Benedikt Feiten
Spurensuche

Ein zwielichtiger Toter, eine leidenschaftliche IT-Forensikerin, eine verbrecherische Leiharbeitsfirma: Benedikt Feiten liefert einen sehr gegenwärtigen Krimi – und eine Gesellschaftsstudie über Ausbeutung und digitale Erinnerungsräume.

Feiten: Leiden Centraal © Voland & Quist Wie der niederländische Bahnhof „Leiden Centraal“ aussieht, weiß wohl kaum jemand genau – Benedikt Feiten macht es möglich: Die letzte Seite seines gleichnamigen Romans präsentiert einen QR-Code, mit dessen Hilfe man (unter anderem) die eigenwillige Ansicht dieses Bahnhofs aufrufen kann. Die gerüstartige Fassade hat Feiten fasziniert, sie strahlt für ihn „eine planhafte Vorläufigkeit aus, die auf unterschiedliche Art zu den drei Figuren im Roman passt“.

Außerdem verweist die schaltplan-ähnliche Konstruktion – aufgegriffen auch in der grafischen Gestaltung des Covers – auf die im Roman ausgestellten Netzwerke, in denen sich die Hauptfiguren durchaus lebensgefährlich verfangen und verstricken.

Strippenzieher

Zum Beispiel Adrian de Jong: Ein smarter Mann mit rumänischen Wurzeln, der im undurchsichtigen und illegal operierenden Kosmos einer Leiharbeitsfirma entscheidende Fäden in der Hand hält. Er ist mitverantwortlich dafür, dass Arbeiter*innen aus Osteuropa mit falschen Versprechungen zum Beispiel nach Deutschland verbracht werden, wo sie unter verheerenden Bedingungen schuften müssen – wir erinnern uns etwa an die skandalösen Verhältnisse in den Schlachtbetrieben des Unternehmers Tönnies, aufgedeckt im Corona-Jahr 2020.

Adrian versucht sich gegen das Unrecht, das er entscheidend mitverursacht, zu immunisieren – panzerhafte Autos, Drogen jeglicher Art und cooles Auftreten sind probate Hilfsmittel. Bloß kein Mitleid, bloß kein Entgegenkommen. Gefühle gestattet er sich fast nur im Umgang mit seinem bei der Exfrau lebenden Sohn, sonst bleibt alles gedeckelt. Aber dann liegt einer der Geschäftsleute, die sich nicht zu schade waren, ihren Reichtum mithilfe der Geschäftsmethoden von Adrian und Co. zu vermehren, tot auf einem kalten Villen-Fliesenboden. Da gerät nicht nur sehr vieles im austarierten System zwischen den Betreibern und den Profiteuren des ausbeuterischen Netzwerks ins Wanken. Auch der stets so kontrolliert wirkende Adrian verliert die Contenance: „(Er) versucht sich davon zu überzeugen, dass es irgendwann wieder besser wird. … Menschen sind gestorben. Davon gibt es kein Zurück. Er wird noch verrückt, hier alleine in seiner Wohnung… Eine hoffnungslose und blanke Verzweiflung. Es wird nie wieder gut.“ Eine nicht ganz falsche Ahnung, wie sich später an unwirtlichen Orten im titelgebenden Leiden herausstellen wird.

Schwesternliebe

Bis zu den letzten Romanseiten immer wieder an Adrians Seite ist Cristina Mitu – auch sie hat einen rumänischen Familienhintergrund, auch sie steht in der Hierarchie der Leiharbeitsfirma recht weit oben. Gründe für diese „Karriere“ sind jedoch nicht Habgier oder Abgebrühtheit, sondern Cristina ist auf der Suche nach ihrer Schwester Loredana, die über das Schleusernetzwerk der Firma nach Deutschland kam – und verschwand. Niemand weiß von dem geheimen Plan, ihre Schwester zu finden, wie Cristina überhaupt als klarsichtige und beherrscht agierende Person geschildert wird. So kauft sie sich nach einer erfolgreich überstandenen Personenkontrolle im Münchner Hauptbahnhof Zigaretten an einem Kiosk: „‘Kompliment, Sie können wirklich gut Deutsch‘, bemerkt die Frau, als Cristina sich verabschiedet. Aber es ist kein Kompliment. Es bedeutet, dass die leichte Färbung ihres Tonfalls auch nach all den Jahren noch zu hören ist … Ich lebe schon lange hier, will sie sagen. Doch Cristina unterdrückt den Impuls. Es ist besser, unterschätzt zu werden.“ Um ihrer Einsamkeit zu entfliehen und ihrer Sehnsucht Ausdruck zu verleihen, schreibt Cristina Nachrichten an ihre Schwester in ihr Mobiltelefon, an eine Nummer, die längst abgemeldet ist. In ihren in ein schwarzes Datenloch gesendeten SMS beschwört sie idyllische Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit im ländlichen Rumänien herauf. Eine Antwort erhält sie nie. Und irgendwann kommt Cristina nicht mehr um die bittere Erkenntnis herum, dass es für die Schwestern zwar eine – vielleicht verklärte – Vergangenheit gab, aber nie eine gemeinsame Zukunft geben wird: „Noch einmal die feste Umklammerung. Noch einmal Wange an Wange. ‚Ich muss meinen eigenen Weg gehen. Danke, dass du mich retten wolltest.‘“

Die Sprache der Daten

Vor allem lernen die Leser*innen schließlich Valerie Stetter kennen, eine von Feiten faszinierend gezeichnete IT-Forensikerin bei der Münchner Polizei. Was das genau ist, erklärt sie einem One-Night-Stand, den sie – natürlich – via Dating-App aufgetan hat: „Alles, was mit der Sicherung von digitalem Beweismaterial zu tun hat.“ „Also Polizistin?“ … „Hast du dann auch eine Waffe?“ „Ja. Je nach Lage unterstützen wir auch vor Ort. Kommt aber nicht oft vor.“ Kommt hier dann doch irgendwann vor – wobei es sich eher um einen Alleingang vonseiten Valeries handelt, als um eine wirkliche Unterstützung der Polizei-Kolleg*innen.

Bis es soweit ist, hat Valerie sich tief in die Datenspuren und damit in das kriminelle Gebaren der Leiharbeitsfirma und ihrer Protagonist*innen hineingegraben. Dies tut sie mit geradezu eskapistischer Leidenschaft: „Jetzt spielt nichts mehr eine Rolle, keine Dates, keine Termine, nicht ihr Bruder, keine gescheiterten Pläne, nichts, was sie grübeln lässt. Jetzt sind es nur noch sie, die beiden Bildschirme vor ihr, das Gerät und die Daten.“ Die klassische Krimifrage: „Wo waren Sie gestern um 8 Uhr?“ ist für Valerie obsolet. Sie liest Bewegungen jeglicher Art aus den diversen Endgeräten heraus – und lernt ihr Gegenüber dank einer mittlerweile fast ausschließlich digital stattfindenden zwischenmenschlichen Kommunikation in intimsten Facetten kennen, was sie emotional gelegentlich so sehr beschäftigt, dass Berufliches und Privates ineinander übergehen.

Und weil sie so gut ist in dem was sie tut, weil sie Adrian und seine Hintermänner unbedingt überführen will, kann sie via Datennetz bald die Spuren und Taten von ihm und Cristina entschlüsseln und heftet sich an ihre Fersen – digital wie analog. Es kommt sogar zu realen Begegnungen zwischen ihr und Cristina – sie haben sich gegenseitig etwas anzubieten, wovon die jeweils andere kurzzeitig profitiert.

Schließlich der Showdown in Leiden – ein Ortsname, der zu Wortspielen geradezu einlädt, verweist er doch auf die Verlorenheit der Figuren, die zwar alle ihr Handwerk perfekt beherrschen, aber dennoch am Ende auf verlorenem Posten stehen und ihr Glück nicht wirklich finden. Die in einer Welt leben, in der alles geplant, durchorganisiert und vorhersehbar erscheint und die zudem einen Preis für ihr ausbeuterisches System fordert, der schon immer viel zu hoch gewesen ist. Eine Flucht in digitale Erinnerungs- und Sehnsuchtsräume kann da nur vorübergehend Abhilfe schaffen – und was sie mit dem tatsächlich gelebten Leben zu tun haben, bleibt eine offene Frage.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Benedikt Feiten: Leiden Centraal
Berlin: Voland & Quist, 2022. 320 S.
ISBN: 978-3-86391-320-5
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