Faustext
Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath oder Faustext von Maxim Fadeev

Faustext
Faustext | © Goethe-Institut Taschkent

„Der Anfang. Ein neuer Anfang.“ Maxim Fadeev brummt vor sich hin und geht langsam auf die Bühne zu. „Das Anfangen ist immer schwierig. Angst vor dem Unbekannten. Ich habe Angst.“

Ich war auf einem Teil von Faustext und kam wieder. Es war mir beim ersten Mal schwierig, irgendetwas zu verstehen. Also, warum nochmal probieren?

„Faust noch eine Chance geben.“ Genau solche Antwort klang in meinem Kopf.

Faustext: Maksim Fadeev Faustext: Maksim Fadeev | © Goethe-Institut Taschkent

Aber was ist, wenn die Aufführung in einem veränderten Bewusstseinszustand gesehen werden muss? Wenn du nicht versuchst, dich in die eingelegte Bedeutung hinein zu fressen, sondern alles wie in einem Traum von der Seite betrachtest.

Du kannst nicht ändern, was du siehst, ebenso wie du nicht im Stande bist,  das Geschehen zu verstehen. Aber du schwimmst in dieser schimmernden Traumerscheinung und fängst manchmal den entgegenkommenden Fisch am Schwanz ein, streichelst ihn auf den Kopf, küsst ihn, lässt ihn wieder frei und bewegst dich weiter. Und manchmal fängst du niemanden ein – du schaust einfach. Heute werde ich nicht nach dem Sinn suchen.
 
Max fängt meine Stimmung ein und sagt: „Es scheint dir nur so, als ob du existierst, bis du über den Anfang trittst.“

Ich mache die Augen fest zu, übertrete zusammen mit ihm.

Der Anfang.

Auf dem Bildschirm phosphoreszieren die säurefarbenen Quadrate, es spielt transzendente Musik. Max springt um die Bühne. Ich blicke den Zuschauern nach, die um mich sitzen: sie springen nicht, aber sie wackeln taktmäßig mit dem Kopf. Anscheinend wollten sie auch nachtwandlerische Zustände.
 
Die Musik wird lauter. Max schreit etwas. Ein Säugling aus dem Publikum schreit ihm zurück. Warum habt ihr das Baby mitgenommen? Er beginnt als Erster, Max zu verstehen und mit ihm die gleiche Sprache zu sprechen.

„Das, worauf du dich stützt, leistet immer Widerstand“, sagt Max. Ich versuche mich nicht zu stützen.
 
Max singt. Er hat eine schöne Stimme.

Faustext: Maksim Fadeev singt Faustext: Maksim Fadeev singt | © Goethe-Institut Taschkent

Auf dem Bildschirm vorne schaltet sich das Bild ein und aus: schwarz-weiße Streifen, rotierende Quadrate. Alles bewegt sich irgendwohin, verschiebt sich. Schaltet sich ein.  Schaltet sich aus.

Das Publikum hört wie gebannt zu. Schaut sich die Bilder an. Löst seine Gedanken. Liest die Träume der Nebensitzenden.

Der Junge vor mir zappelt. Das Mädchen auf der linken Seite flüstert mit einem anderen Jungen. Anscheinend gehören sie nicht zu dem Teil des Publikums, der versteht.
Mein Freund, der rechts sitzt, weiß, was es heißt, ein Träumer zu sein. Er schaukelt leicht mit dem Stuhl. Er redet mit niemandem, zappelt nicht. Manchmal lacht er über das, was auf der Bühne passiert. Er lacht kaum hörbar, denn so versteht nur er.

Die Videoreihe ändert sich. Fluoreszente hypnotisierende Quadrate und Rauten, ein Kaleidoskop von menschlichen Körpern, rote und schwarze Spiralen. Max steht zwischen der Wand und dem Projektor – er bricht die Videoreihe. In den Lautsprechern klingen die Texte von Thomas Manns „Doktor Faustus“.

„Das wird auf dem Foto interessant aussehen!“, denke ich. Wenn ich immer noch nachdenke, bedeutet, dass ich nicht ganz in Schlaf gesunken bin. Ich höre damit auf.

Max lenkt uns auf jede Art und Weise vom Text ab. Ich sehe ihn nicht an, sondern höre das, was die Lautsprecher sagen: „Jedes Kunstwerk ist eine Täuschung. Wahrhaft ist nur der Augenblick.“

Wahrscheinlich macht Max jetzt genau das. Er nimmt die Mädchen aus dem Raum, einzelweise. Er tanzt mit ihnen im Rampenlicht. Dann putzt er sich auf der Bühne die Zähne, wäscht sich und liegt auf dem Boden. Es verhält sich so, wie es ihm passt.

Jemand entscheidet sich dafür, das mit ihm inne zu leben, und lässt kein Auge davon. Ich brauche aber den Text. „Allein die Tatsache des Lebens macht den Unterschied in Bezug auf Krankheit oder Gesundheit zunichte. Es gibt keinen Unterschied zwischen ihnen.“
 
Ich möchte mehr zuhören. Ich möchte die Suche nach dem unbekannten Kadath dort fortsetzen, in unsichtbaren Welten, in Welten, deren Umrisse uns nur manchmal in Träumen erscheinen.
Es scheint, als ob sich Maxim Fadeev uns gegenüber für das Geschehene rechtfertigt: „Man fragt mich oft, was rauchst Du? Ich antworte – Pall Mall, grau. Das Einzige, was ich sagen kann – alles, was ich mache, kommt von innen.“

Natürlich! Und woher sonst kommen all diese Traumrätsel, die sich zu anti-geometrischen Figuren formen, die gegen alle bekannten Gesetze der Physik verstoßen? Nur von innen.

Und wenn es jemand von den Zuschauern schafft, sie zu berühren – nicht um den Hintergedanken zu enträtseln, nein, sondern nur um eine kurze Raumfahrt anzutreten – ist dies bereits eine große Seltenheit.

„Wir alle leben in einer Hohlkugel!“ – resümiert Max am Ende der ganzen Inszenierung.
Ja! Aber man kann da heraus kommen. Und nur auf solchen Wegen. Durch Bilder, die unsere Vorstellung über das Gewohnte überwinden, durch literarische Werke der Großen, durch Musik, durch Spiel, durch Träume.