Humboldt und das Kino  Reise mit Rückkehr

Raya de río © Érika Torres, 2019.

Koloniale Repräsentationsformen beeinflussen noch immer die Vor- und Darstellungsweise unserer selbst. Sie haben aber auch den Weg freigegeben für den Bruch, den Zusammenstoß, die Auseinandersetzung mit dem kaum zu fassenden Identitätsbegriff.

Dieser Text erschien erstmals in der Ausgabe Nr. 163 der kolumbianischen Revista Arcadia, die dem 250. Geburtstag Alexander von Humboldts gewidmet ist.
 
Reisen heißt: Unterwegssein, Begegnungen und die Möglichkeit, andere Denkweisen zu verstehen. Und in der Landschaft offenbart sich das komplexe Wechselverhältnis zwischen der Natur und der Art und Weise, wie der Mensch in ihr lebt, sie bewohnt, beeinflusst, verändert. Diese Prinzipien, die zusammengenommen zur Erkenntnis führen, ziehen sich als rote Fäden durch Alexander von Humboldts Reisetagebücher, insbesondere die Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents. Mit diesem Text, an dem er am längsten gearbeitet hatte, legte der deutsche Wissenschaftler eine Neudefinition Amerikas vor, des amerikanischen Territoriums und der amerikanischen Identität. Zwar begab er sich damit in ein ständiges Spannungsverhältnis zu den Institutionen der Macht und ihrem Vorgehen, war sich aber dennoch deren notwendiger Präsenz als Geldgeber für die wissenschaftliche und kulturelle Entwicklung bewusst.
 
Anlässlich des 250. Geburtstags des deutschen Wissenschaftlers und Denkers beauftragte das Goethe-Institut zwei Kuratoren damit, Filme, die um seine Persönlichkeit und Ideen kreisen, in einem Sonderprogramm zusammenzustellen.
 
Stephan Ahrens aus Deutschland und ich mit unseren unterschiedlichen Perspektiven stellten uns also der gemeinsamen Aufgabe, Grundlinien herauszufiltern, um zwischen den Aufzeichnungen Humboldts und dem Kino eine Brücke zu schlagen. Reisen und die Suche nach Schönheit, Landschaft als lebendige, in Veränderung befindliche Gegebenheit, Menschen und Kulturen als konstitutiver und transformatorischer Bestandteil von Landschaft und Umwelt stellten sich als einige dieser Linien heraus, die zu einem inhaltlich und formal vielseitigen Programm führten. Unter den elf ausgewählten Werken richten vier ihr ganz besonderes Augenmerk auf die Reise  mit Rückkehr, die Betrachtung im Konvexspiegel, der den Blick und den Diskurs zerlegt und neu zusammengesetzt zurückwirft.
 
Das Reisen war und ist dem Kino ein ständiger Antrieb. Viele Filmemacher haben das lateinamerikanische Territorium und die lateinamerikanische Identität aus Optiken dargestellt, die sich auf mehrfacher Ebene mit den Aufzeichnungen Humboldts und anderer Reisender seiner Zeit überlappen und ein gemeinsames Denken konstituieren. Humboldts Reise zu einer Zeit der „Entdeckungen“ war die Neulektüre eines zwar kolonisierten, nicht aber „entdeckten“ Kontinents. Das Unternehmen des deutschen Wissenschaftlers stellte seine eigenen Beweggründe infrage, da er Ideen und Debatten anstieß, die im Widerspruch standen zum Umgang der Spanischen Krone – Geldgeberin des Projektes – mit dem amerikanischen Territorium. Seine Reise steckte damit voller Dichotomien, eine Reise hin zum seiner Auffassung nach Unbekannten, das erschlossen werden musste. Doch gleichzeitig leitete ihn das ständige Bewusstsein, dass dieses Territorium er- und in gewisser Weise ferngehalten werden musste von der „westlichen“ Welt mit ihren traditionellen Machtstrukturen, die für den Erhalt der Schätze dieses neuen Kontinents eine Bedrohung darstellten.
 
Diese Reise mit Rückkehr entspringt nicht mehr als dem menschlichen Drang nach Wissen und vor allem eigenständigem Verstehen. Und das Kino ist nicht mehr als ein weiterer möglicher Weg, den so schwer greifbaren Identitätsbegriff zu definieren. Das Reisen, Motor für Entdeckungen, erzählt oft vielmehr eine introspektive als eine historische Geschichte und wirft unseren eigenen, großenteils ebenfalls kolonisierten Blick auf uns zurück. Durch Fortbewegung und Ortswechsel versuchen wir einen eigenen Ton, eine eigene Form des Sehens zu finden.
 
Was wir als Roadmovie kennen, ist nicht nur ein Filmgenre, sondern steht auch für die Kinogeschichte eines sich ständig wandelnden Kontinents, wo der Weg zählt und nicht das Ziel. Bei diesem Unterwegssein werden die Landschaft und die Natur radikal als Figuren betrachtet, die mit ihrer Kraft den „Helden“ herausfordern. Die Landschaft nimmt physische und menschliche Handlungen in sich auf, die sich ausdehnen und ineinandergreifen.
 
Zama (2017) von Lucrecia Martel spielt in Asunción del Paraguay während der spanischen Kolonie Ende des 18. Jahrhunderts. Meisterhaft zeigt der Film, wie die Landschaft den Kolonisator wie in einem Netz gefangen hält und der Zeit, dem Klima sowie der Fantasie ausliefert, etwas zu besitzen, was sich als unerreichbar erweist: Amerika. Die Reise durch diesen Kontinent barg die ständige Gefahr, dem Wahnsinn und irgendwie auch dem Unbegreifbaren zu verfallen. Und genau das hatte Humboldt, der Pflanzen-, Stein- und Menschenkenner, durchschaut.
 
Aguirre, der Zorn Gottes (1972) von Werner Herzog porträtiert eben diesen kopflosen, verrückt gewordenen Kolonisator, gefangen innerhalb seiner Verstandesgrenzen und erzürnt durch sein Verlangen, das zugleich seiner Unfähigkeit entspricht; eine Landschaft, die ihre Schönheit in Wahnsinn wandelt und eine Reise, die nie das Ziel erreicht.
 
Zieht man die Entstehungsorte der beiden Filme in Betracht, so entspannt sich ein faszinierender Zeiten- und Perspektivendialog. Mit einem Abstand von etwas mehr als vierzig Jahren zeigen sie einander entgegenstehende und ergänzende Blicke Europas auf Amerika. Zama führt zudem in einen völlig erneuerten Diskurs ein und wendet den Blick zurück auf Aguirre: Zama reproduziert nicht zum x-ten Mal den männlichen Blick des Vizekönigreichs und weigert sich, das Epos des Eroberers aufzugreifen, stattdessen bringt der Film die Barbarei und Dummheit seiner Bürokratie zum Ausdruck. Genauso wenig stellt er den exotischen Indigenen dar, sondern den Sklaven ohne Sprache.
 
Dieser Diskurs, der verwandelt zurückkehrt, kennt nicht nur die Richtung Amerika – Europa. Wörter und Begriffe in Amazonassprachen sowie die Lektüre des Textes Vom Honig zur Asche von Claude Lévi-Strauss führen uns auf eine Sinnes- und Meditationsreise mit großartigen, sorgsam gefilmten Nahaufnahmen der Natur am Rheinufer in Deutschland – und nicht im amazonischen Regenwald, wie es zunächst den Anschein hat.
 
Ursprung der Nacht. Amazonas-Kosmos (1973-1977) von Lothar Baumgarten, einem deutschen Konzeptkünstler, schickt uns auf diese neue und geheimnisvolle Reise durch die Wörter – Signifikat und Signifikant – und vertieft dabei die Idee, dass Macht ausgeübt wird durch die Umdeutung von Wörtern, ihre Dekontextualisierung und Aneignung. Diese Aneignung vollzieht sich aus der ständigen Gegenüberstellung unvergleichbarer Kräfte.
 
Zu Beginn des Films ist die Leinwand schwarz, dann erscheinen in gelben Buchstaben deutsche Artenbezeichnungen wie „SPECHT“, die sich mit solchen wie „MANIOK“ und mit Guaraní-Begriffen in hellerer Schrift wie „COATI“ und URUBÚ“ vermischen. Diese Einleitung endet, wenn alle Wörter (Arten) von der Leinwand verschwinden und die Nacht hereinbricht, die in den Schöpfungsmythos der Tupi (Amazonaskultur in Brasilien) übergeht, diesmal auf Deutsch erzählt. Die sich wandelnden Eigennamen sowie das Bild selbst verweisen auf die Aneignung des Anderen, seine Sprache und seine Bilder.
 
In der Reihe sich verändernder Begriffe steht auch Homo Botanicus (2019) von Guillermo Quintero, der jüngste Film mit der zugleich ältesten Geschichte. Ein Meister und sein Schüler, ein Weiser und sein Lehrling, sammeln und katalogisieren Bromelien und andere Arten, die später ins Herbarium der Universidad Nacional de Colombia aufgenommen werden. Eine augenscheinlich schlichte Erzählung über zwei Männer der Jetztzeit, für die der Dschungel keine Falle mehr ist, sondern die sich von der Schönheit und stillen, erhalten gebliebenen Weisheit der Natur verführen und betören lassen. Sie kämpfen nicht mehr gegen die feindliche natura, sondern sind homo botanicus, die ihr eigenes Wesen durch die Natur begreifen.
 
Der Film lebt von den Figuren und ihren Worten und meidet die grundlose Freude am Bild, an der Schönheit per se, die der Natur innewohnt. Er verortet diese Schönheit dagegen in den zwischenmenschlichen Beziehungen, Unstimmigkeiten und Auseinandersetzungen. Die Geschichte findet ihr Ziel in dem, was wohl eine weitere idealisierte Beziehung ist, so geheimnisvoll und idealisiert wie alles, was hinter den Pflanzen steckt, die diese zwei Menschen einsammeln.
 
Repräsentationsformen, die aus der Kolonialzeit stammen, in der Humboldt und andere ihre Expeditionen durchführten, liegen bis heute der Vor- und Darstellungsweise unserer selbst zugrunde. Sie haben aber auch den Weg freigegeben für den Bruch, den Zusammenstoß, die Auseinandersetzung mit dem schwer zu fassenden Identitätsbegriff. In diesen Filmen ist er nichts Anderes als die Suche nach einem Narrativ, das Muster zum Vorschein bringt und verändert.
 
Das Kino als Narrativ, das über die Zeit hinweg- und mit der Zeit geht, ist auch eine Kunst, die mit den erwähnten, im Spannungsverhältnis stehenden Kräften kämpft: Was es erzählt, was es anstößt, ist die eine Seite; die Bedingungen, unter denen es produziert wird, die andere. Die unvermeidliche Spannung besteht zwischen dem Künstler und den Anforderungen und Erwartungen seiner Geldgeber, die auf das unwägbare Versprechen vom Publikum als Konsumenten/Geldgeber setzen. Diese Mittlerposition ist manchmal auch in dieser Kunst unmöglich. Filme als Produkte einer Kultur, einer Zeit, eines Kontexts entsprechen den selbigen und ihr bester Überlebenshalt wurzelt in der Fähigkeit, Dialoge zu entspinnen, die zu Fragen und Brüchen führen. Ein Programm von in Form, Ästhetik und Entstehungszeit so verschiedenartigen Filmen zeigt, wie sich manche Ideen an permanenten Abfahrts- und Ankunftsorten herausbilden.
 
Die elf Filme sind – wie bei jedem Programm – ein klar abgegrenzter Versuch, Brücken zu schlagen und Neulektüren anzuregen. Deren Antrieb ist nicht mehr Naturforschung, sondern ein menschlicher Blick auf die Auswirkungen der Kolonie, der Machtausübung, der negierten und dekonstruierten Werte der amerikanischen Kulturen und, allem voran, der Suche nach einer eigenen Stimme in der Filmsprache.

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