earth Is Blue as an Orange ihr Dokumentarfilm-Debüt.

Für diese Arbeit wurde Tsilyk mit dem Directing Award: World Cinema Documentary des Sundance‑Filmfestivals ausgezeichnet. Die Sektion „Generation 14plus“, innerhalb derer der Film bei der Berlinale 2020 lief, ist der ukrainischen Filmszene nicht unbekannt – 2017 hatte in dieser Sektion Schule Nummer 3 von Yelizaveta Smith und Georg Genoux über Jugendliche aus einer wenige Kilometer von der Front entfernten Schule im Donbass den Großen Preis der Internationalen Jury gewonnen.



Der Film von Tsilyk erzählt von einer Großfamilie im Donbass, die in der Kleinstadt Krasnohoriwka nahe der Frontlinie lebt: Die Kanonaden sind hier zum Alltag geworden wie auch weitere Attribute des Krieges. Trotz schwieriger Umstände verlieren die Hauptfiguren nicht ihren Mut und fangen an, einen Film zu drehen. Schrittweise rekonstruieren sie ihre Kriegserlebnisse, was wie eine Therapie auf sie wirkt.

„Ein Dokument der Resilienz und der Macht des Kinos“, so positioniert die Berlinale diese Arbeit, was man nur bestätigen kann. Alle Filmvorführungen waren ausverkauft und bekamen Standing Ovations.

DAU

Das Monumentalprojekt DAU von Ilya Khrzhanovskiy ist nicht ganz Kino und nicht ganz Realityshow, hier ist alles nicht ganz echt und nicht ganz fiktiv. Die Koproduktion mehrerer Partner – darunter auch die Ukraine – hat den Anspruch, im Projektformat weiterzubestehen und Zuschauer*innen mit den Ergebnissen ihrer 700 Stunden Filmmaterial zu versorgen. Der DAU‑Kosmos zählt zurzeit 16 Filme.

Davon wurden bei der Berlinale 2020 zwei präsentiert: DAU.Natasha im Wettbewerb und DAU. Degeneration im Berlinale Special. Die Hauptfigur des ersten Films, Natasha, arbeitet in einer Kantine, hat eine Affäre mit einem ausländischen Professor und wird deswegen vom KGB verhört und angeworben. Der zweite Film dauert sechs Stunden und zeigt die Entstehung und den Verfall des Instituts als dem zentralen Element im DAU-Kosmos.

Mythen und Geschichten über Produktionsweisen prägen die Gespräche rund um DAU. In Charkiw errichtete man dafür eine riesige Dekoration, in der nebenberufliche Schauspieler*innen einfach ihr Leben führten, umgeben von einer repressiven Atmosphäre und unter körperlichem sowie physischem Druck.

In diesen Bedingungen spielen die Teilnehmenden sich selbst – unter ihnen Prominente wie Marina Abramović oder Nobelpreisträger David Gross, aber auch der ehemalige KGB-Mann Vladimir Azhippo, der das sowjetische Foltersystem vor der Kamera rekonstruiert, und der Neonazi Maksim Marzinkevich.

Aber nicht nur die Methoden, wie die Resultate erzielt werden, geraten in die Kritik, sondern auch die Misshandlungen, denen die Teilnehmenden am DAU‑Projekt ausgesetzt waren: Im Bild sehen wir heftigen Streit, Vergewaltigungen oder brutale Tiertötungen.



Diskussionen über den Film betreffen in erster Linie ethische Fragen – aber auch in Bezug auf die künstlerische Perspektive ist hier nicht alles eindeutig. Die innovative Projektmethode veraltete noch vor ihrer Filmpremiere und fand in der Zwischenzeit ihre Anwendung in anderen, weniger repressiven Kunstprojekten. Visuell lässt sich der Film von Autoren wie Aleksei German und dessen Arbeiten Es ist schwer, ein Gott zu sein und Krhoustaliov, mein Wagen! ableiten.

Diese Zweifel und Polaritäten bilden anscheinend eine Barriere, die nicht nur das Publikum spaltet, sondern auch den Erfolg des Films bremst. So erntete die Weltpremiere im gut besuchten Berlinale Palast nur einen schwachen Applaus, der bereits vor dem Ende der Abspanns verebbte. Ein weiteres Mal applaudierte man länger – den Schauspielerinnen als Zeichen des Respekts für das, was sie erlebt hatten. 

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