Ein Anruf bei meinem Bruder

Calling my Brother © Goethe-Institut / Max Mueller Bhavan | Rai

Ich: Hallo, wie geht´s? Was gibt´s Neues?
Mein Bruder: Danke, gut. Nicht viel, ich arbeite immer noch im Kulturzentrum. Hast du mit Papa gesprochen?
Ich: Nein. Ich wollte ihm eine Uhr kaufen und ihn fragen, was für eine er will.
Mein Bruder: Klar.
Ich: Ich habe mir ein paar angesehen, aber es gibt sie im klassischen oder im modernen Stil. Ich war nicht sicher, was ihm gefallen würde. Ich habe ihn angerufen, aber er ist nicht dran gegangen, also habe ich Mama angerufen. Ich konnte sie auch nicht erreichen.
Mein Bruder: Ja. Sie haben einen Leitungsmasten gesprengt, wir haben selten Strom, um unsere Telefone aufzuladen. Papa hat am selben Abend versucht, dich zurückzurufen, aber du bist nicht dran gegangen.
Ich: Ja, ich habe die Kinder ins Bett gebracht. Ist er gerade da? Kann ich mit ihm sprechen?
Mein Bruder: Er ist noch nicht zu Hause, aber er sollte jeden Moment kommen.
Ich: Ist es nicht schon spät bei euch?
Mein Bruder: Manchmal kommt er spät nach Hause.
Ich: Ich habe etwas für Mama und für Farzana, für Ahmad kaufe ich eine Drohne. Mama hat mir gesagt, dass die kleine Fereshta Wasserfarben will. Ich hoffe, sie gefallen ihr. Ich warte nur auf Papa, weil ich weiß, wie pingelig er ist. Soraya fliegt nächste Woche nach Kabul und ich hoffe, sie kann die Geschenke mitnehmen. Willst du auch etwas aus Hamburg?
Mein Bruder: Nein, aber vielen Dank.
(Man hört Kinder umherlaufen und schreien.)
(Ich zu den Kindern): Geht bitte in euer Zimmer. Ich spreche mit eurem Onkel.
(Mein Sohn): Sag ihm, er soll meinen Wecker schicken, den mit den Lichtern.
Ich: Das habe ich schon Opa gesagt.
(Eine Tür schließt sich.)

Ich wollte ihm eine Uhr kaufen und ihn fragen, was für eine er will.

Calling my Brother



Ich: Entschuldige.
Mein Bruder: Kein Problem.
Ich: Gehst du jeden Tag ins Kulturzentrum?
Mein Bruder: Ja.
Ich: Wie ist es da?
Mein Bruder: Was meinst du?
Ich: Die Unfälle... Ist es nicht gefährlich?
Mein Bruder: Welche Unfälle?
Ich: Die beiden armen Mädchen, deine Kolleginnen, die bei der Explosion umgekommen sind...
Mein Bruder: So etwas passiert eben, was soll man machen? Wir müssen unsere Arbeit erledigen.
Ich: Da hast du wohl recht. 
Mein Bruder: Ich rufe eigentlich wegen Soraya an. Sie sagt, ich soll Deutsch lernen. Sie meint, sie könnte mich nach Deutschland holen. Was meinst du? Ist das überhaupt möglich?
Ich: Die Situation in Afghanistan ist so schlimm, die Leute sind verzweifelt. Es scheint keinen Ausweg zu geben.
Mein Bruder: Ich habe keine Hoffnung mehr.
Ich: Ich weiß. Ich war dort. Ich habe Filme gemacht und bin zu verschiedenen Filmfestivals geflogen, aber als ich nach Kabul kam, hatte sich nichts geändert.
Mein Bruder: Genau.
Ich: Deswegen sind die Menschen apathisch. Sie versuchen es gar nicht mehr.
Mein Bruder: Ihnen fehlt die Motivation.
Ich: Sie haben ja recht, mit allem, was dort passiert, aber wenn man nichts tut, wird sich auch nichts ändern.
Mein Bruder: Stimmt.
Ich: Ein Sprachkurs ist keine schlechte Idee.
Mein Bruder: Ich habe vor ein paar Tagen angefangen.
Ich: Super.
Mein Bruder: Ich habe erst ein paar Wörter gelernt, wie „she“. Nein, „she“ ist Englisch. Hmm...
Ich: Du meinst „sie“.
Mein Bruder: Ach ja, stimmt. „Sie“ und... „der Mann, die Frauen, Apfel“, das habe ich gelernt.
Ich: Super. Eine Sprache zu lernen, vor allem so etwas wie Deutsch, ist am Anfang schwierig. Es scheint fast unmöglich, aber irgendwann wachst du auf und merkst, dass du deutsch sprechen kannst.
Mein Bruder: Ich wünschte, das wäre schon morgen.
Ich. Das wird schon, aber so schnell geht es nicht. Wo ist der Kurs?
Mein Bruder: Es ist eine App. Wir haben gerade Ausgangssperre, bis nächste Woche. Dann suche ich mir einen Kurs.
Ich: Was ist mit deinem Studium?
Mein Bruder: Ich weiß nicht. Am Kulturzentrum zahlen sie mir pro Monat 1.000 Afghani und jetzt sind meine Kurse alle online und ich zahle 10.000 pro Monat an die Universität. Ich überlege, abzubrechen.
Ich: Hmmm...
Mein Bruder: Vielleicht konzentriere ich mich auf Deutsch.
Ich: Ich weiß nicht. Beides ist wichtig. Was machen die anderen zu Hause?
Mein Bruder: Die anderen schlafen.
Ich: Was ist mit ihrer Uni?
Mein Bruder: Wessen? Ihrer?
Ich: Ja, Uni und Schule... gehen sie nicht?
Mein Bruder: Nur die kleine Fereshte geht zur Schule. Farzana ist immer zu Hause. Ahmad geht mir auf die Nerven. Gerade jetzt, wo es so gefährlich ist, geht er ständig aus. Er hört nicht auf mich. Von früh bis spät macht er Fotos für Facebook oder Instagram. Ich sage ihm: „Bitte geh nicht. Man weiß nie, plötzlich passiert etwas. Was sollen wir dann tun?“
Ich: Unvernünftig. Ich habe auch mit ihm gesprochen, aber ich kann von hier nichts tun. Ich will nicht zu viel sagen, sonst ignoriert er mich völlig.
Mein Bruder: Er denkt, ich bin sein Feind. Tja, was kann ich tun, wenn nicht mal Papa etwas ausrichten konnte?
Ich: Ist Papa zurück?
Mein Bruder: Nein.
Ich: Ok.
Mein Bruder: Ok.
Ich: Ich wünschte, Ahmad und du hättet mit Mohammad kommen können, dem Sohn von Onkel Noor. Jetzt sind alle Wege dicht.
Mein Bruder: Wer hätte geahnt, dass es so kommen würde? Dass es so schlimm wird? Wir hätten es nie gedacht. Jetzt sitzen wir hier fest und es gibt keinen Ausweg.
(Man hört eine Tür.)
Ich: Was kann man schon machen, außer am Leben zu bleiben?
(Das Geräusch der Tür wiederholt sich. Sie öffnet sich und Kinder kommen herein.)
(Ich zu den Kindern): Ein paar Minuten noch, ich komme gleich. Spielt etwas auf Youtube.
Mein Bruder: Tja... so sind unsere Tage. Was ist mit dir?
Ich: Nicht viel. Wir fahren nächste Woche in den Sommerurlaub. Vielleicht nach Dänemark.
Mein Bruder: Cool.
Ich: Ja. Ich muss los und den Kindern etwas kochen. Lass mich wissen, wenn Papa nach Hause kommt.
Mein Bruder: Klar.
Ich: Danke. Und pass auf dich auf.
Mein Bruder: Du auch.

— Juli 2021

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