Filmprogramm Gestaltung der Vergangenheit: Past as Process

Shaping the Past: Past as Process © Goethe-Institut

Mo, 21.06.2021 –
So, 04.07.2021

Online

Ein von Karina Griffith kuratiertes Programm

Shaping the Past: Past as Process - Long Banner

Statement der Kuratorin:

„… Das bedeutet, dass Geschichtskonzepte immer umstritten, immer wandelbar sind, bestimmt vom Jetzt ebenso wie sie unser Verständnis dieses Jetzt formen.“

- Fatima El-Tayeb, Undeutsch (31)
Past as Process - Eventive
Das Programm Past as Process umfasst neun Filme, die die Vorstellung von einer feststehenden Geschichte hinterfragen. Die Geschichte hat keine bestimmte Erscheinung, sondern sie ist ein Prozess der Formung. Dieser Prozess der Gestaltung der Vergangenheit ist plastisch, künstlerisch und kreativ, weshalb sich der Film so gut für unser Verständnis von Zeit und Erinnerung eignet.

Als Wissensgefüge baut die Vergangenheit auf einem Fundament von Gegenwart und Zukunft auf; all unsere vergangenheitsorientierten Erkenntnistheorien sind auf wankendem Grund abgesteckt. Dieses Programm setzt dort an, wo das Erzählen von und Wissen über Geschichte mit Zeit und Raum verbunden sind. Sobald wir Geschichte aufschreiben, sie in einem Buch oder einer Sprache oder einer Perspektive festhalten, bedingt die Gegenwartsform einen Bruch. Wie ein verziertes Tongefäß, das im Brennofen in hundert Stücke zerspringt, sind es die winzigen Blasen im Ton, die Unstimmigkeiten im Aufbau, die die Form zerstören.

Die ausgewählten Filme sind die Scherben im Brennofen. Jeder ist Teil einer größeren Erzählung und gleichzeitig ein Ganzes. Die Filme in diesem Programm sprengen nicht nur die Grenzen der inhaltlichen Darstellung, sondern auch der Textform, der Ästhetik und des Stils. Die Animationsfilme Memory Boxes (2019) und Home? (2018) veranschaulichen effektive Erinnerungsbewahrung und kennzeichnen das dominierende visuelle Narrativ, um ihnen buchstäblich eine andere Lesart aufzuprägen. Roots Germania (2007) und Roan (2019) ergründen die Vorstellung von einer „Person als Denkmal“ in der Familie. Die Dokumentarfilme Duvarlar – Mauern – Walls (2000) und Past, Present, Tense (2015), beide in Berlin gedreht, besinnen sich darauf, mündlich erzählter Geschichte aktiv zuzuhören. Die musikalische Form von Zurück auf LOS! (2000) überführt das Erzählen ins Fantastische, um die gefühlsbedingten Aspekte zu vermitteln, die nur durch Klänge ausgelöst werden. Jeder Film visualisiert Erinnerung, Vergangenheit und Geschichte in Formen, die sich verlagern, bewegen und in Veränderung sind: eine Großmutter, ein Apothekerschrank, Coverversionen von ostdeutschen Schlagern. In vier Kategorien unterteilt, demonstrieren die Filme die Kunst der Vergangenheitsgestaltung durch ihre Form (z. B. Animation), ihre Herangehensweise (spekulativ und kollektiv) und ihre ungewöhnlichen Archive (Fokus auf die Familie).

Diese neun Filme setzen verschiedene Erkenntnisprozesse in Gang und zeigen, dass die Geschichte in der Gegenwart Gestalt annimmt, aber wir uns auch von der Vergangenheit lösen, um uns eine Vorstellung von der Zukunft zu machen. Sie demonstrieren, dass die Vergangenheit nicht etwas ist, worauf wir zurückblicken oder das wir sicher in einem Regal verstauen. Die Vergangenheit ist die Zeit an der Töpferscheibe, die sich immerzu dreht und unablässig unsere Gegenwart und Zukunft gestaltet.

Past as Process -  Part I Cover

21. - 24. Juni 2021
Teil I - Die Vergangenheit neuzeichnen
Mit Animationen und farbigen Untertiteln reichern diese Filme Erzählungen über die Vergangenheit mit subjektiven Sichtweisen an.


Memory Boxes (2019) Regie: Hamze Bytyçi
Um sich vor den Traumata der Vergangenheit zu schützen, verdrängte Zoni Weisz alle Erinnerungen an seine Familie. Nicht nur die schrecklichen Erinnerungen an ihre Deportation nach Auschwitz und die zurückgelassene leere Wohnung, sondern auch die schönen Erinnerungen: an den Mantel seiner kleinen Schwester, den Wald und den Wohnwagen seiner Tante. Basierend auf Weisz' Memoiren Der vergessene Holocaust visualisiert dieser kurze Animationsfilm, der von RomaTrial e.V. und der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas produziert wurde, die emotionale Seite von Weisz' ergreifendem Weg vom niederländischen Sinto und Holocaust-Überlebenden zum Aktivisten.

Home? (2018) Regie: Elliot Blue
Blue zieht von der deutschen Kleinstadt in die Hauptstadt Berlin. Anhand von Bewusstseinsströmen zu Blues Tagebuch und handgezeichneten Animationen widmet sich der kurze Dokumentarfilm dem, was außerhalb des Rahmens liegt: die koloniale Vergangenheit und der Kontext Schwarzen Lebens in Europa. Eine humorvolle und mitreißende, unerwiderte Liebeserklärung an Deutschland.

Duvarlar – Mauern – Walls (1991) Regie: Can Candan
Duvarlar – Mauern – Walls entstand nur zwei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und gestaltet die Vergangenheit durch mündliche Erzählungen, die die ganze Bandbreite der Berichte über die Ankunft in Deutschland offenbaren. Anhand von Interviews erzählt der Dokumentarfilm bemerkenswerte Geschichten darüber, wie sich türkische Intellektuelle, Künstler*innen und Gastarbeiter*innen in Deutschland eine Heimat geschaffen haben und einen bedeutenden Beitrag zur deutschen Wirtschaft und Kultur leisten. Candans kontroverse persönliche Betrachtungen zu der Frage, wie aus Ausländer*innen Einwander*innen werden, sowie die farbigen Untertitel unterstreichen die einfühlsamen Perspektiven dieses zeitlosen Films.
Die Vergangenheit neuzeichnen Past as Process: Pt. II Cover

24. - 27. Juni 2021
Teil II - Spekulative Geschichtsschreibung
Diese Filme erzählen nicht nur Geschichte, sondern werfen Fragen auf und fügen neue Charaktere in klassische Geschichten ein, um das auf den Prüfstand zu stellen, was wir über deutsche Legenden und darüber, wer zur Legende wird, zu wissen glauben.


Gräfin Sophia Hatun (1997) Regie: Ayşe Polat
Polats Film schildert eine Begegnung zwischen einem türkischen Mann und einer deutschen Frau, die vor dem Wirtschaftswunder der 1950er Jahre stattfand. Gräfin Sophia Dorothea von Wilhelmsburg wurde Ende des 17. Jahrhunderts von ihrem Mann auf ein Schloss verbannt, weil sie sich in einen anderen verliebt hatte. Polat zeichnet eine komplexe Beziehung zu ihrem türkischen Diener, einem Gefangenen der Osmanenkriege. Die zyklische Natur der Geschichte wird von Drehbuch und Kameraführung aufgenommen. Der Bruch in der Beziehung zwischen der Gräfin und ihrem stillen Diener beginnt nicht nur an derselben Stelle, an der er endet, sondern die Spirale der Darstellung hinterfragt auch den Lauf der Zeit und deren vermeintliche Linearität.

Roots Germania (2007) Regie: Mo Asumang
Als eine deutsche Neonazi-Band die Textzeile „Diese Kugel ist für dich, Mo Asumang!“ singt, macht sich die Journalistin und Fernsehmoderatorin daran, ihre Ängste zu überwinden und die Wurzeln des Rassismus in der deutschen Kultur zu erforschen. Mit Hartnäckigkeit und Mut befragt Asumang Neonazis und nimmt schließlich den Rat von einem von ihnen wörtlich: Sie geht dahin zurück, wo sie hergekommen ist (nein, nicht in ihren Geburtsort Kassel, sondern in die Heimat ihres Vaters – Ghana). Asumang verwandelt die Provokation in eine Chance und trifft sich mit ihrer Familie, um mehr über ihr Akan-Erbe zu erfahren. Statt nach Unterschieden zu suchen, findet Asumang Gemeinsamkeiten zwischen der deutschen und der ghanaischen Kultur. Roots Germania erzählt eine spekulative Geschichte Deutschlands, in der Fremdenfeindlichkeit und Hass im Widerspruch zum Deutschsein stehen.
Spekulative Geschichtsschreibung Past as Process: Pt. III Cover
27.- 30. Juni 2021
Teil III - Zuhause ist, wo die Geschichte ist
Diese Filme beschreiben sehr persönliche Begegnungen mit der Familie – sowohl derjenigen, in die wir hineingeboren werden, als auch derjenigen, die wir im Laufe des Lebens durch den Aufbau von engen Beziehungen erwerben. Sie zeigenwie sie ermächtigende, neue Versionen unseres vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Selbst schreiben können.


Roan (2019) Regie: Thuy Trang Nguyen
In einer warmen Hochhauswohnung in Berlin-Reinickendorf entfalten sich eine zärtliche Beziehung und vertrauliche Momente zwischen einer vietnamesischen Großmutter und ihrer Enkelin. Der kurze Dokumentarfilm zeigt durch unaufgeregte Details, was an die deutsche Generation weitergegeben wurde und was zurückgeblieben ist. Eine bezaubernde Erinnerung daran, wie das Erbe in den Menschen bewahrt wird, die uns am Herzen liegen.

Die 360°-Kamerafahrt, die sich hinunter zu einer grauen Kreuzung windet, spiegelt die Herangehensweise an Zeit und Erzählprinzip in diesem queeren Musical wider. Im Gegensatz zur Einbahnstraße im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, in der der aufstrebende Sänger und ewige Partyboy Sam lebt, bewegt sich die Zeit in dieser Tragigkomödie in alle Richtungen. Eine positive HIV-Diagnose lässt die Vergangenheit allgegenwärtig werden, und die Familie aus Freunden, die Sam im Deutschland der Nachwendezeit um sich geschart hat, gibt dem Leben in der Gegenwart allen Widrigkeiten zum Trotz den Vorzug.

In diesem Film werden Wörter verwendet, die die Zuschauer*innen als verstörend/verletzend empfinden könnten.
Zuhause ist, wo die Geschichte ist Past as Process, Pt. IV: Die „einzige Geschichte“ umschreiben
1. - 4. Juli 2021
Teil IV - Die „einzige Geschichte“ umschreiben
Dokumentarfilme, die Geschichte und Vergangenheit verstehen, sind pluralistisch.


Past, Present, Tense (2015) Regie: Christa Joo Hyun D'Angelo
Überwiegend im Osten Deutschlands sozialisierte Interviewpartner*innen blicken zurück auf die deutsche Wiedervereinigung und die unmittelbar darauffolgende feindselige Zeit, in der rassistische Brandanschläge in Rostock und Ausschreitungen an der Tagesordnung waren. Die engagierte Diskussion kreist um die Frage nach der deutschen Identität und wem dabei mit der Fixierung auf das Weißsein gedient ist. Wie es charakteristisch für D'Angelos Arbeit ist, bleiben die Gespräche fließend, vertraulich und persönlich, während sie gleichzeitig Bände über das Vermächtnis der kolonialen Vergangenheit und die Nachteile einer kulturellen Amnesie sprechen.

Born in Evin (2019) Regie: Maryam Zaree
Humor mischt sich nahtlos mit Trauer in diesem persönlichen Dokumentarfilm der Schauspielerin Maryam Zaree, die mit ihrer Mutter als politischer Flüchtling aus dem Iran nach Deutschland kam. Zaree sucht nach Antworten auf ihre wiederkehrenden Albträume, ihre Angst und das Schweigen in ihrer Familie über die Inhaftierung im politischen Evin-Gefängnis. Die dramatischen und ergreifendenBildmotive des Schwebens und Fliegens dienen als wirkungsvolle Metaphern für das Loslassen. Durch den kollektiven Prozess des Nachfragens findet Zaree einen Weg loszulassen, nicht ihre Erinnerungen, sondern die Vorstellung, dass diese die ganze Wahrheit über ihre Geburt und frühe Kindheit in der Gefangenschaft bergen.
Die "einzige Geschichte" umschreiben

Karina Griffith
Berlin
​Mai 2021

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