Die magische Grenze

Die magische Grenze © Goethe-Institut / Max Mueller Bhavan | Rai

Es war ein kalter und regnerischer Tag in Kabul, doch mich durchflutete ein nie gekannter Gleichklang meiner Identität, meiner Kunst und meines Lebens. Die widersprüchlichen Aspekte meines Selbst hatten endlich eine Balance gefunden und es war einfach so geschehen - wie eine unerwartete frische Brise. Durch den fallenden Regen sah ich Kabul allmählich unter seiner dicken Staubschicht hervortreten. Ich saß auf den marmornen Stufen des Tajbeg-Palasts, den Blick in die Berge gerichtet. Die leuchtenden Farben der in die Hänge gebauten Häuser verwandelten die Stadt von einem zerlumpten Bettler in einen ungeduldigen jungen Liebhaber.
 
Ich war unter den zehn Künstlern, die für den Afghanischen Kunstpreis in Kabul ausgewählt worden waren. Wir waren in den Garten des Tajbeg-Palasts gekommen, um unsere Kunstwerke für die Ausstellung zu installieren und wir alle waren wie trunken vor Glück und Aufregung. Ich war am Ziel meiner Träume. Die Chance, die mir im Iran nie geboten war, hatte ich nun in Kabul ergriffen: Ich war eine Künstlerin. Ich dachte, von nun an würde alles leichter.
 
Ich war mit mir selbst im Reinen, ich ruhte in mir, ohne sagen zu können, wann genau diese Ruhe mich gefunden hatte. Vielleicht war es auf dem Markt, gehüllt in den allgegenwärtigen Fischgeruch. Oder sie war mir mit der Stimme des beliebten afghanischen Sängers Ahmad Zahir zugeflogen, die von weit erklang, während in noch größerer Ferne Explosionen grollten. Sie könnte sich angeschlichen haben, als ich meine morgendliche Tasse Kaffee trank, mit zwei großen Löffeln Zucker, und dabei einem kunstgeschichtlichen Vortrag lauschte, den zwei meiner Freunde arrangiert hatten.
 
Ich wurde in Kabul neu geboren, transformiert, als wäre ich geschmolzen und in eine neue Form gegossen worden - eine Form, die ich mir hart erarbeitet hatte. Mein Leben war im Wandel, doch mein neues Selbst fühlte sich so richtig an, dass ich mich nicht mehr in meine alte Form pressen lassen wollte - die eines im Iran geborenen afghanischen Flüchtlings.

Mein Zuhause wird als Geißel gehalten, unerreichbar für mich, eingehegt von unüberwindbaren Grenzen, in einem Vorort von Maschhad im Iran. Nur sechs Stunden entfernt liegt die Stadt Herat, wo ich zum ersten Mal afghanischen Boden betrat.

The Magic Border


 
Mein Zuhause wird als Geißel gehalten, unerreichbar für mich, eingehegt von unüberwindbaren Grenzen, in einem Vorort von Maschhad im Iran. Nur sechs Stunden entfernt liegt die Stadt Herat, wo ich zum ersten Mal afghanischen Boden betrat. Als ich die Grenze nach Herat zum ersten Mal überquerte, hatte ich Dokumente bei mir, die mich als Kind einer afghanischen Flüchtlingsfamilie in Maschhad auswiesen. Einige Tag später, als ich die Grenze auf dem Nachhauseweg in entgegengesetzter Richtung passierte, verleugneten meine Unterlagen meine Vergangenheit. Sie behaupteten, ich sei eine afghanische Bürgerin, die mit einem Studentenvisum in den Iran einreiste. Heute scheint es merkwürdig, doch damals war es normal. Normal für im Iran geborene Afghanen, die eine Universität besuchen wollten. Als Flüchtlinge stand uns keine Ausbildung zu - und keine Arbeit. Um im Iran zu studieren, mussten wir unseren Flüchtlingsstatus aufgeben, das Land verlassen, uns um ein Studentenvisum bewerben und als afghanische Studenten in den Iran zurückkehren.
 
Diese magische Grenze formte und bestimmte die Familiengeschichte Tausender. Nach meinem Universitätsabschluss stand ich wieder in der Schlange am Grenzübergang und erhielt einen roten Stempel in meinen Pass, der meine endgültige Ausreise besiegelte.
 
Zuhause ist ein Raum mit vier weißen Wänden. In ihm klingt die Stimme von Nana („Mutter“ in unserer Sprache), die uns alle zum Frühstück weckt, bevor die Sonne der Morgenluft ihre Frische nimmt.
 
Die Harmonie, die ich im Tajbeg-Palast in Kabul spürte, war ein seltener Augenblick des Friedens zwischen all diesen Grenzübertritten. Ich sitze auf einem schwarzen Stuhl in meinem Atelier in London und ich weiß, dass er vorüber ist.
 

Während ich dies schreibe, erhalte ich die Nachricht, dass die Taliban die Kontrolle über die Grenze zwischen Iran und Afghanistan, zwischen Herat und Maschhad, übernommen haben - dieselbe magische Grenze, die ich als Studentin überquerte. Ich höre, wie die Einwohner von Herat die Situation in den sozialen Medien beschreiben. Herat ist eingeschlossen, die Taliban haben den Weg zum Flughafen abgeschnitten. Zuvor sind die Provinzhauptstädte im ganzen Land eine nach der anderen an die Taliban gefallen - und mit jeder schwand ein Stück Hoffnung, nicht nur für die Einwohner Afghanistans, sondern auch für im Iran geborene afghanische Flüchtlinge, die eine Universität besuchen wollten, damit sie in Afghanistan arbeiten und in Würde leben könnten.
 
Meine Schwester ruft aus dem Iran an. Mit zitternder Stimme fragt sie mich: „Hat mein Studium im Iran jetzt noch einen Sinn? Ist es das Geld wert?“ Ich spüre ihr leises, trauriges Lächeln als sie hinzufügt: „Ich dachte, ich könnte an der Universität in Kabul unterrichten, wenn ich hier meinen Master-Abschluss mache.“ Ich kann ihr nicht sagen: "Wenigstens bist du im Iran in Sicherheit“, denn ich weiß, dass die Hoffnungslosigkeit so gefährlich ist, wie der Krieg selbst. Für viele von uns war die Rückkehr nach Afghanistan der einzige Ausweg aus unserem vorgezeichneten Schicksal im Iran.
 
Für im Iran geborene Afghanen wie mich, die ihre Ausbildung trotz aller finanziellen Schwierigkeiten und der systematischen Diskriminierung, die sie im Iran erlebten, abschlossen, war der Wiederaufbau Afghanistans einer der wichtigsten Beweggründe. Nun, da die Taliban mit jedem Tag an Boden gewinnen, schwindet die Hoffnung auf Rückkehr, wie das Bild von Kabul, das ich an jenem regnerischen Tag sah.

— August 2021

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