Musik und Identität  „Brasilien bleibt nichts übrig, als zu gelingen“

© Marina Camargo, 2019. © Marina Camargo, 2019.

Als Synthese eines von europäischen Großmachtbestrebungen, der Entsetzlichkeit der Sklaverei und den Wurzeln der indigenen Bevölkerung geprägten Landes ist populäre Musik wohl die beste Übersetzung der Größen und Unzulänglichkeiten Brasiliens.

In meinem Kinderzimmer, als ich acht Jahre alt war, hallte das tiefe Trommeln der Surdo (Anm. d. R.: einfellige Zylindertrommel, eines der wichtigsten Schlaginstrumente des Samba) wie ein Herzschlag – die betonte Systole, die unbetonte Diastole des Sambas im Zweivierteltakt. Das dumpfe Trommeln kam vom Gelände der Sambaschule Caprichosos de Pilares, die in ihrem Wappen den Namen der Vorstadt von Rio trägt, in der ich geboren wurde und damals noch lebte. Der Refrain des Sambas von 1986 – damals kannten wir alle Texte der Sambaschulen auswendig – lautete:

Gemeinsam mit sämtlichen Helden Brasiliens
Beim Samba und auf den Terreiros
Gegen das, was von dort kommen mag,
Singe ich Freiheit
Meine Hymne, meine Wahrheit
Feijoada und Vatapá

Wer gegessen hat, hat gegessen
Wer nicht gegessen hat, wird nicht mehr essen
Brasilien mit „z“ - niemals

Unido aos heróis brasileiros
Nos pagodes, nos terreiros
Contra o que vem de lá
Canto a liberdade
Meu hino, minha verdade
A feijoada e o vatapá

Quem comeu, comeu
Quem não comeu, não come mais 
Brasil com "z" jamais


In diesen Versen, die nationale Identität („Feijoada und Vatapá“) als Form des Widerstands gegen das Fremde („was von dort kommen mag“) postulierten, lernte ich, dass Brasiliens Herz – das des wirklichen, tiefen, relevanten Brasiliens, das sich mit „s“ schreibt statt auf Englisch mit „z“ und mein Zimmerfenster erzittern ließ – wie die Basstrommel Surdo schlug: Eins, Zwei.

Samba ist Brasilien, Brasilien ist Samba

Darin äußerte sich in mir, was ganz Brasilien diffus, eher körperlich als im Bewusstsein, empfindet: Dass Samba Brasilien ist und Brasilien Samba. Im 20. Jahrhundert entstanden als ein Kind der damals überall wachsenden Städte, der sich gleichzeitig entwickelnden Kulturindustrie und der Politik, die sich von diesen Städten und ihrer Kulturindustrie heraus etablierte. Der Samba ist das vier Jahrhunderte lang auf kleiner Flamme zusammengeschmolzene Amalgam eines von europäischen Großmachtbestrebungen, der Entsetzlichkeit der Versklavung und den Wurzeln der indigenen Völker geprägten Landes. Das Lied Canta Brasil zeichnet diese mythologische Synthese nach:

Die Wildnis gab dir nachts den Takt der Barbaren
Die Schwarzen brachten von weit ihren Vorrat an Tränen
Die Weißen sangen in ihren Liedern von Liebe
Und aus dieser Vermischung der Stimmen entstand dein Gesang

As selvas te deram nas noites teus ritmos bárbaros
E os negros trouxeram de longe reservas de pranto
Os brancos falaram de amor em suas canções
E dessa mistura de vozes nasceu o teu canto


Brasilien entsteht also als Gesang.

Funk carioca: Post-Samba

Aber zurück nach Pilares, der portugiesischen Bezeichnung für Pfeiler. Neue Bässe – elektronische diesmal, in Loops und nicht mehr das Schlagen des ledernen Trommelfells – waren nun in den Nächten der 1980er Jahre im Viertel zu hören: der robotische Sound von „It’s automatic“ („tchtochomere”, wie wir sagten). Der vulgäre Charme des Miami Bass. Das deutsche Klanglabor, von der schwarzen New Yorker Peripherie als Planet Rock umgenutzt. Auf den Tanzparties von Pilares - und vielen anderen Orten der Außenbezirke von Rio - tobte, was später der Post-Samba sein sollte, der Samba des Samba, der neue Gesang, der neue Städte hervorbringen sollte, eine neue Kulturindustrie, neue Politik. Er hörte auf den Namen „Funk-Carioca“. 1989 hielt Feira de Acari Brasilien einen neuen Spiegel vor:

Pass gut auf
Was ich dir jetzt sage
Wenn du was brauchst
Findest du es in Acari
Wenn du Geld dabei hast
Steck die Knete weg
In die Tasche, den Schuh
Den Rest in die Unterhose
Gute Leute sind da unterwegs
Und ein Haufen Ganoven
Die ‘nem unbedarften Idioten
Schon den Corcovado verkauft haben.

Preste muita atenção 
No que agora eu vou falar 
Se você quer transação 
Acari cê vai achar 
Se levar algum dinheiro 
Maloca a merreca 
Põe no bolso, no sapato 
E o resto na cueca
Porque lá tem gente boa 
E malandro adoidado 
Já venderam prum otário 
O morro do Corcovado

Tom Jobim: Architekt nationaler Identität

Eldorado war nun ein Hehlermarkt voll mit dem, was wir „brasilidade“ nennen. Ein Ort der Gelegenheiten für den, der gut tricksen kann („Wenn du was brauchst / Findest du es in Acari“), ein Paradies, das dem, der überleben will, viel Geschicklichkeit abverlangt („Gute Leute sind da unterwegs / Und ein Haufen Ganoven“). Tom Jobim, den Chico Buarque einmal als „obersten Meister“ bezeichnete, fasste es so zusammen: „Brasilien ist nichts für Anfänger“.

Tom Jobim war einer der Architekten dieser nationalen Identität. In dem Brasilien, das er und seine Mitstreiter errichteten, war für Tiere und Wälder genauso Platz wie für Bars und Apartments. Águas de março ist in gewisser Weise ein Land am Rand eines vom Regen entstandenen Sturzbachs - bildlich, aber in der weichen, nasalen, geglätteten Sprache Brasiliens.

Ist ein Ersatzrad, ein Nagel, eine Zählung, Erzählung
Ist ein tropfender Tropfen, eine Perle, ein Punkt
Ist ein Fisch, eine Geste, eine glänzende Münze
Ist das Licht eines Morgens, ein gelieferter Stein
Ist das Holz, ist der Tag, ist das Ende des Pfades
Ist die Flasche mit Schnaps, ist der Knall auf der Straße
Ist der Plan eines Hauses, ein Körper im Laken
Ist die Panne am Wagen, der Schlamm und der Schlamm

É um estepe, é um prego, é uma conta, é um conto
É um pingo pingando, é uma conta, é um ponto
É um peixe, é um gesto, é uma prata brilhando
É a luz da manhã, é o tijolo chegando
É a lenha, é o dia, é o fim da picada
É a garrafa de cana, o estilhaço na estrada
É o projeto da casa, é o corpo na cama
É o carro enguiçado, é a lama, é a lama

João Gilberto, Dorival Caymmi, Emicida

Die Aufnahme dieses Lieds von João Gilberto - mit seinem minimalistischen eins-zwei, das jedes Mal, wenn ich es höre, die Fenster des Kinderzimmers, das ich in mir bewahre, erzittern lässt - macht das in den Versen und Melodien von Tom Jobim dargestellte Land noch etwas sichtbarer. João Gilberto war wohl derjenige, der das Bild, das Brasilien gern von sich hätte, am deutlichsten ausgearbeitet hat: Seine Stimme und sein Gitarrenspiel waren Spiegelbild eines bestimmten Traums von Nation. Er selbst fasste dies in einem Satz gegenüber den „Novos Baianos“ zusammen, beim Anblick einer graziös vom Hügel herunterkommenden Frau: „Da kommt Brasilien den Weg runter“ (was die Band später als Vers nutzte). Beim Ballspiel, beim Samba, von der Sohle bis zu den Absätzen - die weibliche, wogende Grazie von undefinierbarer Hautfarbe lieferte dem von João Gilberto geschaffenen Brasilien das Ausgangsmaterial.

Gilberto nahm eine Platte mit dem Titel Brasil auf - nicht von ungefähr Bahia com H und No tabuleiro da baiana als Kern in der Mitte. Bahia war Schauplatz der ersten Begegnung der Ureinwohner mit den Portugiesen in ihren Karavellen. Aus Bahia kamen die Tanten, die in ihren Häusern in Rio die „Batucada“ beherbergten, aus der sich der Samba entwickeln sollte - in einer Gegend, die als Klein-Afrika (Pequena África) bekannt war. Brasiliens nationale Identität geht unweigerlich über das Bahia von Dovival Caymmi. Bahia gab den Tropicalistas „Lineal und Zirkel“ - wie es Gilberto Gil ausdrückte. Und nach Bahia geht auch Emicida für sein Porträt des 21. Jahrhunderts in Gestalt einer Frau: Baiana.

Zweiter Februar, Tag der Königin
Die für die einen weiß ist, für uns aber schwarz.

Dois de Fevereiro, dia da Rainha
Que pra uns é branca, pra nós é pretinha


Diese kurze, aber präzise Reflexion über die Hautfarbe von Iemanjá - auf der Grundlage eines originär nordamerikanischen Genres, des Rap, und in Versen eines aus dem reichen São Paulo stammenden Armen mit schwarzer Haut - sagt sehr viel über Brasilien aus und darüber, was sich hier in den fünf Jahrhunderten seit der Ankunft der Portugiesen getan hat. Sinhá - das Land in der Geschichte eines Sklaven zusammengefasst, der seine Herrin verzaubert hat und deswegen der Grausamkeit des Sklaventreibers ausgesetzt ist - geht jedoch tiefer:

Warum wollen Sie mir die Augen ausstechen, Herr
Ich weine zwar auf Yoruba
Aber zu Jesus bete ich
Wozu nehmen Sie mir das Licht

Pra quê que vosmecê meus olhos vai furar
Eu choro em iorubá,
mas oro por Jesus
Pra quê que vassuncê me tira a luz

Gegen arme Schwarze

Die Gewalt, die das Land geprägt hat - und Teil seiner Identität ist - zeigt sich in Tausenden anderer Lieder, vor allem in einem Moment, in dem das finsterste Antlitz des Landes latent wird - die Wahl von Jair Bolsonaro ist nur der augenscheinlichste Ausdruck davon. Der Refrain „Schlagen musst du, musst töten“ gegen die armen Schwarzen gerichtet, in As caravanas von Chico Buarque. Die Verkommenheit, die „im entmenschlichten Dämmer der Lynchmörder funkelt“ aus O cu do mundo von Caetano Veloso. Das Bild der Hoffnungslosigkeit in den Versen von Francisco Bosco zur Melodie von João Bosco in Nenhum futuro:

Guaranis unter Alkohol
Ohne irgend eine Zukunft
Ich sehe schon kommen, dass der Himmel
Auf uns stürzt
Dein Spiegel schaut noch einmal
Diesmal auf mich
Und ich fürchte, dass wir geliefert sind,
Na gut

Guaranis alcoolizados
Sem nenhum futuro
Anuncio o despencar do céu
Sobre nós
Teu espelho olha de novo
Agora pra mim
E eu suspeito que estamos fodidos
Enfim


Das brasilianische Lied erinnert uns aber auch immer daran, dass es in sich die Dimension eines zum Schlagen der Basstrommel bebenden Kinderzimmers in Pilares trägt. Oder, wie Thiago Amud in einer wie warnendes Leuchtfeuer strahlenden Szene in dem Film Rio Zona Norte bemerkt:

Immer wenn du die donnernde Stimme von Angela Maria hörst:
„Malvadeza Durão“
Und sich die Träne von Grande Otelo verwandelt
Lass die Gewissheit erwachen, die in deinem Herzen schläft

Brasilien bleibt nichts übrig, als zu gelingen
Brasilien bleibt nichts übrig, als zu gelingen
Lass die Gewissheit erwachen, die in deinem Herzen schläft
Brasilien bleibt nichts übrig, als zu gelingen

Sempre que você ouvir a voz da Angela Maria tonitruar
"Malvadeza Durão"
E então a lágrima do Grande Otelo se transfigurar
Deixe acordar a certeza que dorme em seu peito
O Brasil tem que ter jeito
O Brasil tem que ter jeito
Deixe acordar a certeza que dorme em seu peito
O Brasil tem que ter jeito


 

Vom Autor zitierte Lieder

  • "Brazil com Z não seremos jamais (ou seremos?)" (Almir De Araújo/ Balinha/ Carlinhos de Pilares/ Hercules Corrêa/ Marquinho Lessa)
  • "Canta Brasil" (Alcyr Pires Vermelho/ David Nasser)
  • "It's automatic" (Byron Smith/ Garfield Baker/ Tony Butler)
  • "Planet rock" (Alonzo Williams/ Arthur Baker/ J. Miller/ John Robie)
  • "Feira de Acari" (DJ Marlboro/ DJ Pirata)
  • "Águas de março" (Tom Jobim)
  • "Lá vem o Brasil descendo a ladeira" (Moraes Moreira/ Pepeu Gomes)
  • "Bahia com H" (Denis Brean)
  • "O tabuleiro da baiana" (Dorival Caymmi)
  • "Aquele abraço" (Gilberto Gil)
  • "Baiana" (Emicida)
  • "Sinhá" (João Bosco/ Chico Buarque)
  • "As caravanas" (Chico Buarque)
  • "O cu do mundo" (Caetano Veloso)
  • "Nenhum futuro" (João Bosco/Francisco Bosco)
  • "A mais bela cena" (Thiago Amud)

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