Digitales Krisenunterricht oder digitales Mittelalter?

Weltweit werden wegen der Corona-Pandemie gesellschaftlich relevante Abläufe und Strukturen unterbrochen oder enorm eingeschränkt. Aus gesundheitlicher Sicht gelten Kinder zum einen als besonders schutzbedürftig, sind zum anderen sind sie aber seltener von Covid-19 betroffen. Wie gehen die Regierungen, die Ministerien, aber auch SchülerInnen und Eltern in Deutschland mit dieser Herausforderung um? 

Von Ann Katrin Meier 

Von Ann Katrin Meier

Krisenunterricht oder digitales Mittelalter? pixabay
In Deutschland wurden ab dem 16. März 2020 Schulen, Kindergärten und Universitäten geschlossen, der Unterricht wird über das Internet oder durch zugeteilte Aufgaben aus Heften und Büchern fortgesetzt. Für Studenten ist zumindest das selbstständige Online-Lernen nichts Neues, doch für die knapp 8,33 Millionen SchülerInnen an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland ist die Veränderung noch massiver.Sie müssen ganz eigenverantwortlich von zuhause lernen und die bereitgestellten Lernangebote selbst erlernen oder durch die Eltern beibringen lassen. 

Eltern sind jetzt Lehrer und Betreuer zugleich. 
 
Eltern und SchülerInnen haben zu dieser Herausforderung geteilte Meinungen. „Mein Sohn genießt es, nicht zur Schule zu gehen. Er kann länger schlafen.“ erzählt Tanja aus Hamburg. Die Hausfrau und ihr berufstätiger Mann sind zwar von der Krise herausgefordert, aber das häusliche Leben verändert sich nicht ganz so drastisch wie bei anderen Familien. Der elfjährige Sohn kann vor Lernbeginn länger schlafen und auch der Schulweg fällt aus, einige der wenigen angenehmen Überraschungen der Ausgangsbeschränkungen. Praktisch sieht es aber so aus: „Hausaufgaben kommen online, bei technischen Fragen ist mein Mann für unseren Sohn zuständig. Ansonsten arbeitet er meistens selbständig und er muss auch Sachen zurückschicken“ erzählt Tanja. Bei „Lernmotivation und Struktur“ unterstützte sie ihn „mit ordnender Hand“. 
 
 
Für die vierköpfige Familie von Nicole ist die Situation schwerer. Der neunjährige Fabius und die zweijährige Isy werden abwechselnd von den Eltern betreut, das Lernen ist an die Arbeitszeiten der Eltern angepasst. Mutter Nicole arbeitet überwiegend vormittags, Vater Jan beginnt erst zur Spätschicht, er „bespaßt“ die Kinder deshalb tagsüber. 
„Wenn ich mittags nachhause komme, lege ich unsere Tochter erstmal zum Mittagsschlaf hin“, erklärt Nicole den Tagesablauf. „Dann kann ich mit Fabius natürlich auch intensiver Hausaufgaben machen. Aber die Kinder sind richtig demotiviert, es ist nicht wie in der Schule, dass jemand wirklich richtig da ist und es ihnen richtig erklären kann. Viele Sachen sind auch einfach anders, schwieriger zu erklären.“ 
Im Normalfall werden viele SchülerInnen erst in der 5. Klasse an die Selbstständigkeit herangeführt. Nun müssen statt pädagogisch ausgebildeten Lehrkräften die Eltern auch diese Aufgabe übernehmen. Für GrundschülerInnen ist es eine große Herausforderung, den Unterricht zuhause vom häuslichen Leben zu trennen. „Wir haben diverse Internetseiten gekriegt. Doch bisher arbeite ich mit Fabius nur in seinen Heften. Es ist sehr schwer die Kinder zu motivieren Hausaufgaben zu machen bzw. etwas wirklich intensiv zu lernen. Fabius ist auch ein Kind, das Förderbedarf hat,“, berichtet die zweifache Mutter. Der 9-Jährige vermisse sowohl seine Freunde als auch seine Lehrer. 

Der Best-Practise Plan bleibt reine Theorie.

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Seit der landesweiten Schulschließung im März hat die Bundesregierung sämtliche Veränderungen an die Bevölkerung kommuniziert, ebenso das Bildungsministerium. Mit der ersten Verordnung vom 13. März 2020 wurden Schulen in Baden-Württemberg als „{e}ilige Maßnahmen zur Eindämmung einer Ausbreitung des Coronavirus“ geschlossen. In dieser wurde die Maßnahme der Schulschließung bis vorerst Ostern erläutert. Vergleichbare Maßnahmen wurden in allen anderen Bundesländern durchgeführt. Obwohl der Zeitpunkt der Schließungen variierte, verfolgten doch alle Schulen denselben Plan. Die Lehrer sollen während der normalen Unterrichtszeiten erreichbar sein und Lernangebote bereitstellen, die von den SchülerInnen zuhause bearbeitet werden. Für die Kommunikation sind „E-Mail, Telefon oder andere digitale Kanäle“ vorgesehen.
Wie aber soll diese hauptsächlich internetbasierte Kommunikation stattfinden? 
 
 
In Hamburg wurde schon im Herbst 2018 eine Beta-Version eines E-Learning Portals <digital.learning.lab> vorgestellt, das durch ständige Rückmeldungen verbessert werden soll. Andere Bundesländer wie Bayern oder Berlin haben eigene Internet-Portal für den virtuellen Unterricht entwickelt. In Bayern ist das „mebis“-Programm seit 2017 für alle öffentlichen Schulen und SchülerInnen kostenlos verfügbar und leitet die Nutzer sogar zu Lernvideos des Bayrischen Rundfunks weiter. 
Laut einer repräsentative Umfrage des Deutschen Schulportals sehen die Lehrkräfte zwei Hauptgründe für die fehlende Entwicklung von Online-Unterricht: 28% nennen den Mangel an digitaler Ausstattung der SchülerInnen, 21% die Schwierigkeiten der Lehrer bei der Erstellung geeigneter digitaler Unterrichtsinhalte als die größten Herausforderungen in dieser Krise.  Die Ursache könnte laut 66% der Lehrer darin liegen, dass die Schulen nicht angemessen mit technischer Ausrüstung auf diese Situation vorbereitet waren. Dadurch schlägt die Online-Kommunikation zwischen Lehrkräften und SchülerInnen oft fehl. Stattdessen wird auf altbekannte Mittel wie Aufgabenblätter zurückgegriffen, die lediglich per E-Mail versandt werden. 

Deutschland versagt als Industrieland in der digitalen Bildung.
 
Ein EU-weites Ranking vom November 2019 durch das Centre for European Policy zeigt, wie sehr Deutschland im Thema internetbasierter Unterricht hinterherhinkt. Das Ranking bewertet die EU-Mitgliedsstaaten, wie sehr sie sich an der Entwicklung zum digitalem Lernen beteiligen, ebenso Fortschritte im internetbasiertem Bildungssektor. Deutschland landet dabei auf Platz 27, als letztes Land unter allen EU-Staaten. Gleichermaßen verantwortlich dafür sind: das bundesweit zu geringe Lernwachstum der SchülerInnen, die negative Einstellung zum digitalen Bildungssektor und die Tatsache, dass die Lehrkräfte nicht ausreichend ausgebildet sind, die SchülerInnen mithilfe digitaler Plattformen zu unterrichten.  Das Ranking des CEPS schlägt den jeweiligen Regierungen unterschiedliche Lösungsansätze vor, zum Beispiel eine Anpassung oder Verbesserung der Nutzungsdaten. Andere Vorschläge müssten von den Bildungsministerien der Länder und den Schulen umgesetzt werden. Dazu gehört, die Lehrkräfte besser im Umgang mit digitalen Medien zu schulen. 
 
 
Aktueller ist eine Studie des Branchenverbands bitkom zur Einstellungen von SchülerInnen. Von den 500 befragten SchülerInnen sehen ca. 59% das Fehlen von digitalen Medien im Unterricht als Problem, ebenso wie die fehlende technische Ausstattung der Schulen (56%). Den Lehrern selbst stellen die SchülerInnen ein überwiegend gutes digitales Zeugnis aus: 58% sagen, ihre Lehrer stünden digitalen Medien überwiegend positiv gegenüber, 21 % halten sie sogar für „Technik-Fans“. Im Widerspruch dazu steht die Einschätzung von 51% der SchülerInnen, „viele Lehrer“ hätten “keine Lust, digitale Medien im Unterricht einzusetzen“.  Ist das wahre Hindernis des medialen Einsatzes also die schlechte Ausstattung der Schulen oder die Motivation der Lehrkräfte? 

Die Krise sollte als Lernfaktor genutzt werden. 
 
Bildung und Politik haben sich auf die Corona-Pandemie eingestellt, in den meisten Bundesländern geht es in unterschiedlich großen Schritten in Richtung Normalbetrieb. Schulen dürfen seit dem 4. Mai wieder eingeschränkt öffnen und seit Mitte Juni kehren die meisten Schulen in Deutschland langsam wieder zum normalen Schulbetrieb zurück. 
Natürlich nur, wenn Hygienemaßnahmen eingehalten und damit weitere Covid-19-Ausbrüche eingegrenzt bzw. verhindert werden. Dennoch bleiben einige Vorsichtsmaßnahmen, viele Klassen haben zu unterschiedlichen Zeiten Unterricht und weiterhin soll vieles zuhause selbst gelernt werden. Wie Deutschland die Herausforderungen im Krisenunterricht nach dem Ende der Pandemie auswertet, ist noch unklar, doch rechnen Experten und Verantwortliche auch nach Ende der Sommerferien nicht mit einer Rückkehr zur Normalität vor der Krise. Die Hoffnung bleibt, dass alle Beteiligten, von Eltern über Schulen bis zur Politik, mit den Erfahrungen der Krise das digitale Lernen nachhaltig verbessern.