Erinnerungspolitik
Die Ambivalenz der Aufarbeitung

Rassismus – Im Zeichen eines neuen Patriotismus: Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland
Im Zeichen eines neuen Patriotismus: Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland | Foto (Detail): Kay Nietfeld © picture alliance / dpa

Deutschland und die Deutschen haben während des Nationalsozialismus bis dahin ungesehenes Leid über die Welt gebracht. Der Umgang mit dieser rassistischen Vergangenheit gilt als beispielhaft für eine gelungene Aufarbeitung. Doch entspricht das wirklich der Realität? Vom Umgang mit Nationalsozialismus und Holocaust in den beiden deutschen Gesellschaften nach 1945.

Von Anna Delius

In vielen Ländern der Welt gilt Deutschland als Vorbild in Sachen Aufarbeitung der eigenen gewalttätigen und diktatorischen Vergangenheit. Übersetzer*innen mühen sich in den unterschiedlichsten Sprachen ab, das deutsche Wortungetüm „Vergangenheitsbewältigung“ in ihre jeweiligen Muttersprachen zu übertragen – und entscheiden sich oft genug dafür, es als kursiv geschriebenes deutsches Lehnwort zu übernehmen. Dabei wird häufig angemahnt, dass man eine solche Vergangenheit nicht bewältigen könne. Doch welche Rolle spielten der Nationalsozialismus, der Holocaust und der Zweite Weltkrieg in Ost- und Westdeutschland? Und vor allem: War der Umgang mit der geschichtlichen Verantwortung wirklich so vorbildlich?

BRD: Die Täter*innen sprechen sich Vergebung aus

Bereits im Jahr 1959 kritisierte der Philosoph Theodor W. Adorno den Umgang seiner Mitbürger*innen mit dem Nationalsozialismus: Die Aufarbeitung der Vergangenheit sei zu einem Schlagwort geworden. Den meisten ginge es nicht darum, diese Vergangenheit wirklich aufzuarbeiten, sondern man wolle einen Schlussstrich ziehen. Denjenigen, die von Vergeben und Vergessen sprachen, stünde diese Haltung überhaupt nicht zu, da sie nicht zu denjenigen gehörten, die Unrecht erlitten hätten.

Damit hat der Zeitgenosse Adorno die Atmosphäre im Nachkriegswestdeutschland sehr treffend beschrieben. Zwar wurde nicht über die Vergangenheit geschwiegen, jedoch standen in der Erinnerung die eigenen Opfer im Vordergrund. In offiziellen Reden und privaten Erinnerungen wurden Bombenkrieg und Hunger betont, der Genozid an den europäischen Juden oder auch der Vernichtungskrieg im Osten spielten hingegen keine große Rolle und schienen mit Beendigung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse 1949 abgehakt zu sein. Die Verantwortung für die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen wurde einer kleinen Clique von Parteigänger*innen zugeschrieben und eine „Kollektivschuld“ der Deutschen vehement von Politik und Bevölkerung abgelehnt. Viele ehemalige Täter*innen hatten gesellschaftliche Schlüsselpositionen in Bildung, Justiz, Gesundheitswesen und Verwaltung inne.

DDR: Kommunist*innen gegen Faschist*innen

Mit dem aufkeimenden Kalten Krieg wurde West-Deutschland zum Verbündeten und bald auch schon zum Teil des politischen „Westens“. Die demokratische Reeducation der Westdeutschen brachte auch einen starken Anti-Kommunismus mit sich, der in Deutschland auf fruchtbaren Boden fiel, da er von der eigenen Vergangenheit ablenkte. 

In der DDR hingegen war der Antifaschismus einer der wichtigsten Gründungsmythen. Die Erinnerung an den kommunistischen Widerstand im Nationalsozialismus lieferte die Begründung für ein Staatsbewusstsein, nach welchem die DDR die positiven Elemente der deutschen Geschichte weiterführte. Tatsächlich gehörten zur DDR-Führung zahlreiche ehemalige deutsche Kommunisten, die während des Nationalsozialismus im Exil gewesen waren. Dies bedeutete aber nicht, dass alle Spitzenfunktionen frei von ehemaligen NS-Täter*innen waren.

Zur sozialistischen Erziehung gehörte zwar ein antifaschistisches Programm, das Werte wie Gleichheit und Frieden propagierte, doch es appellierte nicht an die eigene historische Verantwortung der Bevölkerung als Nachfahren der Täter*innen. Vielmehr wurden in der DDR-Geschichtspolitik deutsche Kommunist*innen verehrt, vor allem der von Nationalsozialisten ermordete Ernst Thälmann, der Namenspatron für die DDR-Jugendorganisation der „Pioniere“ war. In der offiziellen Geschichtsdarstellung wurde der Zweite Weltkrieg in Anlehnung an die sowjetische Perspektive als heldenhafter Kampf zwischen Faschismus und Kommunismus beschrieben.

Ähnlich wie in dem auf das eigene Leid konzentrierten Westdeutschland spielte die Ermordung der europäischen Juden in diesem ebenfalls verengten Narrativ keine gesonderte Rolle. Sie wurden in der offiziellen Erinnerung zu den Opfern des Faschismus gezählt, wie auch die Millionen sowjetischen Toten. Auch wenn es anfangs noch vereinzelt Prozesse gegen ehemalige Täter*innen gab: Es wurde (wie auch im Westen) eine klare Linie zwischen „Nazis“ und übrigen Deutschen gezogen.

Globalisierung der Holocaust-Erinnerung

Die 1960er- und 1970er-Jahre brachten eine klare Veränderung. 1961 stand der ehemalige SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht – ein Thema für die gesamte Weltöffentlichkeit. Große Aufmerksamkeit erhielten auch die Frankfurter Auschwitzprozesse ab 1963. Gegen viele staatliche und gesellschaftliche Widerstände initiiert vom engagierten hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der selbst während der NS-Zeit als Jude verfolgt wurde, zeigten sie, wie wichtig die juristische Aufarbeitung des Nationalsozialismus war und ist: Nun musste jede*r Westdeutsche wissen, was in Auschwitz passiert war. Es ist daher kein Zufall, dass die Unterstützer*innen der transnationalen politischen Proteste, die gemeinhin mit dem Jahr 1968 assoziiert werden, in Deutschland die Verstrickung der eigenen Elterngeneration während der nationalsozialistischen Diktatur thematisierten. In den 1970er-Jahren kam mit der weltweiten Ausstrahlung der US-amerikanischen TV-Serie Holocaust die Geschichte der fiktiven Familie Weiß in alle (west-)deutschen Wohnzimmer und mit ihr auch ein neues Wort für den Völkermord an den Juden, das sich auch global etablierte. Die knappe Formel des „Nie wieder!“, die damals entstand, mahnt bis heute weltweit zum Lernen aus der Geschichte.

1985 sprach Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer historischen Rede vom 8. Mai, dem Tag der Kapitulation Deutschlands, als „Tag der Befreiung“. Er erinnerte auch an die historische Verantwortung, die damit verbunden sei. Diese kritische Erinnerung stand im Gegensatz zu der Symbolpolitik des Bundeskanzlers. Helmut Kohl vereinte Täter*innen und Opfer in seinem Gedenken, wie etwa bei der Gestaltung der zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik, der „Neuen Wache“ in Berlin. Diese ist den „Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft gewidmet“, in ihrer Mitte steht jedoch eine mit christlicher Symbolik aufgeladene Skulptur einer Pietà von Käthe Kollwitz. Kritische Stimmen fragten damals, ob jüdische Menschen somit aus diesem Gedenken ausgeschlossen seien und stattdessen deutsche Soldaten im Zentrum stünden.
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