Was ist lateinamerikanische Kunst?  „Verstehen, warum es die Frage nach der Identität überhaupt gibt“

© Marina Camargo, 2019. © Marina Camargo, 2019.

Ein Gespräch mit der uruguayischen Historikerin Ivonne Pini über die komplizierte Suche nach dem Eigenen in der Kunst Lateinamerikas.

Frau Pini, wozu brauchen wir die Frage nach der Identität der lateinamerikanischen Kunst?

Das Interessante ist nicht, wozu wir diese Frage brauchen, sondern warum es die Frage nach der Identität überhaupt gibt. In den letzten Jahren hat das Bewusstsein um die Komplexität dessen, was man Lateinamerika nennt, die zuvor unterstellte Homogenität des Kontinents ja eigentlich zerschlagen. So wurde es möglich, die Vielschichtigkeit und die Gegensätze zwischen den einzelnen Regionen Lateinamerikas zu sehen. Das kann man auch im Bereich der Kunst beobachten. Es gibt eine regelrechte Wiedergeburt von lokalen Identitäten, die früher untergeordnet waren oder verdrängt wurden.

Die Idee „Lateinamerika“ war am Anfang des 20. Jahrhunderts von Theorien wie denen des uruguayischen Autors José E. Rodó inspiriert, der die Region als einen in sich homogenen Block wahrnahm und als eine Gegenposition zu dem „von Materialismus und Utilitarismus beherrschten Nordamerika“. Oder man orientierte sich an der Idee des mexikanischen Politikers und Philosophen José Vasconcelos, der von einer „kosmischen amerikanischen Ethnie“ („raza cósmica“) spricht. Wie hat sich die Frage nach der lateinamerikanischen Identität in der Kunst in den letzten Jahren weiterentwickelt?

In den letzten Jahrzehnten wurde der Begriff von einer gemeinsamen Identität für den Kontinent immer mehr in Frage gestellt. Die vermeintliche Universalität, wie sie moderne Denker – wie die oben genannten – vertreten, gilt nicht mehr als angemessen. Die heutige Sichtweise geht davon aus, dass die Identität Lateinamerikas weit davon entfernt ist, ein einheitliches Ganzes zu sein. Stattdessen steht vor allem die Pluralität als charakteristisch für den Kontinent.

Der Wert lokaler Identitäten

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hob die argentinische Kunstkritikerin Marta Traba jene Künstlerinnen und Künstler der Region würdigend hervor, die es schaffen, dem europäischen und nordamerikanischen Einfluss in der Kunst zu widerstehen. Dies sind genau die Künstlerinnen und Künstler, die sich auf den Wert der lokalen Identitäten zurückbesinnen und versuchen, wie Traba schreibt, die „utopische Rhetorik, mit der unsere Länder zu einem imaginären lateinamerikanischen Block zusammengefasst wurden“, zu vermeiden; die die „regionalen Unterschiede wieder aufnehmen“. Ihrer Meinung nach konnten diese Künstlerinnen und Künstler mit ihrem Werk „den regionalen Willen und die jeweilige Einzigartigkeit ausdrücken“ und gleichzeitig eine größere globale Struktur schaffen, „in die diese regionalen Werte eingefügt werden, indem zwischen ihnen dynamische Beziehungen entstehen.“

Auch der Argentinier Damián Bayón, Schlüsselfigur in der Kunstforschung Lateinamerikas in den 1970er und 1980er Jahren, kritisiert den Begriff „Lateinamerika“ wegen der mit ihm verbundenen kulturellen Vorurteile. Er räumt jedoch ein, dass sich die Konnotation des Begriffs verändert hat. Einst von den europäischen Kolonialmächten eingeführt, wurde die Bezeichnung später von den Leinamerikanerinnen und Lateinamerikanern selbst verwendet, um sich von anderen Kulturen, wie zum Beispiel von den USA, zu unterscheiden. Bayón erkennt die Existenz von kulturellen Gemeinsamkeiten an, die der Begriff Lateinamerika impliziert – etwa die Mischung verschiedener Ethnien seit der Kolonialzeit. Ihn besorgt jedoch die mögliche Wichtigkeit, die der Begriff in seiner Beziehung zu den Nationalismen besitzt. So kommt er zu dem Schluss, dass in den frühen 1980er Jahren die verbissene Suche nach Identitäten, die Kombination von Nationalismus, Populismus, Indigenismus und politischem und sozialem Utopismus die ganze Debatte ideologisch verfärbt hat.

Die historische Schuld gegenüber ethnischen Minderheiten in Lateinamerika ist immens. Daraus entstand der Anstoß, die bisherige „euroamerikanische“ und „mestizische“ Kunstgeschichte unter einem kritischen Blick zu betrachten. Die Notwendigkeit, die Geschichte der indigenen und afroamerikanischen Kunst miteinzubeziehen, hat Institutionen wie das Museo de Arte in São Paulo (MASP) dazu bewegt, seine Ausstellungs- und Sammlungspolitik neu zu überdenken. Wie sollten wir die Einbeziehung dieser Identitäten in die Geschichte der lateinamerikanischen Kunst überdenken?

Eines der Hauptmerkmale im aktuellen Ansatz der Kunstgeschichte über Lateinamerika ist das Anliegen, die traditionelle Geschichte neu zu formulieren. Jetzt ist es Aufgabe der Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker, die diversen Erfahrungen, die in der Kunst unserer Länder erlebt werden, auf eine neue Art zu betrachten und miteinander in Verbindung zu bringen. Die Aufgabe ist aber nach wie vor komplex, da wir – wie der brasilianische Kritiker und Kurator Ivo Mesquita und der künstlerische Direktor des MASP Adriano Pedrosa argumentieren – eine Geschichte rekonstruieren, die niemals vollständig konstruiert wurde.

Neben den historischen Überarbeitungen und neuen Ausstellungen in Museen ist es auch interessant, die Arbeit von Einrichtungen wie CLASCO (Lateinamerikanischer Rat der Sozialwissenschaften mit Sitz in Buenos Aires) zu beobachten, die sich zum Ziel gemacht haben, ein Netzwerk für eine neue Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu bilden, die aus einer kritischen und vergleichenden Perspektive arbeiten. Der 2008 veröffentlichte Titel Los estudios afroamericanos y africanos en América Latina: herencia, presencia y visiones del otro bietet zum Beispiel einen interessanten Überblick über den aktuellen Stand der Forschung zu diesem Thema.

Ein komplexer Block iM Umbruch

Wie beeinflussen die in den letzten Jahrzehnten eingetretenen Veränderungen in der geopolitischen Vorstellung des Kontinents die Produktions- und Perzeptionsräume von zeitgenössischer Kunst?​

Die Spannung zwischen dem Lokalen und dem Globalen hört nicht auf, die Kunstschaffenden zu bewegen. In den letzten Jahren entstand eine Art Verbindung zwischen lokalen und früher isolierten Szenen, die jetzt zu einem komplexen geopolitischen Block zu gehören scheinen, der sich in vollem Umbruch und Wachstum befindet. Dies ist der Fall bei der Biennale in Cuenca (Ecuador), der zentralamerikanischen Biennale in San José (Costa Rica), der Biennale Mercosul und Sesc Videobrasil (Brasilien), dem internationalen Kunsttreffen MDE in Medellín (Kolumbien), der Bienalsur in Buenos Aires (Argentinien) oder der Triennale Poli/Gráfica in San Juan (Puerto Rico). All diese Veranstaltungen zielen darauf ab, regionale Netzwerke zu stärken und geopolitische Beziehungen zu fördern, die mit den traditionellen Strukturen der Hegemoniezentren mit ihren eurozentrischen Diskursen brechen.

Die Kunst durchdringt die Welt des Alltäglichen und des Realen immer weiter und kann sich zwischen den verschiedensten Sprachen und Bezugspunkten frei hin und her bewegen. Aus diesen Räumen heraus wird die Frage nach der Identität formuliert, um diese entweder selbst kritisch zu hinterfragen oder um sie neu zu definieren.
 

Die uruguayische Kunsthistorikerin Ivonne Pini studierte Geschichte und Kunsttheorie an der Universidad de Montevideo und der Universidad Nacional in Bogotá. Dort und an der Universidad de los Andes in Bogotá unterrichtete sie als Dozentin. Sie hat verschiedene Bücher auf Spanisch veröffentlicht, u.a. En busca de lo propio. Inicios de la modernidad en el arte de México, Cuba, Colombia y Uruguay (2000) und Fragmentos de memoria. Los artistas latinoamericanos piensan el pasado (2001).

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