Gesellschaft Ein Crashkurs in Sachen Wissenschaft



 

Von Florian Heide

FH: Herr Keller, wie funktioniert die Corona-Forschung?

RK: Der wissenschaftliche Prozess läuft ab wie immer, nur etwas beschleunigter: Expertinnen und Experten, vor allem aus der Virologie und Epidemiologie, formulieren zu einer bestimmten Forschungsfrage Annahmen über Zusammenhänge und versuchen, diese durch systematische Vergleiche und Erhebungen zu festigen. Dafür werden die Ergebnisse veröffentlicht und von der Fachöffentlichkeit diskutiert. Die Forscherinnen und Forscher bearbeiten ihre Hypothese solange, bis sie „robust“ ist, das heißt, den meisten Gegenprüfungen standhält, oder verwerfen sie, wenn sie den Ansprüchen nicht genügt. Daran wird vor allem deutlich: Wissenschaftliche Ergebnisse, Aussagen, Zahlen und Fakten müssen hart erarbeitet und ständig bearbeitet werden. Nur so entsteht eine solide Faktengrundlage.

FH: Welche Besonderheiten bringt eine globale Pandemie für die Forschung mit sich?

RK: Eine der größten Unterschiede zu anderen Katastrophenszenarien ist, dass der politische Druck von Anfang an sehr hoch war und auch noch immer ist. Wir alle sind unmittelbar von den Folgen der Pandemie betroffen. Die Politik muss deshalb schnell handeln und braucht dazu verlässliche Aussagen aus der Wissenschaft. Dieser Druck wird dadurch verstärkt, dass die Kolleginnen und Kollegen quasi live arbeiten. Der wissenschaftliche Arbeitsprozess fand in den vergangenen Monaten unter ständiger öffentlicher Beobachtung und Kommentierung statt, jedes noch so vorläufige Forschungsergebnis wurde von den großen Medien diskutiert. Insofern sind wir alle Zeugen von etwas geworden, was normalerweise unbeachtet an den Universitäten und in Forschungseinrichtungen stattfindet.

FH: Leidet die Qualität der Forschungsergebnisse unter diesen Umständen?

RK: So pauschal würde ich das nicht sagen, es gibt ja trotzdem die üblichen Qualitätssicherungsprozesse wie Labortests und ständige Gegenprüfungen, auch wird Kritik von anderen Experten vorgebracht. Trotzdem kann es zu voreiligen Schlussfolgerungen oder Fehlern kommen: Messgeräte können falsch messen oder die Zahl der Infizierten ungenau sein, weil nicht alle Kranken getestet werden. Solche Irrtümer zeigen sich leider immer erst im Nachhinein. Trotzdem muss man davon ausgehen, dass die Argumente nach den bestmöglichen Standards getroffen wurden und in der momentanen Situation nicht anders beurteilt werden konnten. Um den Vorwürfen entgegenzuwirken, waren die Forschenden sehr vorsichtig mit ihren Aussagen, vor allem als die Todeszahlen stiegen: Sie gingen vom schlimmsten Szenario aus und korrigierten sukzessive im Nachhinein.

FH: Wie kann es sein, dass es unterschiedliche Annahmen über das Virus gibt?

RK: Die Konkurrenz von Theorieangeboten gehört zum normalen Wissenschaftsgeschäft und ist in allen Fächern notwendig. Nur durch die Auseinandersetzung mit klarer Kritik anderer Expertinnen und Experten können Argumente geschärft und die eigene Theorie gefestigt werden. Solche Theorien sind nie das Werk von Einzelnen. Meistens verfolgt eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gemeinsam bestimmte Annahmen, und dabei stehen sie in Diskussion und Konkurrenz mit anderen aus dem Fachgebiet. Häufig wird nach und nach die Übereinstimmung immer größer und es entsteht ein Konsens. Dieser Austauschprozess ist sozusagen der Motor der Forschung. Wir sehen das auch in der Klimakrise: Seit 40 bis 50 Jahren – eigentlich sogar noch länger - wird dazu geforscht, und inzwischen gibt es eine große Übereinstimmung darüber, wie sich die Temperaturen verändern werden und welche Auswirkungen das hat. Trotzdem gibt es im Detail immer noch unterschiedliche Annahmen über Zusammenhänge, etwa warum und wie schnell die Meeresspiegel steigen. Die Grundannahmen jedoch werden nicht mehr in Frage gestellt. Diesen Konsens gibt es zwar auch bei Covid-19, doch es wird noch einige Zeit brauchen, bis er sich gefestigt hat. Das wird die Aufgabe der Wissenschaften in den kommenden Jahren sein.

FH: Sie sagten vorhin, Politiker benötigen in Corona-Zeiten schnell wissenschaftliche Ergebnisse. Beeinflusst das Wissen um die unmittelbaren politischen Auswirkungen die Forschung?

RK: Natürlich sind wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer wieder naiv in Bezug darauf was passiert, wenn wir Zahlen nach außen geben. Wir stellen oft fest: Sie können anders gelesen werden oder es wird etwas ganz anderes daraus gemacht. Gerade bei solchen Zahlen wie den Infektionsraten oder Todeszahlen ist es wie mit dem Wasserglas: Für die einen ist es halbvoll, für die anderen halbleer. Die Politik folgt bei der Beurteilung von Prognosen eben einer anderen Rationalität. Es geht ihr nicht darum, etwas ganz exakt zu wissen, um dann erst zu handeln. Vielmehr müssen dauernd Abwägungen zwischen unterschiedlichen Interessen getroffen werden, beispielsweise ökonomischen und medizinischen, aber auch familien- und sozialpolitischen, oder moralisch-ethischen Erwägungen. Und das alles eben auf der Grundlage von möglichst gut erzeugtem, aber dennoch notgedrungen vorläufigem Wissen aus der Wissenschaft. Insofern bleibt den Politikern immer die Möglichkeit, bestimmte Zahlen als besorgniserregend oder beruhigend zu interpretieren. Dass die Politik aber Forschungsergebnisse beeinflusst oder dass deshalb gewünschte Ergebnisse herauskommen, dem ist nicht so. Die sind – zumindest die der öffentlich geförderten Forschung – nach wie vor autonom.

FH: Wie lassen sich Fake News als solche identifizieren?

RK: In Bezug auf das Virus kursieren viele Geschichten, die an urbane Mythen erinnern, also Aussagen über echte oder angebliche Beobachtungen, aus denen etwas geschlussfolgert und dann als Tatsache präsentiert wird. Solche Aussagen scheitern im Gegensatz zu wissenschaftlich fundierten Kenntnissen schnell an der Überprüfung: Wer Desinfektionsmittel trinkt, wird nicht von einem Virus geheilt, sondern kann im schlimmsten Fall sterben. Gerade im Kontext der USA können wir momentan aber auch eine andere Funktion beobachten: Manche Fake News sind nicht nur Falschbehauptungen, sie dienen auch der Denunziation von Nachrichten, die nicht der eigenen politischen Einschätzung entsprechen. Der amerikanische Präsident tätigt Aussagen, die sich keineswegs argumentativ mit der Sachlage auseinandersetzen. Es bleibt bei bloßen Gegenbehauptungen, die nie überprüft werden und den einzigen Zweck haben, die eigene Anhängerschaft zu mobilisieren.

FH: Das heißt Fake News erfüllen auch eine politische Funktion?

RK:  Wenn Fake News systematisch verwendet werden, dann in der Regel mit dem Zweck, eine Gegenidentität aufzubauen und die Meldungen zu diskreditieren, die man politisch nicht haben will. Über andere zu sagen, sie würden Fake News verbreiten, bedeutet gleichzeitig, dass man selbst sagt, wie es wirklich ist. Wer sich Fake News bedient, schafft eine Identitätsgemeinschaft, wird also Teil einer Gruppe, die sich oft um eine Kernaussage oder eine Person herum versammelt und untereinander keine Argumente mehr austauscht, sondern eine Gesamtdiskreditierung oder ein totales Abstreiten der Weltsicht anderer betreibt. An einem solchen Punkt mündet die öffentliche Debatte oft in einem Streit ums große Ganze: Gibt es das Virus überhaupt oder ist es nur erfunden? Insofern ist die Frage, ob jemand systematisch Fake News nutzt, auch immer eine Frage der Identitätspolitik - und die Corona-Krise ein Fokusereignis für jene, die sich ohnehin nicht zum Mainstream zählen. Wenn man versucht, mit Argumenten zu klären, wo genau die Falschinformation liegt, braucht man einen langen Atem.

FH: Sind Fake News auf ein Misstrauen in die Institution Wissenschaft zurückzuführen?  

RK: Jede Wissensproduktion zeigt, wo die Grenzen des Wissbaren sind. Gerade in einem so beschleunigten Prozess wie der aktuellen Corona-Forschung gibt es natürlich etliche Unsicherheiten. Das fängt schon dabei an, dass wir immer noch nicht genau darüber Bescheid wissen, wie sich das Virus auf die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen verteilt. Diese Wissenslücken mögen bei manchen Menschen zu Misstrauen führen, weil sie denken, da werden Fehler gemacht. Dabei ist es nur ein Crashkurs in Sachen Wissenschaft: Ein Prozess, in dem das eigene Wissen immer wieder revidiert wird, mit dem Ziel, es dadurch zu festigen. Es ist also wichtig zu verstehen, dass die Vorläufigkeit wissenschaftlicher Ergebnisse kein Mangel, sondern ihre Stärke ist. Letztlich ist die Frage, wieviel Vertrauen jemand in die Wissenschaft hat, eine pragmatische. Keiner von uns kann ständig prüfen, was Politikerinnen und Politiker, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Unternehmen, Verbände oder NGOs formulieren. Wir sind andauernd dazu gezwungen, anderen zu vertrauen – wie im Alltag auch. Wer also ein grundsätzliches Misstrauen gegen Regierungen oder Wissenschaften hegt, der sucht sich seine Informationen eben an anderer Stelle.

FH: Was kann die Wissenschaftscommunity dagegen tun, dass sich Fake News weiterverbreiten?

RK: Die Wissenschaftskommunikation in die Öffentlichkeit hineintragen. Wir müssen die Diskussion so führen, dass der Austausch der Argumente nicht als Problem, sondern als Grundprinzip sichtbar wird. Das passierte im deutschen Kontext ziemlich gut, wir sehen das etwa an den Wissenschafts-Podcasts, den Wissenschaftssendungen im Fernsehen und den Experten-Diskussionen bis in Talkshows hinein. Es ist wichtig, dass die Leute sehen, wie sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ernsthaft um die Beantwortung von Fragestellungen bemühen, sich dabei auch irren können, aber bereit sind, das zu korrigieren. Das ist ein guter Nebeneffekt einer an sich tragischen Situation. Denn letztlich generiert es genau das, was wir in solchen Situationen am ehesten brauchen: Treffsicheres, robustes Wissen.

Reiner Keller © Universität Augsburg Über den Interviewpartner: Reiner Keller ist Professor für Allgemeine Soziologie und Wissenssoziologie an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg. Im Rahmen seines Arbeitsschwerpunkts Diskursforschung beschäftigt er sich mit Fragen der Entstehung, Verbreitung und Erhaltung von kollektivem Wissen. Die von ihm entwickelte „wissenssoziologische Diskursanalyse“ ist eine viel beachtete Methode der qualitativen Sozialforschung mit dem Ziel, gesellschaftliches Wissen zu analysieren und ihre Verteilung zu interpretieren.

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BU1: Die von Reiner Keller entwickelte Methode der „wissenssoziologische Diskursanalyse“ wird über die Soziologie hinaus auch häufig in Archäologie, Kriminologie und Sprachwissenschaften angewandt.


BU2: Protestierende auf einer Demonstration gegen Corona-Maßnahmen in Berlin. Sie bringen nicht nur sich selbst, sondern auch das Leben derjenigen in Gefahr, die von der Gemeinschaft abhängig sind.