Die Stille

Die Stille original Goethe-Institut Ukraine

Von Inha

„Inha, bleib wo du bist!“ – geschrieben um 07.00. Danach – ein verpasster Anruf.
Es war die erste Nachricht, die ich an jenem Morgen bekommen habe.
„Bleib ganz ruhig“
„Der Krieg hat begonnen“
„Seit fünf Uhr früh wird die gesamte Ukraine bombardiert.“

Das alles hätte ein Witz sein können, oder eine Übertreibung, ein Irrtum, oder einfach nur ein Traum – aber nicht die Realität. Ich weckte meine Schwester. Danach rief ich meine Mutter an, fragte wo sie sei und weinte.

Ich glaube, sie war damals Lebensmittel einkaufen. Oder waren es Medikamente? Ein Freund aus Amerika hatte mir eine Nachricht geschickt. Ich glaube, er hat geschrieben, dass es ihm leidtäte. Haben damals nicht alle geschrieben, dass es ihnen leidtäte?  

Ich war vollkommen verwirrt. Ich las und hörte die Geschichten von Leuten, die durch die Explosionen und das Heulen der Sirenen geweckt worden waren. Ich glaube, dass nur ich in dieser Nacht gut geschlafen habe; dank eines Antidepressivums.

Meine Eindrücke von jenem Morgen liegen sehr im Ungefähren. Nur Weniges vermag ich genau zu erinnern. Es ist, als wäre da eine Wand zwischen der Realität und meinen Erinnerungen, die mich vor dem Grauen bewahrt. Meine Ärztin nennt das „Dissoziation“. 
 
Gegen Abend wurde es schlimmer. Es schien, als ob die Explosionsgeräusche, die ich früher nicht gekannt hatte, näher und näherkämen. Wir begannen unsere Sachen zu packen. In Koffer, Taschen, Rucksäcke – für alle Fälle.  Es schien, als ob wir für immer in den Bunker müssten. Mit der Dunkelheit kam auch die Angst. Das Fensterglas kann man überkleben, damit es nicht splittert, wenn die Bomben fallen. Die Angst kann man nicht überkleben.
Irgendwann gegen Mitternacht habe ich zum ersten Mal an jenem Tag gegessen. Essen ist in einer solchen Situation sehr wichtig. Man sollte auch versuchen, laut zu sprechen, mit anderen zu reden, nicht ständig die Nachrichten anzusehen, in Bewegung zu bleiben. Meine Eltern und mein Großvater legten sich schlafen. Ich aber konnte nicht. Es war, als hörte ich sie schon, hinter dem Fenster – die Bestie. Sie macht allen Angst, zwingt die Menschen ins Haus, aber dann geht sie weg und gibt eine Gelegenheit zur Flucht. Mir schien, dass dies meine Chance zu fliehen wäre. Wovor genau, wusste ich nicht. 
   
Ich erinnere mich noch, als ich die ersten Explosionen hörte. Es waren drei. Um 04.19. Um 04.22 weckte ich meine Familie. In jener Nacht habe ich meine Medikamente nicht eingenommen; zum ersten Mal seit mehreren Monaten. In jener Nacht habe ich überhaupt kein Auge zugetan. Ich fühlte mich einsam, da die anderen einfach schliefen. Jene Nacht wurde zur längsten meines Lebens. Sie dauert an bis heute.
Gegen sieben Uhr morgens hörte ich zum ersten Mal die Sirenen. Nunmehr höre ich sie ständig, mehrere Male am Tag. Ich schlafe mit ihnen ein und stehe mit ihnen auf. Meine Welt hat sich verfinstert, ist verschwommen, wie während einer Panikattacke. Damals entschlossen wir uns endlich einen Bunker aufzusuchen, genauer gesagt eine Tiefgarage, die uns als Schutzraum dienen sollte. Ich legte mich schlafen in Jacke, Pullover und Jeans – Kleidung, die ich eine Woche lang nicht wechseln sollte. Ich blickte auf die Reifen eines geparkten Autos neben mir und sagte leise: „Alles ist gut“.

Als wir nach Hause zurückkehrten, fanden wir es so vor, wie wir es verlassen hatten. Es war das vertraute Haus, ganz ohne die geborstenen Fenster und Wände, die ich mir ausgemalt hatte. Im Badezimmer bemerkte ich, dass mein Körper ein anderer geworden war. Er schien kleiner und dünner als zuvor. Ich hatte neun Stunden nichts gegessen, einen Tag nicht geschlafen und abermals meine Medikamente nicht genommen. Wir blieben rund eine halbe Stunde in unserem Haus. Dann heulten die Sirenen aufs Neue. Zum zweiten Mal gingen wir zur Tiefgarage. Unsere Nachbarn waren auch dabei. Mit mir schien etwas nicht in Ordnung zu sein. Die Explosionen auf der Straße waren in mein Inneres vorgedrungen… Vor den Augen überall Funken… Ich schnappte nach Luft... Der Wind, die Menschen um mich herum, die Betonwände – alles schien sich gegen mich verschworen zu haben. Plötzlich wurde mir übel und ich übergab mich auf dem Rasen des noblen Apartmentgebäudes, zu dem die Tiefgarage gehörte. Danach war mir leichter. In der Tiefgarage bezogen wir denselben Platz wie beim letzten Mal. Ich hüllte mich in eine Decke und starrte auf eine Wand. Das Auto vom letzten Mal war schon nicht mehr da.

An jenem Tag sind wir noch vier oder fünf weitere Male in die Tiefgarage hinabgestiegen. Schließlich brach die Nacht herein. Wir entschlossen uns, zu Hause zu bleiben. Ich nahm endlich meine Medikamente, legte mich in die Badewanne und schlief ein. Zuvor hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben gebetet. Ich flehte, dass niemandem etwas zustößt und in Gedanken dankte ich unseren Soldaten, dass ich durch ihre Hilfe essen und schlafen konnte. Die folgende Nacht verbrachte ich wieder in der Badewanne. Am Tag darauf schlief ich auf dem Boden im Korridor. Man sagte, dort sei es am sichersten. Der Korridor war für uns wie ein kleines Häuschen in dem wir aßen, schliefen, die Nachrichten sahen und Schutz suchten.  

In der Nacht hörten wir unfassbar laute Explosionen. Man hatte das Gefühl, unser Haus sei getroffen worden. Ich schrieb damals meiner Freundin, dass ich sie sehr lieb habe und immer liebhaben werde. Danach kam die Stille, jene Stille, die am Tag von Explosionen, Sirenen, Meldungen, Anrufen, Chat-Nachrichten, Sorgen, Grausamkeiten, der Sehnsucht, dem Schmerz und der Wut unterbrochen wurde.
Eines Tages beschlossen wir, dem allen zu entfliehen und unser Haus zu verlassen. Wir packten alles zusammen, was sich in unserem Auto unterbringen ließ. Ich glaube, ich habe an jenem Tage vergessen, das Bett zu machen. Ich glaube, ich habe meine Pullover auf dem Boden liegenlassen. Ich glaube, ich habe das Klebeband an den Fenstern belassen. Ich glaube, die Kühlschrankmagneten sind dort noch immer in Herzform angeordnet. Früher habe ich immer genau gewusst, auf welchem Regal mein Lieblingsbuch liegt. Heute glaube ich es nur zu wissen. Ich bleibe im Ungefähren.
 
Die Stille ist die besagte Bestie, die niemals schläft. Sie ist wie ein Raubtier, das man sofort an seinem Knurren erkennen kann. Selbst wenn man sich hinter einer dicken Wand versteckt, entdeckt sie einen. Man kann nur hoffen, dass sie sich nicht in das Haus einschleicht, die Fenster zerschlägt, die Wände zum Einsturz bringt, dass sie nur in den Träumen und Erinnerungen haften bleibt.   

Inga Marchenko ist eine 16-jährige Schülerin. Sie ist in Kiew geboren und aufgewachsen. Sie war gezwungen, vor dem Krieg in eine kleine Stadt im Süden der Region Kiew zu fliehen, wo ihr Vater geboren wurde.

Vom Projekt:
Wake up, the war is here  Logo (с)Teen side
Wake up, the war is here - das Projekt, das dokumentarische Geschichten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus der Ukraine, die den Krieg erleben, sammelt, übersetzt und mit der Welt teilt. Die ukrainische Jugend macht für sich eine unerwartete Erfahrung mit dem Krieg.


Wir, die ukrainischen Jugendlichen, erhalten eine Menge Informationen über den Krieg: Statistiken, Reden, Zeugenaussagen und Propaganda. Es ist schwer, in dieser Flut von Informationen eine objektive Wahrheit zu finden. Wir sind auch auf der Suche nach Wahrheit, aber einer anderen Art, einer emotionalen und kreativen. Wir sammeln die dokumentarischen Geschichten von unseren Gleichaltrigen über ihre Erfahrungen mit dem Leben inmitten des Krieges. Geschichten, die davon erzählen, wie wir rennen, bleiben, uns verstecken, kämpfen, uns ehrenamtlich, in Panik geraten, lachen und schreiben. Wir sprechen über unseren Krieg, so wie wir ihn empfinden. Wir wollen, dass die Welt etwas über unseren Krieg erfährt, und zwar nicht durch Reden von Politikern oder Berichte von Experten, sondern durch unsere persönlichen, realen Geschichten. Wir sprechen verschiedene Sprachen, um mit der Welt in Kontakt zu treten, und wollen gehört werden.

Das Projekt wird von der Teenager-Community Teenside und dem Literaturwettbewerb für Jugendliche "withoutgaps"  und dem Goethe-Institut Ukraine durchgeführt.

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