Interview mit Brigitte Baptiste  „Nichts ist queerer als die Natur“

Buprestis Sanguinea - Yamina de efedras
Buprestis Sanguinea, Yamina de efedras © Erika Torres, 2019

Für Brigitte Baptiste, Biologin, ehemalige Direktorin des kolumbianischen Forschungsinstituts für biologische Ressourcen Alexander von Humboldt und Rektorin der Universität EAN, tickt die Natur nicht wie ein starres Uhrwerk. Vielmehr lehre sie uns, „das Eigenartige“ in Schutz zu nehmen, um sich an Herausforderungen wie den Klimawandel anpassen zu können.

In der Welt der Wissenschaft und Forschung wird Brigitte Baptiste als eine der kompetentesten Biologinnen des Landes auf dem Gebiet der Biodiversität geschätzt. Außerdem ist sie transsexuell und bewegt sich wie ein Fisch im Wasser zwischen den Feldern der Wissenschaft, Nachhaltigkeit und Kultur. Baptiste hat sich mit dem Verhältnis der Natur zum Queeren beschäftigt, einer Theorie, die scheinbar unerschütterliche Gesellschaftsnormen wie den Zwang zur Heterosexualität – auch „Heteronormativität“ genannt – oder das monogame Leben in Frage stellt.
 
Das Queere, im Sinne des „Eigenartigen“, „Verqueren“ oder „Sonderbaren“, zieht auch Identitätskategorien wie „gay“, „trans“, „heterosexuell“, „Mann“ oder „Frau“ in Zweifel, da sie eher zur Regulierung und Kontrolle auferlegt würden, als zu befreien. Die Queer-Theorie ist, so Baptiste, ein Wissensraum, der im Augenwinkel oder zwischen den Schatten der Gewissheiten aufscheint.
 
Frau Baptiste, was ist für Sie „Natur“?
 
„Natur“ ist alles. Genauso wie Alexander von Humboldt denke ich, dass das Universum Natur ist und wir ein Teil dieses lebendigen Ganzen sind, das uns existieren lässt. Dazu gehört auch die Kultur. Alles ist miteinander verbunden.
 
Auf der TEDx-Konferenz in Rio de la Plata 2018 sagten Sie: „Nichts ist queerer als die Natur.“ Was meinten Sie damit?
 
Nichts ist queerer als die Natur, weil sie ständig Unterschiede erzeugt, ja sie unterstützt sogar das Auftauchen des Sonderbaren oder des Anomalen und experimentiert die ganze Zeit. Es gibt einzigartige Verhaltensweisen und außergewöhnliche Phänomene unter der Vielfalt an Vögeln, Pflanzen und Lebewesen, die wir gar nicht bemerken, weil wir sie durch die Brille der Normalität, der Ähnlichkeit, der Homogenität betrachten.
 
Die Queer-Theorie regt dazu an, nicht mehr davon auszugehen, die Welt sei „normal“, sondern zu begreifen, dass sie in der Tat sonderbar ist, damit wir uns an Herausforderungen wie den Klimawandel anpassen können. Das Wichtigste, was uns die Natur lehrt, ist, das Anomale in Schutz zu nehmen, weil die Evolution genau dadurch Antworten gefunden hat.
 
Welchen Ansatz verfolgt die queere Ökologie?
 
Queer ist alles, was sich nicht als „normal“ einordnen lässt. Es ist der Punkt, an dem jeder wählt, zu existieren und sich mit der Welt in Beziehung zu setzen. Eigentlich ist jede Ökologie queer, weil immer eine Position in der Welt definiert werden muss. Die Idee einer „queeren Ökologie“, die lustvoll Abweichungen zulässt und weniger strenge Darstellungen bietet, kommt aus der Literaturtheorie und legt besonderen Wert auf künstlerische Innovation und Kreativität. Sie vermischt die organischen Identitäten von Tieren und Pflanzen mit der Konstruktion kultureller oder persönlicher Identitäten, wo Beziehungen eine grundlegende Rolle spielen: Veränderung kommt von der Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen.
 
Manche sprechen von „Männchen“ und „Weibchen“ als feste Kategorien und wissen gar nicht, dass Spezies wie der Clownfisch, wenn es zu viele Männchen oder Weibchen gibt, das andere Geschlecht annehmen können. Wie häufig kommt so ein Diversitätsspiel in der Natur vor?
 
Die Natur spielt überall mit der Diversität. Pflanzen zum Beispiel sind entweder Zwitter oder wechseln das Geschlecht oder bestäuben sich selbst. Die sexuelle Rekombination ist wahrscheinlich die beste Erfindung der Natur, um Anpassungsfähigkeit zu ermöglichen. Ohne diese Fähigkeit, die Gene zu mischen, um neue Modelle herzustellen, wäre das Leben längst ausgelöscht oder sehr einfach.
 
Die Möglichkeit, männlich oder weiblich zu sein, wird durch eine Reihe von Genen reguliert, die, wie beim Clownfisch, erkennen können, dass es zu viele Weibchen oder Männchen gibt und dass einer die andere Rolle spielen muss. Es liegt etwas in der Luft oder es werden Hormone ausgestoßen, die anzeigen: „Werde vom Männchen zum Weibchen und aktiviere die Organe, die schon angelegt sind, um diese Rolle zu spielen.“ Solche Spannungen im Umfeld nehmen auch Menschen wahr. Deshalb können wir, auch wenn wir genetische Anlagen in uns tragen, die uns irgendwie definieren, durch unsere Beziehung zur Welt unser Verhalten ändern.
 
Die Queer-Theorie möchte von dem Gedanken abkommen, dass die Welt wie ein starres Uhrwerk funktioniert. Ein Beweis ist der Klimawandel. Was für Auswirkungen hat die Annahme, die Welt sei queer, auf die Natur und auf unsere Beziehung zu ihr?
 
Die Welt wandelt sich stets zu etwas Neuartigem oder Unerwartetem. Das ist die Evolution. Aus den Fischen haben sich Amphibien entwickelt, aus den Amphibien Reptilien und aus den Reptilien Säugetiere. Ohne Zweifel war die jeweils nächste Entwicklungsstufe für jede dieser Arten anomal. Stellen wir uns ein Gespräch unter Fischen vor, die versuchen zu verstehen, wie es bloß einen Frosch geben kann. Dabei ist er nichts Anomales, das beseitigt werden muss. Im Gegenteil, solche Veränderungen haben die Welt zu dem gemacht, was sie ist. Seltsam ist, wenn man denkt, die Welt verändere sich nicht.
 
Was in der Natur als „seltsam“ angesehen werden kann, ist notwendig, um den Zusammenbruch ganzer Systeme zu verhindern. Inwiefern trägt die Diversität zum Überleben der Lebewesen bei?
 
Vor allem trägt sie mit Information und innovativen Strategien dazu bei. Individuen, die vom Durchschnitt oder der Norm abweichen, sind Träger überlebensnotwendiger Codes, wenn sich die Umweltbedingungen verändern. Durchschnittliche Eigenschaften sind nicht formbar genug, um sich einer drastischen Umweltveränderung anzupassen. Was die Evolution am wenigsten interessiert, ist „Normalität“, weil es da nicht ums Überleben geht, wie etwa bei immer weiter ansteigenden Temperaturen im Sommer und immer weiter sinkenden Temperaturen im Winter. Anomalien ermöglichen die Evolution. Das Eigenartige muss ins „Normale“ eingefügt werden, um Stabilität zu gewinnen und die Systeme vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Das Ökosystem passt sich den Veränderungen an. Die Natur ist queer, sie tickt nicht wie ein starres Uhrwerk, sondern legt lauter Frühstarts hin.
 
Viele Menschen halten die Diversität für eine Gefahr und nicht das Verharren im Machismus und im Zwang zur Heterosexualität. Wie bedeutend ist die Diversität für den stetigen Wandel der Welt?
 
Jeder evolutive oder transformative Schritt des Bestehenden schafft neue Unterschiede. Und diese Unterschiede fügen sich zum Gedächtnis der gesamten Evolutionsgeschichte, die uns Hinweise liefern wird, wie wir den Klimawandel überleben, den wir selbst verursachen. Die Diversität der Denk- und Ausdruckweisen ist grundlegend, damit wir uns an historische Veränderungen anpassen können. Die Diversität ist ein Raum, in dem der stetige Wandel der Welt Anerkennung findet, und ein Beispiel dafür, wie sich das Leben immer erneuern muss, um eine Zukunft zu haben.
 
Gegner der LGTBI-Rechte behaupten, Homosexualität und Transsexualität seien unnatürlich. Wie sollten wir das Wort „natürlich“ verstehen?
 
Homosexualität und andere Verhaltensweisen, die manche für unnormal halten, kommen bei allen Arten vor. Einige Exemplare der Wachspalme, des Nationalbaums von Kolumbien, sind transsexuell. Trotzdem sprechen viele Menschen von „Unnatürlichkeit“, um die Existenz von LGBTI-Menschen in Frage zu stellen. Dabei müsste man zurückfragen: Wie natürlich ist es denn, Kleidung zu tragen, auf einer Straße zu laufen, aus Dosen zu essen oder zölibatär zu leben?

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