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Debatte um Achille Mbembe
Das Gespenst des Vergleichs

Erinnerung: Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas – Holocaust-Mahnmal in Berlin, Deutschland
Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas: Holocaust-Mahnmal in Berlin, Deutschland | Foto (Detail): Mara Brandl © picture alliance / imageBROKER

Achille Mbembe, der wohl prominenteste Historiker und Philosoph Afrikas, ist der Antisemitismus vorgeworfen worden. Die anschließende Debatte wirft grundlegende Fragen über die Erinnerungskultur und Meinungsfreiheit auf.

Von Michael Rothberg

Ein Gespenst geht um in Deutschland, das Gespenst des Vergleichs. Es ist die unbeabsichtigte Folge einer der lobenswertesten Errungenschaften der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Diese Gesellschaft hat es geschafft, über mehrere Jahrzehnte eine Erinnerungskultur aufzubauen und auf diese Weise ihrer Verantwortung für den durch die Nazis begangenen Völkermord an den europäischen Juden gerecht zu werden. Nach der deutschen Wiedervereinigung entwickelte sich das Gedenken an den Holocaust zu einem zentralen Punkt der öffentlichen Kultur. Ein konkretes Symbol für diesen zentralen Stellenwert war die Eröffnung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Gleichzeitig wurde dem Holocaust mit der Zeit auch ein fast schon heiliger Status als einzigartiges Ereignis in der Erinnerungslandschaft der Nation eingeräumt. Durch die dem Holocaust zugeschriebene Einzigartigkeit – in der offiziellen Gedenkkultur und sogar in der Wissenschaft – unterliegt er nicht mehr dem üblichen Geschichtsbewusstsein, das sich zwangsläufig auf einen Vergleich und eine relative Verhältnismäßigkeit zwischen verschiedenen Ereignissen stützt. Eine derartige Sakralisierung der Einzigartigkeit ist keine Besonderheit in Deutschland, hat allerdings in der Bundesrepublik in den vergangenen Jahren eine ganz eigene – und besonders ausgeprägte – Form angenommen. In Deutschland setzt der allgemeine öffentliche Diskurs voraus, dass ein Vergleich des Holocaust mit anderen Ereignissen dieses von den Deutschen verübte Verbrechen verharmlost und damit der Ernsthaftigkeit des deutschen Verantwortungsgefühls schadet. Was zur Folge hatte, dass der öffentliche und der wissenschaftliche Diskurs einer strengen Kontrolle unterliegen.

Viele Geschichten der Gewalt

Das Beharren auf der Einzigartigkeit des Holocaust in der deutschen Erinnerungslandschaft hatte zur Folge, dass sich zwei voneinander unabhängige, aber häufig miteinander in Verbindung gebrachte zentrale Streitpunkte zu Schreckgespenstern entwickelten. Dabei geht es zum einem um die Frage, wie der Holocaust mit anderen Geschichten der Gewalt und insbesondere mit der Geschichte und den Nachwirkungen des europäischen Kolonialismus in Verbindung gebracht werden kann. Zum anderen geht es darum, wie eine legitime Kritik am israelischen Staat geäußert werden kann, dessen Selbstwahrnehmung, ebenso sehr wie die von Deutschland, eng mit den Ereignissen des Holocaust verknüpft ist.
 
Diese beiden Schreckgespenster sind mit dem jüngsten intellektuellen und politischen Skandal, der von Deutschland ausging, wieder an die Oberfläche zurückgekehrt. Es geht um die Vorwürfe des Antisemitismus und der „Relativierung“ des Holocaust, die gegen den in Südafrika lebenden kamerunischen Wissenschaftler Achille Mbembe erhoben werden. Der weltweit anerkannte Wissenschaftler beschäftigt sich mit dem Kolonialismus und seinem Erbe und hatte bereits vor dieser Debatte in Deutschland eine große Bekanntheit erlangt. Seine Bücher wurden nach ihrer Veröffentlichung schnell ins Deutsche übersetzt. Zudem wurde er mit zahlreichen Preisen, Auszeichnungen und hochrangigen Gastprofessuren an deutschen Hochschulen bedacht. Nun liegt sein Ruf in Deutschland in Scherben. Zunächst hatte der nordrhein-westfälische FDP-Politiker Lorenz Deutsch Anschuldigungen gegen ihn erhoben, die durch den Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, noch stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt wurden. Doch es ist unwahrscheinlich, dass sein Ruf auch außerhalb Deutschlands Schaden nehmen wird. Was lehrt uns diese Debatte über den aktuellen Zustand der öffentlichen Kultur in Deutschland?

Vergleich und Relativierung

Die Vorwürfe des deutschen Establishments gegen Mbembe beziehen sich auf Passagen aus seinem Essay „Die Gesellschaft der Feindschaft”, das in deutscher Sprache in seinem Buch Politik der Feindschaft (2017) erscheint. Im ersten Abschnitt geht es um einen Vergleich (aber keine Gleichsetzung, wie Deutsch anmerkt) zwischen der Apartheid in Südafrika und der Besetzung der Palästinensergebiete durch Israel. In Deutschland wird ohne Weiteres davon ausgegangen, dass ein solcher Vergleich allein schon antisemitisch ist. Solange eine solche Annahme nicht infrage gestellt wird – was ich tun würde, genauso wie Dutzende ehemalige Knesset-Abgeordnete und außerdem zahlreiche israelische Bürgerinnen und Bürger sowie Jüdinnen und Juden in aller Welt, die sich kritisch zu der in ihren Augen an die Apartheid gemahnende Politik in den besetzten Gebieten äußerten –, entbehrt diese Diskussion jeglicher Grundlage. Ich möchte stattdessen auf den zweiten Absatz eingehen, der eine Gegenüberstellung zwischen der Apartheid und dem Völkermord der Nazis beinhaltet: „Das Apartheidregime in Südafrika und – in einer ganz anderen Größenordnung und in einem anderen Kontext – die Vernichtung der europäischen Juden sind zwei emblematische Manifestationen [eines] Trennungswahns“ (siehe „Die Gesellschaft der Feindschaft“, Seite 90). In diesem Abschnitt kann ich weder Hinweise auf eine Gleichsetzung noch auf eine „Relativierung“ feststellen, die Mbembe von seinen Kritikern vorgeworfen werden. Stattdessen beschreibt Mbembe den Holocaust eindeutig als „extremes Ereignis“ und als Folge eines ganz anderen historischen Kontexts als dem, der zur Apartheid führte. Mbembes These stellt also weniger einen Vergleich als vielmehr eine spekulative Annahme über die Rahmenbedingungen dar, die rassistische Systeme möglich machen. Er widmet sich dabei insbesondere der gemeinsamen Konstruktion eines Feindbildes und den damit einhergehenden Trennungs- und Zerstörungssehnsüchten und -wahnvorstellungen, welche einer solchen Konstruktion zugrunde liegen.

„Stattdessen beschreibt Mbembe den Holocaust eindeutig als ‚extremes Ereignis‘ und als Folge eines ganz anderen historischen Kontexts als dem, der zur Apartheid führte.“

Wenn Mbembe von einer „Gesellschaft der Feindschaft“ spricht, spielt er auf eben diese Konstruktion sowie auf diese Sehnsüchte und Wahnvorstellungen an. Ein solcher Ansatz zur Erklärung des Holocaust (oder der Apartheid) lässt sich sicher anfechten. Dem gegenüber steht die Tatsache, dass sich zahlreiche wissenschaftliche Studien zum Völkermord der Nazis mit eben diesem Thema befassen, nämlich mit der ideologischen Konstruktion des „Juden“ zum Feind der Volksgemeinschaft, den es auszurotten gilt.

Kompetitive versus multidirektionale Erinnerung

Mit dem Fall Mbembe kommen wesentliche Konfliktlinien in der deutschen Gesellschaft zum Vorschein. Die Geschwindigkeit, mit der Mbembe in bestimmten offiziellen Kreisen zur Persona non grata erklärt wurde, macht deutlich, dass in Deutschland die These von der Unvergleichbarkeit des Holocaust nach wie vor eine große Anhängerschaft findet. Sie zeigt zudem, wie ein solcher Konsens über die Erinnerung an das Leid der Juden unter der Naziherrschaft in eine kritiklose Verteidigungshaltung gegenüber Israel und eine Verurteilung palästinenserfreundlicher Standpunkte abgleiten kann.

„Das Deutschland von heute pendelt zwischen zwei Entwürfen eines kulturellen Gedächtnisses: dem vorherrschenden Modell des kompetitiven Erinnerns und dem in der Entstehung begriffenen Modell eines Erinnerns, das ich als ‚multidirektionale Erinnerung‘ bezeichnet habe.“

Unterdessen haben sich zahlreiche Intellektuelle aus Deutschland und anderen Ländern, Juden oder Nicht-Juden, auf Mbembes Seite gestellt. Die Tatsache, dass prominente deutsche Wissenschaftler*innen wie Aleida Assmann und Micha Brumlik zu Mbembes Verteidigung angetreten sind, legt nahe, dass der in Deutschland gängige Konsens inzwischen diskussionswürdig ist. Das Deutschland von heute pendelt zwischen zwei Entwürfen eines kulturellen Gedächtnisses: dem vorherrschenden Modell des kompetitiven Erinnerns und dem in der Entstehung begriffenen Modell eines Erinnerns, das ich als „multidirektionales Erinnern“ bezeichnet habe.
 
Beim Modell des kompetitiven Erinnerns geht es darum, dass kollektive Erinnerungen sich gegenseitig aus dem öffentlichen Raum verdrängen. Betrachtet man kollektive Erinnerungen ausgehend von der Logik des Nullsummenspiels, dann nährt sich dieses Modell aus einer Angst. Es wird befürchtet, dass ein Kontakt zwischen Erinnerungen an den Holocaust und anderen Erinnerungen an Gewalt, beispielsweise durch Vergleiche mit dem Kolonialismus, der Apartheid oder der Besatzung, eine Verharmlosung, Verwässerung oder sogar Leugnung des Holocaust zur Folge haben könnte. Die Hüter der Erinnerung an die Sklaverei und den Kolonialismus bringen oftmals eine ähnliche Sorge zum Ausdruck. Sie fürchten, dass eine Überbetonung des Holocaust andere historische Ereignisse in den Hintergrund drängen könnte. Doch wie funktioniert eigentlich Gedenken? Und, um direkt auf die deutschen Ängste einzugehen: Müssen Vergleiche mit dem Holocaust eine Relativierung und Zurückweisung der Verantwortung zur Folge haben?
 
Meiner Theorie der multidirektionalen Erinnerung liegt die Annahme zugrunde, dass – selbst wenn Erinnerungskulturen Gegenstand von leidenschaftlichen, ja sogar wütenden Konflikten sind – der Vorgang des Erinnerns nicht der Logik des Nullsummenspiels folgt. Vielmehr entwickeln sich alle Erinnerungskulturen dialogisch, durch Anleihen, Aneignungen, Gegenüberstellungen und Wiederholungen anderer Geschichten und anderer Erinnerungstraditionen. Erinnerungskonflikte haben nicht weniger, sondern mehr Erinnerung zur Folge, auch wenn der Bereich der öffentlichen Erinnerung weiterhin viele Gestalten annehmen kann. Zum Teil können wir in der Mbembe-Debatte die bereits bekannte Tatsache beobachten, dass sich mit der Globalisierung des Holocaust-Gedenkens dieses Gedenken auch zu einer Plattform entwickelte, auf der andere Erinnerungen an Gewalterfahrungen zum Ausdruck gebracht werden konnten. Dies bezieht sich insbesondere auf die Zeit der Sklaverei und des Kolonialismus. Doch die heute gängige Form des Holocaust-Gedenkens, die ebenfalls weltweit verbreitet ist, entwickelte sich in der frühen Zeit der Dekolonialisierung und aus einem Dialog mit anderen Geschichten, die sich heute in einem vermeintlichen Wettbewerb gegenüberstehen.
 
Mbembes Schriften beruhen auf einer multidirektionalen Tradition, die sich in den vergangenen siebzig Jahren mit dem Verhältnis zwischen dem Holocaust und der rassistischen Gewalt auseinandersetzte. Einer Gewalt, die in Jahrhunderten der Versklavung, Kolonisierung und Segregation von Menschen aus Afrika und der afrikanischen Diaspora durch Menschen aus Europa und deren Nachkommen zum Ausdruck kam.

„Doch die heute gängige Form des Holocaust-Gedenkens, die ebenfalls weltweit verbreitet ist, entwickelte sich aus in der frühen Zeit der Dekolonialisierung und aus einem Dialog mit anderen Geschichten, die sich heute in einem vermeintlichen Wettbewerb gegenüberstehen.“

Zu dieser Tradition gehört auch Aimé Césaires polemischer Diskurs über den Kolonialismus, in dem er die Brutalität der Nazis als „das Verbrechen gegen den weißen Menschen“ bezeichnet, das „die Anwendung kolonialistischer Praktiken auf Europa [ist], denen bisher nur die Araber Algeriens, die „Kulis“ in Indien und die „Neger“ Afrikas ausgesetzt waren“. Sie kommt auch in den Schriften des afro-amerikanischen Intellektuellen W.E. B. Du Bois zum Ausdruck. Nach einem Besuch der Ruinen des Warschauer Ghettos beschrieb er in sehr bewegenden Worten, wie sich durch diesen Besuch sein Blick auf den Rassismus geändert habe. Während seines Besuchs, so schrieb Du Bois inmitten eines Jim-Crow-Amerika, sei er zu der Erkenntnis gekommen, dass er das Problem der Sklaverei, der Emanzipation und des Kastendenkens in den Vereinigten Staaten nicht länger als eigenständige und einzigartige Erscheinung wahrnehmen könne, wie er es lange Zeit getan habe. Die Revision seines eigenen Verständnisses von der Rasse führte Du Bois jedoch nicht zu der Annahme, dass es keinerlei Unterschiede zwischen verschiedenen Formen des Rassismus gebe. Vielmehr hätte er sich nach eigenen Angaben das, was er 1949 in Warschau sah, in seinen kühnsten Träumen nicht ausmalen können. Weder „eigenständig und einzigartig“ noch „gleichförmig, einheitlich, gleichwertig“ – so lautet die multidirektionale Tradition des komparativen Nachdenkens über rassistische Gewalt, die in der Ära der Dekolonialisierung gepflegt wurde und die in Denkern wie Mbembe weiterlebt.
 
Die Theorie der multidirektionalen Erinnerung setzt nicht voraus, dass alle Ausdrucksformen der öffentlichen Erinnerung dieselbe Gültigkeit haben. Ohne Zweifel benötigen wir eine Ethik des Vergleichs, um die Valenzen multinationaler Ausdrucksformen voneinander abzugrenzen. Einige Vergleiche verdienen eine ernsthafte Betrachtung, andere nicht. Einige Vergleiche haben eine größere Solidarität unter den Opfern zur Folge, andere eine Zunahme von Konflikten. Einige Vergleiche können die Form einer leichtfertigen Gleichsetzung annehmen, obwohl Vergleiche in der Regel Unterschiede in der Art und der Größenordnung berücksichtigen. In diesem Zusammenhang legt die Theorie der multidirektionalen Erinnerung vor allem eines nahe, nämlich dass die derzeit in Deutschland herrschende Angst vor dem Vergleich selbst auf produktive Weise überdacht werden könnte. Deutsche sehen in jeder Form der Gegenüberstellung des Holocaust mit dem Kolonialismus oder der Apartheid eine Gefahr für ihre auf Verantwortung ausgerichtete Identität. Vielleicht könnten sie sich stattdessen mit den vielen anderen Geschichten und Verantwortungen beschäftigen, die unseren Blick streifen, wenn wir innehalten, um uns ernsthaft mit multidirektionalen Vergleichen zu beschäftigen. Zwar gilt die Auseinandersetzung mit dem Holocaust als Prüfstein für die deutsche Identität, und dies sollte auch so bleiben. Doch es ist ebenfalls dringend notwendig, das Vermächtnis des deutschen und europäischen Kolonialismus und den Anteil Deutschlands am strukturellen Rassismus und an wirtschaftlicher Ungleichheit in der heutigen Zeit näher zu beleuchten. Auch angesichts der Tatsache, wie eng die Folgen des Völkermords der Nazis mit der Besetzung von Palästina verknüpft sind, täten die Deutschen gut daran, zu hinterfragen, was ihr Anteil an dieser anhaltenden Ungerechtigkeit sein könnte. Anstatt Mbembe ins Kreuzfeuer zu nehmen, weil er unbequeme Themen aufgreift, könnten all diejenigen unter uns, die mit der Aufarbeitung historischer und aktueller Ungerechtigkeiten befasst sind, seine Schriften als Quelle der Inspiration betrachten.
 

„Auch angesichts der Tatsache, wie eng die Folgen des Völkermords der Nazis mit der Besetzung von Palästina verknüpft sind, täten die Deutschen gut daran, zu hinterfragen, was ihr Anteil an dieser anhaltenden Ungerechtigkeit sein könnte.“



Der österreichisch-belgische Auschwitz-Überlebende Jean Améry stellte 1960 die These auf, dass die richtige Haltung der Deutschen nach dem Holocaust ein „Selbstmisstrauen“ sei. Meines Erachtens ist Amérys Warnung heute wichtiger denn je, gerade weil Deutschland im Bereich der Vergangenheitsaufarbeitung so viel erreicht hat. Deutschland sollte zur Praxis des „Selbstmisstrauens“ zurückkehren, anstatt sich als Schiedsrichter des Antisemitismus und kritikloser Verteidiger der israelischen Politik zu positionieren. Es könnte die Gespenster des Vergleichs willkommen heißen und sich aus dem Blickwinkel der Multidirektionalität mit ihnen auseinandersetzen.

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