Inspirador Wie São Paulo Bedürftige mit Lebensmitteln versorgt

Der Bio-Markt in der Lagerhalle der Frente Agroecologia Urbana zieht viele Anwohner*innen an.
Der Bio-Markt in der Lagerhalle der Frente Agroecologia Urbana zieht viele Anwohner*innen an. | Foto (Detail): Frente Agroecologia Urbana

Ein Solidaritätsnetzwerk aus São Paulo hat ein Kreislaufsystem für die Produktion von Nahrungsmitteln aufgebaut, das logistische Unterstützung und Lebensmittelspenden miteinander kombiniert. Es vernetzt dabei Landwirt*innen sowohl mit Verbraucher*innen als auch mit bedürftigen Bevölkerungsgruppen.

Der Inspirador ist ein Projekt, mit dem Ziel, nachhaltige Städte neuzudenken, indem es inspirierende Beispiele aus mehr als 32 Orten auf der ganzen Welt identifizierte und präsentierte. Die Forschung systematisiert die Fälle und Ideen in verschiedene Kategorien, gekennzeichnet durch Hashtags. 

#entwicklung_neudefinieren 
Die Tage des Begriffs ‚Entwicklung‘, wie er in den letzten Jahrzehnten definiert wurde, sind gezählt. Traditionelle Werte werden als Teil eines Prozesses überdacht, der auch durch neue Technologien und die Klimakrise vorangetrieben wird. Einige Städte haben verstanden, dass es dringend notwendig ist, das Ausmaß der Stadtentwicklung neu zu definieren; sie haben daher ihren Kurs angepasst, um inklusiver, vielfältiger und regenerativer zu agieren. Welche Möglichkeiten gibt es, den eigenen Lebensstil so zu verändern, dass er weniger räuberisch der Natur gegenüber ist, ohne jedoch den technologischen Fortschritt der Gesellschaft zu verleugnen?

In städtischen Gebieten kann eine Lagerhalle als Plattform für wichtige Initiativen dienen. Die Halle, in der die Frente Agroecologia Urbana* (Urbane Agrarökologische Front) untergebracht ist, fungiert zum Beispiel als gewerbliches Lager und Markt für Bio-Lebensmittel. Seit August 2020 unterstützt diese Initiative Kleinbäuer*innen im Großraum São Paulo, indem sie ihnen die nötige Infrastruktur zur Verfügung stellt.

Lebensmittel weit weg von den Menschen

Durch die Pandemie gerieten viele Menschen in eine schwere Notlage, und es herrschte wieder Hunger in Brasilien, vor allem unter Arbeiter*innen in informellen Beschäftigungsverhältnissen. „Wir haben angefangen, als die Pandemie ausgebrochen ist“, sagt Claudia Visoni, Landwirtin und Kongressabgeordnete aus São Paulo und eine der Gründerinnen der Frente Agroecológica Urbana, einer Initiative, die eng mit der agrarökologischen Bewegung in der Stadt zusammenarbeitet.
 
Wie in vielen anderen Teilen des Landes auch, sehen sich die agrarökologisch wirtschaftenden Bäuer*innen im Großraum São Paulo mit großen Hindernissen konfrontiert, was die Verteilung ihrer Ernte angeht, und gehören damit zu jenen Gruppen, die besonders von Ernährungsunsicherheit betroffen sind. Agrarökologie bezeichnet eine nachhaltige Form der Lebensmittelproduktion, die sich darauf konzentriert, natürliche Ressourcen und Prozesse bestmöglich zu nutzen, ohne die Umwelt dabei zu schädigen. Sie richten sich nach den Werten der Permakultur, einem Ansatz zur Landbewirtschaftung, der sich an der Beschaffenheit natürlicher, florierender Ökosysteme orientiert. Landwirt*innen, die Agrarökologie und Permakultur betreiben, streben danach, die Nahrungsmittelerträge im Sinne einer ausgewogenen Ernährung zu verbessern, faire Märkte für ihre Produkte zu fördern, gesunde Ökosysteme zu stärken und auf dem Wissen und den Bräuchen ihrer Vorfahr*innen aufzubauen. Durch COVID-19 waren diese Menschen jedoch nicht mehr in der Lage, sich selbst zu versorgen.
 
„Das Projekt begann damit, dass wir die einzelnen Punkte miteinander verknüpft haben. Auf der einen Seite die Landwirt*innen, denen die Mittel fehlten, um ihre Produkte zu vertreiben, und auf der anderen Seite die Menschen, die Lebensmittel dringend benötigen”, erklärt Claudia. Das Projekt hat gewissermaßen als „anticorpos agroecologicos“ (ökologische Antikörper) begann, indem sie und ihre Mitstreiter*innen damit anfingen, Spendengelder für agrarökologische Landwirt*innen zu sammeln, um sie im Tausch gegen verfügbare Erzeugnisse jeder Art zu verteilen. Diese Erzeugnisse wurden dann in periphere, von der Hungersnot betroffene Gemeinden gebracht. Von April bis September 2020 wurden so mehr als 10 Tonnen Lebensmittel von mehr als 200 Bio-Bäuer*innenfamilien produziert und an über 800 Gemeinden verteilt.

Urbane Agrarökologische Allianz

Für kleine agrarökologische Bäuer*innen ist die Logistik eine der größten Herausforderungen. „Nicht selten werden sie zutiefst ausgebeutet von Leuten, die ihnen ihre Ernte zu einem geringen Preis abkaufen“, sagt Claudia. Deshalb war es notwendig, ein Lager aufzubauen, um den Bäuer*innen beim Vertrieb ihrer Produkte in der Stadt zu helfen, da ihnen der Zugang zu den großen Lebensmittelsilos fehlt. Die Gruppe mietete daraufhin ein Grundstück und schuf ein gemeinschaftliches Fair-Trade-Lager. Als Gegenleistung für die Bereitstellung dieser Infrastruktur leisten die Bäuer*innen einen symbolischen Beitrag von bis zu 100 Reais (umgerechnet 15 Euro).
 
Das Projekt wurde anschließend weiterentwickelt und änderte seinen Namen in Urbane Agrarökologische Allianz, mit dem Ziel, in allen Phasen der Lebensmittelproduktion aktiv zu werden. Für dieses neue Kapitel sind vier Arbeitsbereiche in Planung: Die Gruppe will Gärten in den Außenbezirken der Stadt anlegen, technische Hilfe und finanzielle Unterstützung anbieten, die Ernährungssicherheit der Gemeinden fördern und neue Zentren für Umweltbildung schaffen. Darüber hinaus plant sie, Kleinbäuer*innen mit Hilfe eines Lagers logistisch zu unterstützen und einen Markt für den fairen Handel mit naturbelassenen Lebensmitteln aufzubauen. Außerdem will die Allianz weiterhin Lebensmittel spenden, Menschen miteinander vernetzen und den Hunger bekämpfen.
 
Ziel des Projekts ist es, eine Parallelwirtschaft zu schaffen, basierend auf sozial-ökologischer Regeneration und ermöglicht durch Spenden, das Lagerhaus, neue Märkte und die Gemüsegärten – ein ganzes System also, das gemäß einer ganz anderen Logik funktioniert.

„Wir haben verstanden, dass wir es mit einem ‚Engelskreis‘ zu tun haben.“

Claudia Visoni

Wertschätzung für die Landwirt*innen

Um den Menschen helfen zu können, ist es entscheidend, ihre tatsächlichen Bedürfnisse zu verstehen. „Viele Leute haben dieses Bild im Kopf, dass Bäuer*innen unwissende Menschen sind, die geringe Schulbildung haben“, sagt Claudia und stellt damit Initiativen in Frage, die Bildungsprogramme ohne die entsprechenden Subventionen oder Infrastrukturen anbieten. Sie weist darauf hin, dass die meisten staatlichen Investitionen in Brasilien für den Export landwirtschaftlicher Erzeugnisse bestimmt sind und es keine Unterstützung für kleine Landwirt*innen gibt, die auf agrarökologische Weise Nahrungsmittel produzieren.
 
„Sie wollen, dass die Bäuer*innen Kurse besuchen, obwohl sie es eigentlich sind, die traditionelles Wissen bewahren. Sie wissen eine Menge, werden aber nicht genug gehört und haben keinerlei Ressourcen, um sich Gehör zu verschaffen. Ein Bauer hat mir einmal gesagt: ‚Ich will keine Schulungen mehr, ich will Ressourcen.‘“ In diesem Zusammenhang weist Claudia darauf hin, dass die Interessen der Bäuer*innen besser vertreten werden müssten, weshalb es wichtig ist, für ihre vermehrte Einbeziehung in Regierungsgremien zu kämpfen. „Das schafft eine Perspektive, die auf gelebter Erfahrung basiert“, wie sie betont.
 
Die Urbane Agrarökologische Allianz orientiert sich an den Erfahrungen der Beteiligten, sowohl was Aktivismus, als auch was Permakultur angeht. „Viele von uns kommen aus dem Bereich der Permakultur und sprechen daher von kleinen, langsamen Veränderungen. Wir lernen jeden Tag dazu“, sagt Claudia, die seit acht Jahren im Horta das Corujas (Eulengarten) arbeitet, einem Gemeinschaftsgarten auf einem öffentlichen Gelände in São Paulo.
 
Denjenigen, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen und aktiv werden wollen, rät sie, klein anzufangen, und zwar mit den Mitteln, die unmittelbar vorhanden sind – und auch, gleich loszulegen und aus Fehlern zu lernen, Schritt für Schritt.

Essen für alle – so einfach und doch so kompliziert

„Unsere Wirtschaftsordnung ist sehr effektiv, wenn es darum geht, negative Auswirkungen zu verursachen: Ausbeutung der Natur, Ausbeutung der Menschen, Ungleichheit, Umweltverschmutzung... und wir machen das Gegenteil davon“, sagt Claudia. Die größte Herausforderung dabei ist jedoch die Finanzierung. Das Projekt expandiert und braucht dringend Geld, um Stabilität in seine prekäre Finanzlage zu bringen.

„Es ist erstaunlich, aber die Auswirkungen des Projekts sind durchweg positiv.“

Claudia Visoni

Für die Aktivist*innen des Projekts ist nicht alles eitel Sonnenschein, aber sie sind hoch motiviert. „Was mich antreibt, ist ein Satz, der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht: Nahrung für alle. Zu handeln, um ein System zu schaffen, das den Zugang zu guten, fairen, naturbelassenen Lebensmitteln fördert. Das erfordert eine Vielzahl von Lösungsansätzen“, sagt Claudia. Was das Projekt für sie besonders interessant macht ist die Möglichkeit, ein neues System auf Basis eines regenerativen Kreislaufs aufbauen zu können.
 
Momentan ist das Lagerhaus das Herzstück der Urbanen Agrarökologischen Allianz. Wenn man den Raum betritt, sieht man handgefertigte Produkte und saisonales Gemüse Seite an Seite mit engagierten Freiwilligen, Bäuer*innen und den Flaggen sozialer Bewegungen. Alle sind freundlich und bereit, ihr Wissen über die Bedeutung von nachhaltiger und familiärer Landwirtschaft weiterzugeben. Es mag vielleicht wie eine kleine, simple Idee erscheinen, aber wenn man genau hinschaut, erkennt man ihre Stärke: Es handelt sich hierbei um die kräftige Saat von etwas Neuem.

* Seit der Veröffentlichung dieser Kolumne hat die Frente Agroecologia Urbana ihren Namen in Frente Alimenta (Allianz für Ernährung) geändert.
   

In dieser Reihe geht es um:

Das Projekt „Inspirador für mögliche Städte“ von Laura Sobral und Jonaya de Castro zielt darauf ab, Erfahrungswerte aus Bürger*inneninitiativen, akademischen Kontexten und politischen Maßnahmen zu identifizieren, die sich an Transformationsprozessen hin zu nachhaltigeren, kooperativeren Städten beteiligen. Wenn wir davon ausgehen, dass unsere Lebensweise und unsere Konsumgewohnheiten die Auslöser der Klimakrise sind bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere Mitverantwortung einzugestehen. Grüne, geplante Städte mit autonomer Nahrungsmittelversorgung und einer Abwasserentsorgung auf Grundlage natürlicher Infrastrukturen können ein Ausgangspunkt für die Entwicklung der neuen Vorstellungswelt sein, die für diesen Wandel notwendig ist. In dem Projekt werden öffentliche Maßnahmen und Gruppeninitiativen aus der ganzen Welt vorgestellt, die auf die Möglichkeit anderer Lebensweisen aufmerksam machen.   Das Projekt systematisiert inspirierende Fälle und Ideen in den folgenden Kategorien:
#entwicklung_neudefinieren, #raum_demokratisieren, #ressourcen_(re)generieren, #zusammenarbeit_intensivieren, #politische_vorstellungskraft