Faustext: Einleitungsmonolog

Faustext
Faustext | © Goethe-Institut Usbekistan

Warum eigentlich Faust?
 
Tatsächlich hatte ich lange daran gedacht, konnte aber keine deutliche Antwort finden.
 
Vielleicht das Einfachste, und, gleichzeitig, das Genaueste: ich mag Märchen sehr! Verschiedene Märchen: gute Märchen, böse Märchen, sogar gruselige Märchen. Und Faust ist ein Märchen!
 
Märchen, Märchen… man kann selbstverständlich eine Menge kluger Worte erdenken, oder zum Beispiel, eine Idee einbringen: was ist Faust? Oder noch besser: warum um Himmels willen, Faust? Und zwar, gerade jetzt? Faust als Archetyp der menschlichen Interaktion mit der Realität! So hätte ich es zum Beispiel formuliert. Das enthält aber nicht Information über meine kindlichen Träumereien, über Wunschdenken eines Jünglings mit brennenden Blicken! Nun ja, ich war damals ungefähr 16 Jahre alt, als ich die Tragödie Faust von Goethe, übersetzt von Boris Pasternak, zum ersten Mal gelesen habe. Gleich denke ich, dies war nur eine Märchenlust! Das wär’s. Das ist wohl nichts mehr. Ein Wunsch sich in Atmosphäre eines Märchens zu versenken, sich plötzlich im Märchen zu befinden und darin zu leben! Und der Dinge harren, die da kommen sollen. Ausgerechnet muss es mich haschen!
 
Nun werde ich versuchen, Ihnen zu erzählen, was Sie sehen werden, und was wir auf die Bühne bringen.
 
In Japan wurde Mitte des XX. Jahrhunderts ein neuer Stil erfunden – eine neue Richtung im modernen Tanz namens Buto. Buto-Philosophen behaupten: um Buto- Bewegungskunst zu beherrschen, muss man zu den Dämonen rufen, mit ihrer Hilfe tanzen und Fratzen dabei schneiden. Das heißt den Menschenkörper komplett zur Verfügung von eigenen Dämonen zu stellen.
 
Also. Im ersten Auftritt unseres vierteiligen Faust... bemerkenswerterweise soll ich sagen, es wird vier Auftritte geben, die sich praktisch absolut voneinander unterscheiden werden. Nun, also im ersten Auftritt unseres vierteiligen Faust, d.h. „FausText. Eintritt“, werden wir versuchen, diese Dämonen in uns selbst zu rufen,  wir werden versuchen... sie müssen verstehen, nun, Dämonen, natürlich mit Verlaub zu sagen... werden wir versuchen, mit ihnen auf der Bühne zusammenzuleben, sozusagen: zu koexistieren. Diese Art von monströsem, dämonischem Prinzip, das wahrscheinlich in jedem Menschen vorkommt, tiefliegend im Menschenherzen ist. Und unsere menschlichen Werkzeuge, die wir haben: unsere Gegebenheit, unsere Plastik, unser Körper, unsere Stimme, unsere Denkungsfähigkeit – das ist es, was höchstwahrscheinlich allein zum menschlichen Teil gehört.
 
Auffallend ist jedoch, dass es von „FausText“ die Rede ist. Nicht einfach: Faust, sondern „FausText“. Weil das Thema Faust für mich natürlich durch den Text von Goethe entdeckt wurde. Ich ergehe mich in lauter Gemeinplätzen, aber es war ein Text! Zuallererst war es der Text, und erst dann Bilder, Erfahrungen, die Goethe zum Ausdruck gebracht hat. Am Anfang aber war der Text: die geschriebenen Buchstaben! Und nun dieser Wunsch... nachdem wir mit dem Text in Kontakt gekommen sind, versuchen wir ihn zu lesen. Und zwar: ganz anders zu lesen. Wir lesen den Text nicht nach der Art, wie wir früher es gelesen haben, nicht nach der Art, wie wir den Text früher als Schauspieler gelesen haben, das heißt, nach irgendeiner Technologie, dem Stanislavsky-System oder einem anderen...
 
Wenn wir vor die Rampe treten, werden wir versuchen, diesen Text direkt von den Buchstaben zu trennen, wahrscheinlich auch von Gedanken, die der Autor da niedergelegt hat, obwohl ich nicht sicher bin, ob wir die Gedanken des Autors  zuverlässig bestimmen können. Wenn wir Werke von J.W.Goethe oder Christopher Marlowe oder Gotthold Lessing lesen, können wir nur raten, was sie sinnen. Was dachte Lessing, zum Beispiel, als er die wenigen Werke schrieb, die erhalten geblieben sind?
 
Unser „Vierologie“ (Viererreihe) heißt „FausText“. Der Text ist der Hauptbestandteil unserer Idee. Im ersten Auftritt, der „FausText. Eintritt“ heißt, sehen Sie auf der Bühne eine Komposition von drei Schauspielern, die Texte von Lessing, Goethe, Puschkin, Lenau, Marlowe und aus dem Volksbuch lesen werden.
 
Komm vorbei!