Ausgesprochen ... Berlin  Wieder nichts gelernt?!

Auf diesem Foto vom 20. August 2014 wird eine kürzlich geschlüpfte zweiköpfige Schildkröte auf der NEA-Schildkrötenfarm in Amagon, Arkansas, gehalten.
Auf diesem Foto vom 20. August 2014 wird eine kürzlich geschlüpfte zweiköpfige Schildkröte auf der NEA-Schildkrötenfarm in Amagon, Arkansas (USA), gehalten. Ein staatlicher Biologe sagt, Schildkrötenmutationen seien selten, würden aber immer häufiger auftreten. Foto (Detail): Sarah Morris © picture alliance / AP Images

Unsere Berlin-Kolumnistin Margarita Tsomou schreibt jeden Monat aus feministischer Perspektive auf die Hauptstadt. Heute geht es – natürlich – darum, was die neuen Lockdown-Regelungen für den Feminismus bedeuten.

„Soft“ ist er, der neue Lockdown in Berlin. Konkret bedeutet das: Das öffentliche Leben fährt herunter, es sei denn, es dient unverzichtbaren wirtschaftlichen Zwecken. Die Wirtschaft soll geschützt werden, um die Schäden für die Gesellschaft abzumildern, die durch den Schutz von Gesundheit entstehen – so die Argumentationslogik, die auf den ersten Blick offensichtlich scheint, jedoch auf den zweiten zeigt, dass wir aus Corona nichts gelernt haben.
 
So möchte ich an den ersten Lockdown erinnern und daran, dass durch das „Brennglas Pandemie“ Debatten hochkamen, die nahelegten, dass wir grundlegend umdenken müssten, um nachhaltig pandemietauglich zu werden. So wurde etwa über die feministische These diskutiert, dass unsere Körper sowie Fürsorgearbeit das Primat der Politik sein müssten.

Falsche Prioritäten?

Daran gekoppelt war die späte Erkenntnis, dass der Gesundheitssektor zugunsten der „harten Wirtschaftssektoren“ wie der Schwer- oder Autoindustrie kaputtgespart und entwertet wurde. Genauso entwertet wie die als „systemrelevant“ neu begriffenen Berufe, die mehrheitlich von Frauen* oder rassifizierten Menschen unter schlechten Bedingungen verrichtet werden – den Pfleger*innen, Supermarkt-Angestellt*innen, den Putzkräften oder Amazon-Arbeiter*innen, denen wir applaudierten, um sie dann – systembedingt – der Virusgefahr auszusetzen. Solche Schieflagen in der volkswirtschaftlichen Prioritätensetzung schienen, so erinnere ich, auf einmal glasklar.

Ich erinnere mich daran, dass in den ersten Lockdown-Monaten das bedingungslose Grundeinkommen oder das Recht auf eine bezahlbare Miete einer breiten Öffentlichkeit für kurze Zeit plausibler erschienen. Und daran, dass der Virus explizit machte, wie abhängig wir von der Umwelt sind, wie er uns zu einem neuen Umgang mit Tieren, Ökosystemen und globalen Lebensmittelketten mahnte. Oder an die Kritik, dass etwa bei HIV oder Ebola viele queere Menschen und der globale Süden Pandemien hilflos ausgesetzt wurden, aber wir nun stattdessen – im Ethos von Solidarität - an einem gemeinsamen humanistischen Strang ziehen wollen und uns selbst schützen, um die anderen zu schützen.

Pandemie als Katalysator zur Selbstveränderung

Ich erinnere mich daran, dass damals einige hofften, die Pandemie könnte einen „Point Zero“ markieren, eine Chance sein, unsere Lebensweise zu befragen und uns zu verändern. Nicht nur verträumte Weltverbesser*innen, auch Pragmatiker*innen wie Wolfgang Schäuble hofften auf die Pandemie als Katalysator zur Selbstveränderung: In seinem Interview mit dem Tagesspiegel sagte er, dass „strukturelle Veränderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik“ anstehen. Damit meint er „Ausgleichs- und Begrenzungsmechanismen“ zwischen Nord und Süd, Arm und Reich, für ein „nachhaltigeres“ „maßvolleres Leben“. Beindruckend, nicht wahr? – wie sogar der gediegene CDU‑Führungspolitiker hier ein neues Maß für das Leben sucht und sich für Wandel öffnet …
 
Der Philosoph Paul Preciado beschrieb, wie ich in einer meiner ersten Kolumne im Frühjahr berichtet habe, diese Öffnung für Veränderung während des ersten Lockdowns als einen Mutationsprozess: Auf der einen Seite würden unsere Körper zu vereinzelten Telekonsument*innen/-produzent*innen erzogen und digital überwacht. Auf der anderen Seite würde das „Stilllegen der Welt“ die vielleicht wichtigste kollektive Erfahrung des Jahrhunderts sein – sie führe potentiell eine Krise von Gewohnheiten und Wahrnehmungen und somit ein politisches Begehren für Transformation herbei.

Lockdown als Mutationsprozess

Doch in welchen Zustand wir mutieren wird im gegenwärtigen zweiten Lockdown evident: Arbeit und Konsum – und zwar im alten Rahmen unserer bisherigen toxischen Lebens- und Produktionsweise. Wir sollen sie, als höchste Priorität, unverändert weitertreiben, während wir die Ungerechtigkeiten in der Verteilung der Virusgefahr weiterhin hinnehmen sollen.
 
In unseren individualisierten Homeoffice-Enklaven werden wir den Algorithmen der monopolisierten Web-Mogule intensiver ausgesetzt – während sie unsere Daten kapitalisieren und entscheiden, was die jeweils für mein User*innenprofil zugeschnittene Wirklichkeit ist. Wir mutieren zu Wesen, die Kollektivität nun mehr nur als Akkumulation von Links erleben und überzeugt sind, dass wir nichts machen können, außer abzuwarten bis der Mensch dem lästigen „Naturereignis Virus“ Herr geworden ist, um wieder zur „Normalität“ zurückzukehren. Zur immer gleichen „normalen“ gesellschaftlichen DNA, die entlang von patriarchalen und kolonialen Machtaufteilungen bestimmt, wie unser Verhältnis zu Körper, Natur, Produktionsweise, Verteilungsgerechtigkeit, Arbeits- und Sozialstandards ist.
 
Doch der Virus ist nicht nur ein Naturereignis. Wie er auf uns wirkt – ja, wie er uns verändert – ist eng mit politischen Entscheidungen im Umgang mit der Pandemie verknüpft.

Kurzfristige Symptombehandlung

Momentan jedenfalls zielt das Medikament, das wir uns verabreichen, auf eine kurzfristige Symptombehandlung, um unsere Funktionalität wiederherzustellen. Nicht aber auf eine holistische Langzeittherapie, die Heilung als Ursachenbekämpfung versteht, um die Lehren aus Corona zu ziehen.
 
Und so haben wir nicht nur eine Chance vertan, um unsere toxische Normalität schneller zu verändern, sondern auch entschieden, in welchen Zustand wir mutieren. Der „Soft Lockdown“-Winter wird kein vorübergehendes finsteres Kapitel sein, sondern der Eintritt in eine Zukunft, die sich gerade für immer verändert. Denn als Letztes sei daran erinnert: Eine Mutation ist ein für den Organismus irreversibler Prozess.
 

„Ausgesprochen …“

In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im wöchentlichen Wechsel Gerasimos Bekas und Margarita Tsomou, Maximilian Buddenbohm, Qin Liwen und Dominic Otiang’a. Unsere Berliner Kolumnist*innen werfen sich in „Ausgesprochen … Berlin“ für uns ins Getümmel, berichten über das Leben in der Großstadt und sammeln Alltagsbeobachtungen: in der U-Bahn, im Supermarkt, im Club.