Kinder- und Jugendromanen heute
Von Flucht, Rassismus und Armut (Teil 1)

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Von Jana Mikota

Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur

Im deutschsprachigen Raum entstand eine originäre Kinder- und Jugendliteratur, also eine Kinder- und Jugendliteratur, die ausdrücklich an Kinder adressiert war, im ausgehend 18. Jahrhundert (vgl. hierzu Kümmerling-Meibauer 2012, S. 10). In die entstehende Kinder- und Jugendliteratur gingen die Vorstellungen der aufgeklärten Pädagogen über Erziehung ein. Damit wurde auch die Funktion der Texte festgelegt: Sie bestand zunächst darin, „an die nachwachsende Generation die etablierten Normen und Werte zu vermitteln“ (Gansel 2012, S. 2): Sie sollte erziehen, belehren und unterweisen und damit entwickelte sich die entstehende Kinder- und Jugendliteratur im engen Bezug „zum Erziehungssystem der Zeit“ (Gansel, 2012, S. 2). Eine solche Funktion erfüllten kinderliterarische Texte in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert:
Während die Allgemein- bzw. Erwachsenenliteratur sich zunehmend von dem Zwang befreite, bestimmten Interessen zu dienen, sich von Religion, Philosophie und Moral, Recht und Politik, Wissenschaft und Pädagogik abgrenzte und – trotz gesellschaftlich ‚eingreifenden’ Intentionen etwa im Rahmen von Konzepten einer littérature engagée – einen Autonomieanspruch formulierte, war die Literatur, die sich an Kinder wandte, bestimmten ‚Zwecken’ verpflichtet.
(Gansel 2012, S. 2)
Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhundert wandelte sich die Kinder- und Jugendliteratur und zwar – grob formuliert – hat sie sich hinsichtlich der Formmerkmale und der Themen der Erwachsenenliteratur angenähert hatte. Dennoch beteiligt sich auch nach 2000 die Kinder- und Jugendliteratur an der Modellierung von Kindheits- und Familienbildern, greift pädagogische Diskurse wie Heterogenität und Inklusion auf. Bettina Kümmerling-Meibauer stellt in ihrem Band Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung zu Recht fest, dass insbesondere Übersetzungen aus dem skandinavischen Raum zu einem solchen Wandel beigetragen. Der Erzähler verzichtet beispielsweise auf Kommentierungen als literarischer Erzieher und lässt sich teilweise als neutraler Erzähler bezeichnen – der Ich-Erzähler wird selbstverständlich in der modernen Kinder- und Jugendliteratur aufgenommen, was zahlreiche Leerstellen sowie Mehrdeutigkeiten ermöglicht. Zugleich kann ein solches Erzählen die Zerrissenheit der kindlichen und jugendlichen Protagonisten in einer postmodernen Gesellschaft entwerfen. Hinzu kommen innere Monologe, Rückblenden, rasche Wechsel der Zeitebenen und Tempusformen, aber auch ein multiperspektivisches Erzählen.

Der Schluss bleibt oftmals offen und liefert den kindlichen Lesern/innen keine klaren Antworten und auch der Wertungsstandort hat sich in der Kinder- und Jugendliteratur gewandelt: Nicht der heterodiegetische Erzähler kommentiert und wertet das Handeln der Figuren, sondern jetzt sind es die Kinder und Jugendliche selber, die als Wertungsinstanzen eingeführt und sich nicht immer an den Normen und Werten der Gesellschaft orientieren. Selbst wenn ihr Standpunkt nicht den Normen entspricht, wird er nicht korrigiert. Dies bleibt letztendlich dem Leser bzw. der Leserin selbst überlassen. Ein Beispiel hierfür ist etwa der mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnete Roman Elefanten sieht man nicht (2012) von Susan Kreller, der u.a. 2013 für den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Jugendbuch nominiert wurde. Im Mittelpunkt steht das Mädchen Mascha, das ihre Ferien bei ihren Großeltern verbringt. Die Großeltern leben in einer gutbürgerlichen Siedlung, in der alles nach festen Regeln geschieht. Als Mascha bemerkt, dass die Geschwister Max und Julia Zuhause misshandelt werden, die Gemeinschaft das jedoch übersieht, um sich Ärger zu ersparen, beschließt sie zu handeln und entführt in einer Kurzschlussreaktion beide Kinder. Ihr Verhalten wird unterschiedlich bewertet und es bleibt schließlich dem Leser selbst überlassen, ihre Tat einzuordnen. Der Roman beginnt wie folgt:
Die Sache, die im blauen Haus passiert ist, hat mir viele böse Blicke und meinen Vater beschert. Die Blicke blieben bis zum Ende der Ferien, aber mein Vater ist schon nach zwei Stunden wieder abgereist. Ich hätte ihn gern noch länger hier gehabt und irgendwann vielleicht von ihm erfahren, dass das Falsche, das ich getan hatte, gar nicht falsch war, oder nur ein bisschen falsch, fast richtig. Aber alles, was ihm im Garten meiner Großeltern einfiel, war, ob das bitte schön nicht anders gegangen wäre.
(Kreller 2012, S. 9)
Erzählt wird die Geschichte, die hier unmittelbar einsetzt, in einer Rückblende aus der Sicht Maschas. Auf der Darstellungsebene erfolgen keine Lösungsangebote. Ähnlich wie Mascha muss auch der Leser selbst über das Geschehen urteilen. Pädagogische Unterweisungen, also genau das, was zu Beginn der Entstehung einer originären Kinder- und Jugendliteratur charakteristisch war, löst Kinder- und Jugendliteratur als Sozialisationsliteratur auf. Daraus ergibt sich eine Dichotomisierung der Kinder- und Jugendliteratur seit den 1990er Jahren: Es existiert eine unterhaltsame und eine anspruchsvolle Kinder- und Jugendliteratur (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012, S. 73). Hinzu kommt noch das, was Dieter Wrobel als „Zielgruppen-Literatur“ bezeichnet (Wrobel 2010, S. 7): Dazu gehört beispielsweise die Reihe Freche Mädchen – Freche Bücher aus dem Planet Girl-Verlag, der zu Thienemann gehört, sowie Reihen wie Die wilden Fußballkerle.[1] Diese Texte besitzen zudem einen breiten Medienverbund, der ebenfalls charakteristisch für die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur der letzten Jahre ist.

Die moderne Kinder- und Jugendliteratur ist nicht nur für unterschiedliche Leserkreise konzipiert, sie entzieht sich auch tradierten Genrezuschreibungen und greift auf postmodernes Erzählen zurück. Ähnlich wie auch die Erwachsenenliteratur vermischen kinder- und jugendliterarische Texte Versatzstücke, ordnen diese neue und stellen intertextuelle Bezüge her. Als ein neues und seitdem äußerst populäres hybrides Genre ist die so genannte Steampunk Novel, in dem Science-Fiction-Elemente und eine historische Kulisse, insbesondere das viktorianische England, miteinander verbunden werden. Auch hier werden unterschiedliche Genrebezeichnungen kombiniert. Der gegenwärtige moderne Kinderroman entzieht sich den tradierten Subgattungen, also den problemorientierten, psychologischen oder komischen, und vermischt diese. Prominente Beispiele hier dürften die Romane von Salah Naoura, Tamara Bach, Finn-Ole Heinrich, Elisabeth Steinkellner und Andreas Steinhöfel sein.

Thematische Öffnung und Veränderungen in der Kinder- und Jugendliteratur nach 2000

Bereits seit den 1970er Jahren zeichnet sich die Kinder- und Jugendliteratur durch eine thematische Öffnung aus und reagiert damit auf den Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung. Die Kinder- und Jugendliteratur modelliert und konstruiert Mädchen-, Jungen- und Erwachsenenbilder, setzt sich mit gesellschaftlichen Diskursen auseinander.

Kindheit und Familie im Wandel

Eines der wichtigsten Motive der Kinderliteratur ist die Familie und der Blick auf die vielfältigen Familienformen wandelt sich. Während in den 1970er Jahren Familie als ein Raum der glücklichen Kindheit aufgelöst wurde, psychische und physische Gewalt thematisiert wurde, kamen nach und nach die unterschiedlichen Familienformen wie alleinerziehende Elternteile, Patchwork-Familien und gleichgeschlechtliche Elternpaare hinzu. Autorinnen wie Kirsten Boie nehmen sowohl mit Blick auf Kindheit als auch auf Familie eine herausragende Rolle ein, denn ihre Werke zeichnen fast mit einer seismografischen Genauigkeit die unterschiedlichen Familienmuster nach. Während sie sich in ihrem psychologischen Kinderroman Mit Kindern redet ja keiner (1990) mit patriarchalen Familienkonstellationen, Depression als Folge auseinandersetzt, wendet sie sich in Nella-Propella der alleinerziehenden Mutter, in Mit Jakob wurde alles anders (1986) der Frage, ob nicht auch der Vater Elternzeit nehmen kann, um in den Sommerby-Bänden (2018-2021) eine ungewöhnliche Großmutter zu beschreiben und unterschiedliche Erziehungsstile vorzustellen.

Hinzu gesellt sich auch seit der Jahrtausendwende ein ironischer, aber auch ein kritischer Blick auf die Elterngeneration, wie ihn bspw. Anke Stelling in ihrem Kinderbuch Erna und die drei Wahrheiten (2017) präsentiert. Erna lebt in einem Berliner Mehrfamilienhaus, das als Gemeinschaftshaus funktioniert. Sie besucht eine Montessorischule und betrachtet das alternative Lebenskonzept ihrer Eltern kritisch. Sie wünscht sich den Besuch eines Gymnasiums und damit stellt der Roman auch die Frage, ob die Lebenskonzepte der Elterngeneration, die ein Miteinander praktizieren, den Kindern Raum zur Entwicklung lassen. Auch Silke Lambeck zeigt in ihrem mehrfach prämierten Kinderbuch Mein Freund Otto, das wilde Leben und ich (2018) unterschiedliche Familienkonzepte und zwei Jungen, die durchaus ironisch auf die Bemühungen ihrer Elternteile blicken. Ähnlich wie Stelling verortet auch Lambeck ihre Geschichte in Berlin, genauer am Prenzlauer Berg, und verweist auf Gentrifizierung. Stefanie Höfler dagegen arbeitet in ihrem mehrfach ausgezeichneten Roman Mein Sommer mit Mucks (2015) nicht nur mit kontrastierenden Familienbildern, sondern zeigt auch, wie ein liebevolles Zuhause Kinder stärken kann. Im Mittelpunkt stehen die Kinder Mucks und Zonja. Mucks ist neu in der Stadt, Zonja hat aufgrund bestimmter „Ticks“ keine Freunde, vermisst aber aufgrund des liebevollen Zuhause nichts. Mit Mucks erfährt sie, was Freundschaft, aber auch, was eine zerrüttete Familie bedeuten kann.

Die Kinder- und Jugendliteratur kennt alleinerziehende Mütter, die wechselnde Beziehungen haben, aber auch alleinerziehende Väter, ohne dass eine erzählende Wertungsinstanz die Familienmodelle bewertet. Es sind die kindlichen und jugendlichen Stimmen, die die Konstellationen einordnen und sich in ihnen zurecht finden müssen. Mit Familie Flickenteppich (2019-2021) erzählt Stefanie Taschinski über eine Familie, in der die Mutter gegangen ist, im in Australien Musik zu machen. Zurück bleiben die Kinder und ein Vater, der eine neue Wohnung suchen und Arbeit und Familien vereinbaren muss. Das, was lange Zeit vor allem aus weiblicher Sicht erzählt wurde, verändert sich. Es sind auch Väter, die sich um ihre Kinder liebevoll kümmern, um sie im Falle einer Trennung wie in den Maulina Schmidt-Bänden (2013-2014) von Finn-Ole Heinrich kämpfen und trotz Verletzungen nicht aufgeben. Dabei kämpfen alleinerziehende Väter oft mit ähnlichen Überforderungen und brauchen Hilfe. Diese bekommen sie und das Mehrfamilienhaus wird, wie etwa in Familie Flickenteppich, zu einer Ersatzfamilie, in der man sich unterstützt. Es wird das Bild einer Mehrgenerationenfamilie entworfen, die auch ohne verwandtschaftliche Beziehungen funktioniert. Die Rolle der Großeltern verändert sich ebenfalls, denn sie werden aktiver. Insgesamt lässt sich festhalten, dass in den Büchern Kindern und Erwachsenen auch eigene Lebensräume ermöglicht werden, ohne dass die Kinder sich vernachlässigt fühlen – arbeitende Eltern sind fester Bestandteil.

Autorinnen wie Judith Burger, Dita Zipfel oder Tamara Bach wenden sich in ihren Romanen wie Roberta verliebt (2019), Ringo, ich und ein komplett ahnungsloser Sommer (2021), Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte (2019) oder Wörter mit L (2019) dem Überschreiten von Kindheit zu Jungend zu und thematisieren u.a. auch die Irrungen und Wirrungen der ersten Liebe. Dabei zeigen die Autorinnen sensibel, wie konfliktreich, aber auch schmerzhaft der Übergang von Kindheit zur Jugend sein kann. Es ist eine Thematik, die noch zu wenig im Kinderbuch zu finden ist, jedoch für die Entwicklung der jungen Leserinnen und Leser hilfreich ist. Nicht nur die Phase der Adoleszenz ist mit Veränderungen verbunden, auch der Übergang in diese.
 

Forschungsliteratur

  • Gansel, Carsten: All-Age-Trends und Aufstörungen in der aktuellen Literatur für junge Leser. In: Der Deutschunterricht H. 4, 2012, S. 2-11.
  • Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. Cornelsen: Berlin 42010.
  • Kliewer, Annette (2004): Pädagogik der Vielfalt: Zoran Drvenkar: Niemand so stark wie wir. In: Kliewer, Annette/Schilcher, Anita (Hg.): Neue Leser braucht das Land! Zum geschlechterdifferenzierenden Unterricht mit Kinder- und Jugendliteratur. Schneider: Hohengehren, S. 172-181.
  • Kümmerling-Meibauer, Bettina: Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung. WBG: Darmstadt 2012.
  • Wrobel, Dieter: Individualisiertes Lesen. Leseförderung in heterogenen Lerngruppen. Theorie – Modell – Evaluation. Schneider: Baltmannsweiler 2008.
  • Wrobel, Dieter: Kinder- und Jugendliteratur nach 2000. In: Praxis Deutsch, Nr. 224, 2010, S. 4-11.
 
[1] Innerhalb der Kinder- und Jugendliteraturforschung und Literaturdidaktik werden diese Bücher im Kontext einer Leseförderung diskutiert (vgl. u.a. Wrobel 2008 und 2010).

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