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Neu-Delhi
Amar Kanwar, Künstler und Filmemacher

Von Amar Kanwar

Amar Kanwar © Amar Kanwar Wenn jeder Augenblick die Möglichkeit enthält, lebendig oder tot zu sein, könnte dann ein erhöhtes Gewahrsein jedes Augenblicks auch zu einem gesteigerten Bewusstsein bezogen auf Leben und Sterben führen?

Dieser Virus verursacht genau das. Ein unbekannter, unsichtbarer Killer, der töten kann oder auch nicht, lässt uns plötzlich die Tatsache, dass wir leben, die Möglichkeit des Lebens und die Möglichkeit des Sterbens nur allzu bewusst werden. Die erzwungenen Ausgangssperren haben diffuse Angstgefühle verhindert und stattdessen dazu geführt, dass wir etwas längere Zeit in einem Zustand erhöhten Gewahrseins verharren.

Die Angst vor dem Tod ist womöglich eine der ältesten Ängste überhaupt. Die Suche nach einem dauerhaften oder auch nur temporären Gegengift gehört ebenfalls zu den ältesten Bestrebungen. Manchmal ist die Suche erfolgreich und der Tod wird hinausgezögert. Dabei ist ein probates Gegenmittel gegen die Angst, einfach zu vergessen, dass wir sterblich sind. Dann verschwindet die Angst in der Regel. Und auch wenn wir mit großer Intensität und Beständigkeit hoffen, kann die Angst weniger werden. Manche Leute beten regelmäßig oder führen bewusste Handlungen aus, um gutes Karma anzusammeln, manche verstecken sich, manche essen weniger und so weiter. Andere tun Dinge, mit deren Hilfe sie in ihrer Selbstwahrnehmung unbezwingbar werden. Je stärker diese Wahrnehmung ist, desto stärker ist die Täuschung des eigenen Selbst und desto leichter wird es, die Angst vor dem Tod zu vergessen. Aber das Corona-Virus hat plötzlich all diese Strategien durcheinandergebracht. Es kann Businessclass fliegen, sich im Getto ausbreiten und geduldig wartend auf dem angelieferten Paket vor deiner Tür sitzen.

Eine bewährte Methode, mit dem natürlichen Tod umzugehen, war seit jeher, ihn würdevoll zu akzeptieren und diese Akzeptanz über die die Angst zu stellen. Wenn man so will, machen die Alten und Schwachen den Weg frei für die Jüngeren und Stärkeren. Diese Form der Kapitulation verringert Angstgefühle, verstärkt die Dankbarkeit, am Leben zu sein, und verleiht auf magische Weise allen Handlungen größere Bedeutung. Wenn man allerdings den unnatürlichen Tod oder Mord als Ausgangpunkt nimmt, dann ist die Sache nicht ganz so einfach. Lassen wir dabei die vollzogenen Massaker an Vogel-, Tier- und Insektenarten außen vor und bleiben im menschlichen Bereich. Wie soll man beispielsweise auf die Tatsache reagieren, dass die jährlich gemeldete Anzahl an Verkehrstoten in Indien bei etwa 150.000 Menschen liegt und es dennoch keine nationale Krisenreaktion mit einer kompletten Sperre des Straßenverkehrs gibt? Es ist ebenfalls schwer zu begreifen, dass es im letzten Jahrzehnt etwa 200.000 Selbstmorde unter Bäuerinnen und Bauern gab. Die Dunkelziffer liegt womöglich weit höher. Aber es bleibt dabei: 200.000 Bäuerinnen und Bauern haben sich in Indien das Leben genommen. Das Ausmaß und die Bedeutung dieser Tatsache sind kaum nachvollziehbar. Ganze Nationen haben für ein Zehntel dieser Anzahl an Toten Kriege gegeneinander geführt, aber wir haben es nicht geschafft, diesen hilflosen, "freiwilligen" Massenmord zu stoppen. Es gab keine nationale Ausgangssperre. Kein Verbot aller raffgierigen Saat-, Düngemittel- und Pestizid-Agrarriesen mit ihren toxischen Chemikalien, keine Lampen, die entzündet wurden, keine Balkonkonzerte, auch keine zwei Minuten Schweigen im Parlament. Keine drastische Verringerung der Ausgaben für Waffen und Munition, keine dramatischen, umfassenden Maßnahmen, um das öffentliche Gesundheitssystem für die Armen auszubauen oder den Ernährungs- und Immunisierungsstatus aller zu verbessern.

Es scheint, als ließe menschliche Arroganz keine Diskussionen zu. Auch Belege, Fakten, Daten oder Trends in Bezug auf die Zerstörung oder Diskriminierung auf der Welt richten nichts dagegen aus. Selbst ein emotionaler Appell bezogen auf das Leid von Ökosystemen und Gemeinschaften ändert nichts. Manche behaupten zynisch, dass Arroganz die Standardhaltung des unsicheren Menschen ist und wir alle deshalb dazu verurteilt sind, damit zu leben (oder zu sterben). Andere verweisen abgeklärt darauf, dass sich Narzissten nur selbst von ihrem Narzissmus heilen können und deshalb die Reinigung des eigenen inneren Selbst der einzige Weg nach vorn ist. Priester*innen flüstern: Das ist der Wille Gottes, tue Buße und flehe um Gnade. Faschist*innen nutzen die Gelegenheit und behaupten, Angst sei das ideale Terrain, um Überwachung, Kontrolle und Macht zu maximieren und dies sei der ideale Zeitpunkt, um den Feind, die Unerwünschten und die Verachteten nachhaltig auszulöschen. Technokrat*innen verlangen den nächsten möglichen Durchbruch, um dem Unfug so auf dramatische Weise ein Ende zu setzen und das Problem mit einer Impfung zu lösen. Philanthrop*innen fügen hinzu, dass diese hoffentlich kostenlos sein wird. Das Orakel deutet an, dass Strahlung das nächste Virus sein wird – ebenso plötzlich, aber weitaus tödlicher.

Idealist*innen sagen womöglich, dies sei der Moment, um sich der gegenseitigen Abhängigkeit aller Wesen, der Zerbrechlichkeit des Lebens und der Unausweichlichkeit des Todes zutiefst bewusst zu werden. Sie verlangen womöglich auch einen kompletten Waffenstillstand und fordern, alle Formen des Krieges, der Gewalt und der ökologisch zerstörerischen Praktiken zu stoppen. Sie rufen gegebenenfalls zu einer Massenbewegung in allen Bildungseinrichtungen, zu zivilem Ungehorsam auf dem ganzen Planeten auf – nicht gegen irgendein bestimmtes Individuum, eine bestimmte politische Partei oder eine bestimmte Regierung, sondern gegen Gier, übermäßigen Konsum und die Logik der selbstzerstörerischen, endlosen Profitvermehrung von Wirtschaftssystemen. Vielleicht rufen sie nach einer Politik, die alle patriarchalischen und diskriminierenden Machtstrukturen zerstört. Vielleicht führen sie sogar einen Schlag gegen sich selbst aus; gegen ihre eigenen Eliteschulen und verkorksten Wertesysteme, und fordern eine gerechtere Verteilung von Wohlstand und Ressourcen sowie eine dramatische Veränderung in der öffentlichen Politik. Und ja, vielleicht wollen sie sogar einen Stopp für die Waffenindustrie und für das Spiel mit dem Bau und Verkauf von Bomben. Vielleicht rufen Sie auch dazu auf, die Weisheit der Gemeinwesens zurückzuerobern, und wenn keiner zuhört, gehen sie vielleicht hinaus und suchen nach solidarischen Menschen und Gruppen vor Ort, bilden kleine Allianzen und verändern ihren Umgang mit jedem Tier, jedem Kind, jedem Mann und jeder Frau, die ihnen begegnen. Wenn auch das nicht möglich ist, dann bewahren sie sich das Gefühl im Herzen und steigen aus dem Rennen aus, sobald sie können.

Es ist schwer, ruhig in Isolation zu leben. Ich möchte zudem nicht alleine sterben, in Quarantäne in einem Krankenhaus. Vom Schmerz so vieler Menschen zu lesen, davon, vereinsamt zu sterben und in den letzten Tagen des Lebens Familie und Freund*innen nicht sehen zu dürfen, hat jedes Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit zerstört. Jeden Tag rasen meine Gedanken in die Behausungen derer, die gefährdet oder hungrig oder krank oder inhaftiert sind. Auf eigentümliche Weise sind wir für einige Tage über viele Grenzen hinweg miteinander verbunden und in der Lage, uns den Schmerz anderer vorzustellen und ihn zu spüren. Wenn dies die Zeit einer globalen Pandemie ist, so ist es womöglich auch eine, um zusammenzukommen und uns als gleichwertige Bestandteile eines einheitlichen Lebenssystems zu sehen.

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