Geniale Dilletanten
Westberlin – die Insel der Freiheit

“Sitting in the Dschungel/On Nürnberger Strasse”, singt David Bowie in “Where are we now?” (2013).
“Sitting in the Dschungel/On Nürnberger Strasse”, singt David Bowie in “Where are we now?” (2013). | Foto (Ausschnitt): private/dschungelberlin.de

Pogo, Freestyle, Boogie-Woogie. Im Westberlin der 1980er-Jahre wurde getanzt, wie es einem gefiel. Das Lebensgefühl spiegelte sich vor allem in der Feierwütigkeit seiner Bewohner wider, und so wurden Orte wie der Dschungel und das SO36 für viele ein zweites Zuhause.

„Das waren noch Zeiten, als Westberlin eine Insel war“, beschreibt Daniela Meier die geteilte Stadt von damals. Sie hat die 1980er-Jahre und das Berliner Nachtleben in dieser Zeit hautnah miterlebt: „Ich erinnere mich an Abende, an denen nackt getanzt wurde und nach denen man morgens noch irgendwo frühstückte und dann, ohne ein Auge zuzutun, auf die Arbeit ging.“ Das Freiheitsgefühl im westlichen Teil Berlins war unermesslich. Hier trafen sich alle, die in irgendeiner Form ein alternatives, freies und unkonventionelles Leben führen wollten.Es war das Paradies der Dilettanten. Hier musste man nicht zur Bundeswehr gehen, konnte günstig wohnen und hatte vor allem eines: jede Menge Ausgehpotenzial ohne Sperrstunde. Legendäre Orte wie Dschungel, Sound, Risiko und SO36 sorgten dafür, dass das Nachtleben in den Stadtteilen Schöneberg und Kreuzberg pulsierte.

Die Westberliner Dschungelkinder

Unweit vom KaDeWe, dem Kaufhaus des Westens, lag seit 1978 der Dschungel. Hier waren sie alle: David Bowie, Iggy Pop, Frank Zappa, aber auch Falco, Rio Reiser und die Mitglieder von Ideal. Schnell wurde die Bar zum Knoten- und Angelpunkt der Westberliner Szene. Schon in den früheren 1970er-Jahren hatte sich der Dschungel an einem anderen Standort – als beliebte Eckkneipe am Winterfeldtplatz – einen Namen gemacht. Die Mischung aus Kneipe und Disko in bester Lage machte den Dschungel später zu einer der hippsten Bars, die das Ausgehviertel Schöneberg zu bieten hatte. „Es gab eine Phase, in der ich bestimmt drei- bis viermal pro Woche im Dschungel war. Dieser Ort war einmalig. Du trafst hier wirklich jede Sorte Mensch, und jeder konnte machen, was er wollte. Es war ein Gefühl von Freiheit“, erinnert sich Daniela Meier zurück. Unkonventionalität sah man auf der Tanzfläche ebenso wie in der Musik, die stets progressiv, futuristisch, sprich New Wave, war. „Manche tanzten eckig und kantig, andere hüpften so vor sich hin, manche tanzten auch Boogie-Woogie – Hauptsache, verrückt und individuell. Im Dschungel tanzten auch Frauen mit Frauen und Männer mit Männern. Das war damals noch revolutionär.“

Auch der Künstler Martin Kippenberger war gern gesehener Gast im Dschungel und bekannt für seinen extravaganten Tanzstil. „Ich kann gar nicht richtig beschreiben, wie er sich bewegte. Eigenwillig, aber elegant, gemischt mit ein paar klassischen Tanzschritten vielleicht“, beschreibt ihn Gisela Capitain, die mit Kippenberger zusammen 1978 das Büro Kippenberger gründete, einen Ausstellungsraum für junge Künstler. Berühmt war der Dschungel aber nicht nur für seine Stars und die gute Musik, sondern auch für die strenge Türpolitik und das strikte Fotografierverbot. Wer hier reinkam, hatte es geschafft.

Kippenberger und das SO36

Kippenberger wollte die Kunstwelt verändern, er wollte Räume für künstlerische Experimente schaffen. Im selben Jahr bekam er die Gelegenheit, Geschäftsführer des SO36 zu werden, eines Veranstaltungsraums für jede Art von Subkultur im Herzen von Berlin-Kreuzberg. „Das SO36 war ein großes schwarzes Loch, mit wenig Licht, ein paar Kühlschränken und einer Bühne. Dort war alles möglich“, erinnert sich Gisela Capitain.

Das SO36 eröffnete 1978 mit einem der ersten Neue-Deutsche-Welle-Musikfestivals und versuchte relativ erfolglos, Punk, New Wave und Kunst miteinander zu verbinden. Die Kreuzberger Punk- und Anarchoszene boykottierte es anfangs als zu kommerziell, und so gaben Kippenberger und die Besitzer Achim Schächtele und Andreas Rohè nach einem Überfall die Leitung ab. Unter neuer Führung wurde es schließlich zum Zentrum der Punk- und Rockszene. Alle nennenswerten Punkbands traten hier auf und brachten ihr Publikum mächtig ins Schwitzen. Hier wurde nicht getanzt, im SO36 wurde gepogt. Der Pogo diente als Kontrast zu der kommerziellen Diskomusik der 1970er-Jahre. Auf seine Art und Weise war aber auch dieser Tanz sehr individuell und experimentell, denn Regeln gab es hier keine.

Genauso wenig stringent wie der „Tanz“ war auch die Geschichte des SO36: Nach 1983 wurde es wegen Baufälligkeit geschlossen, 1984 besetzt und später von der Stadt geduldet – bis heute. Wild gefeiert wird hier immer noch.
 
Die Ausstellung Geniale Dilletanten präsentiert ab 23. April 2015 in Minsk (Belarus) und im Anschluss auf Welt-Tournee den bisher umfangreichsten Überblick über die deutsche Subkultur der 1980er-Jahre. Von Juni bis Oktober 2015 wird sie im Münchener Haus der Kunst zu sehen sein. Geniale Dilletanten ist eine Tourneeausstellung des Goethe-Instituts.

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