Berlinale-Blogger*innen 2022
Kein Festival der ungetrübten Freude

„Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ von Andreas Dresen
„Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ von Andreas Dresen | Foto (Detail): © Andreas Hoefer / Pandora Film

Das Filmprogramm ist veröffentlicht, die Berlinale steht in den Startlöchern. Doch dass trotz steigender Infektionszahlen und einem Alltag im Ausnahmezustand eines der wichtigsten Filmfestivals weltweit in Präsenz stattfindet, lässt auch unter lupenreinen Cineasten ein gewisses Unbehagen aufkommen.

Zum zweiten Mal in Folge findet die Berlinale zu Hochzeiten der Pandemie statt – und zwingt Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian erneut in die Krisenbewältigung. Das zweistufige Verfahren von 2021 – ein digitaler Branchentreff im Februar und eine nachgeholte Sommerberlinale fürs Publikum – war für das Leitungsduo bei der 72. Berlinale keine Option. Nachvollziehbar, denn Festivalatmosphäre konnte im letzten Jahr kaum aufkommen. Mit rund 58.000 (bei 194 Filmen) verkauften Tickets lagen zudem die Erlöse weit hinter den Vorpandemiejahren, in denen über 300.000 veräußerte Kinokarten den Ruf der Berlinale als weltweit größtes Publikumsfestival festigten.

Mit strengen Hygienebestimmungen – aber in Präsenz

Stattdessen findet die Berlinale jetzt als „reduziertes Format“ mit ausgedünntem Programm in Präsenz statt. Zwar werden Teile des Festivals – etwa der European Film Market – ins Internet verlegt. Doch laut Rissenbeek könne nur ein Präsenzfestival den „Kern der Berlinale“ beibehalten. Strengste Sicherheitsmaßnahmen und eine Halbierung der Sitzplätze sollen bei den Kinovorstellungen die Durchseuchung des Publikums verhindern. Von einem parallelen Hybridkonzept, mit dem man die Zuschauerströme entzerren und damit das – trotz Maske, Tests, Doppelt- und Dreifachimpfungen – vorhandene Infektionsrisiko senken könnte, ist nicht die Rede. Leider. Damit haben auch diejenigen das Nachsehen, die in Zeiten der Pandemie nicht nach Berlin reisen können oder wollen.
„Peter von Kant“ von François Ozon
Foto (Detail): © C. Bethuel / FOZ
„Peter von Kant“ von François Ozon

Nun denn: Am 10. Februar eröffnet François Ozons Fassbinder-Remake Peter von Kant mit Denis Ménochet, Isabelle Adjani und Hanna Schygulla das verschlankte Festival und den Wettbewerb. Internationalen Glanz bringt unter anderem Ehrenbär-Preisträgerin Isabelle Huppert in die deutsche Metropole. Mit größerem Starrummel auf dem roten Teppich ist allerdings nicht zu rechnen, zumal festliche Empfänge und Partys ausfallen. Die Preisverleihung unter dem Jury-Präsidenten, dem Horrorspezialisten M. Night Shyamalan, ist vom 20. auf den 16. Februar vorgezogen. Danach werden die Filme an vier weiteren Tagen dem Publikum präsentiert.

Viele Filme kreisen um „Familie“ und „Liebe“ 

6.755 Produktionen wurden für die 72. Berlinale eingereicht, davon kommen insgesamt 256 Kurz- und Langfilme auf die Leinwand. Das sind gut ein Fünftel weniger als 2020, dem Jahr, als das Festival gerade noch unter normalen Bedingungen über die Bühne gehen konnte. Diesmal konkurrieren 18 Filme aus 17 Produktionsländern in der Hauptsektion „Wettbewerb“ um die Silbernen und die Goldenen Bären, wobei die meisten Werke dem europäischen Raum entstammen. „Familie“ und „Liebe“ ständen im Zentrum der Stoffe, nur zwei Filme beschäftigten sich explizit mit der Pandemie, erklärte Chatrian bei der Programmpräsentation. Elf Regisseure hätten ihre Werke schon einmal auf der Berlinale präsentiert, acht von ihnen im Wettbewerb und fünf seien ehemalige Bärenpreisgewinner.

deutsche Filme und Koproduktionen im Wettbewerb

Auch Andreas Dresen, der große Alltagspoet des hiesigen Kinos, war mehrfach im Wettbewerb der Berlinale. In seinem aktuellen Werk begibt er sich erstmals auf explizit politisches Terrain. In Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush kämpft sich eine Bremer Hausfrau mit türkischen Wurzeln bis zum Surpreme Court in Washington vor, um die Freilassung ihres Sohnes aus dem Gefangenenlager Guantanamo zu bewirken.
„A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“ von Nicolette Krebitz
Foto (Detail): © Reinhold Vorschneider / Komplizen Film
„A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“ von Nicolette Krebitz

AEIOU – das schnelle Alphabet der Liebe mit Sophie Rois und Udo Kier ist die vierte Regiearbeit von Nicolette Krebitz und der zweite deutsche Konkurrent im Bärenrennen. Die Schauspielerin, Regisseurin und Musikerin ist erstmals im Wettbewerb der Berlinale vertreten. Zuletzt wurde sie vielfach ausgezeichnet für Wild, eine verstörend schöne Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau und einem Wolf.

Es starten noch drei weitere Beiträge starker Regisseur*innen als deutsche Koproduktionen: Der Österreicher Ulrich Seidel ist mit Rimini erstmals wieder nach Paradies:Hoffnung (2013) im Wettbewerb. Aus der Schweiz kommen Michael Koch mit Drii Winter und der langersehnte neue Film La Ligne von Ursula Meier, die mit Winterdieb 2012 einen Überraschungserfolg feierte.

Frauenanteil von rund 40 Prozent

Ursula Meier und Nicolette Krebitz sind zwei von sieben Regisseurinnen im Wettbewerb. Jenseits des klassischen Erzählkinos bewegt sich die französische Regisseurin Claire Denis mit Avec amour et acharnement, einer Dreiecksgeschichte mit Juliette Binoche, Vincent Lindon und Bulle Ogier in den Hauptrollen. Einziger US-amerikanischer Beitrag ist das Regiedebüt Call Jane der renommierten Drehbuchautorin Phyllis Nagys. Das Abtreibungsdrama mit Elizabeth Banks, Sigourney Weaver und Kate Mara feierte seine Weltpremiere allerdings bereits im Januar auf dem Sundance Festival in Utah.
„Robe of Gems“ von Natalia López Gallardo
Foto (Detail): © Visit Films
„Robe of Gems“ von Natalia López Gallardo

Die katalanische Regisseurin Carla Simón, die indonesische Filmemacherin Kamila Andini und Natalia López Gallardo, die in Robe of Gems den lokalen Drogenhandel in Mexiko aufgreift, komplettieren den weiblichen Regie-Reigen. Ein Frauenanteil von rund 40 Prozent in diesem Jahr – das sei ein weiterer, jedoch längst kein finaler Schritt hin zur vielgeforderten Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern in der Filmbranche, betonte Carlo Chatrian.

Ungewöhnliche Handschriften

Asien ist vertreten durch den chinesischen Regisseur Li Ruijun mit Return to Dust und den südkoreanischen Festivalliebling und Dauergast des Berlinale-Wettbewerbs Hong Sangsoo mit The Novelist's Film. Auch ein Dokumentarfilm läuft im Wettbewerb, Rithy Panhs Everything Will Be Ok. Mit dem Kanadier Denis Côté (Un été comme ça ) und Paolo Taviani, der seit dem Tod seines Bruders Vittorio in Leonore Addio erstmalig alleine Regie führt, finden sich weitere außergewöhnliche Regie-Handschriften. Diese gibt es auch jenseits des Wettbewerbs: Im Berlinale Special Gala darf man gespannt sein auf den gemeinsamen Auftritt von Isabelle Huppert und Lars Eidinger in Laurent Larivières À propos de Joan. Unter den 15 Weltpremieren der Reihe Encounters ist die Bandbreite ebenfalls groß, unter anderem sind ein Spielfilm des eigenwilligen Autorenfilmers Bertrand Bonello (Co­ma) oder des Genre-Spezialisten Peter Strickland (Flux Gourmet) dabei.
„Flux Gourmet“ von Peter Strickland
Foto (Detail): © Flux Gourmet, Bankside Films, IFC Productions I
„Flux Gourmet“ von Peter Strickland

Der Jahrgang 2022 verspricht ein reizvolles Spektrum unterschiedlicher filmischer Spielarten. Rein cineastisch gibt es also gute Gründe, sich die Filme auf der großen Leinwand anzuschauen. Die steigenden Inzidenzen halten uns eine andere Logik vor. Carlo Chatrian hatte vorab erklärt, es gehe bei der Entscheidung für ein Präsenzfestival auch darum, „als Beschützer eines Raums in Erscheinung zu treten, der zu verschwinden droht“ – nämlich des Kinos. Ob die Berlinale-Fans das genauso sehen – und trotz des vorhandenen Infektionsrisikos in die Festivalkinos strömen? Es bleibt abzuwarten. Das letzte Wort haben bei diesem ambivalenten Festival die Menschen, für die es auch gemacht ist: das Publikum.