Ich habe nicht gelernt zu kämpfen

Ich habe nicht gelernt zu kämpfen © Goethe-Institut / Max Mueller Bhavan | Rai

Seine Gefühle niederzuschreiben ist nicht leicht. Vielleicht, weil sie sich durch trockene Worte kaum ausdrücken lassen. Über Gefühle zu schreiben ist nicht dasselbe wie einen akademischen Text zu verfassen, in einem bestimmten Format und nach festgelegtem Muster. Gefühle haben keinen logischen Aufbau. Sie beruhen auf einer komplexen Mischung aus verschiedenen Vorstellungen, Erfahrungen und Sinneseindrücken. Dieser Text liefert deshalb nichts als die Gedanken eines gewöhnlichen Afghanen zur aktuellen Lage in Afghanistan. Er springt vor und zurück, auf und ab. Er versucht, die Erfahrungen, Gefühle und Gedanken eines Menschen auszudrücken, der sich in einer ungewissen und hoffnungslosen Situation befindet.

Ich erinnere mich an eine Geschichte über den Simurgh, einen mythischen Vogel, die meine Eltern mir erzählten. Der Simurgh hatte drei Junge, doch es gab ein böses Wesen, das die Küken der Vögeln fraß. Eines Tages kam ein weiser Mann durch den Wald. Er wurde müde, legte sich im Schatten eines Baumes nieder und schlief ein. Gerade dieser Baum war der Ort, an dem das böse Wesen seine Opfer zu verschlingen pflegte. Im Schlaf hörte der Weise drei Stimmen: eine, die weinte; eine, die abwechselnd weinte und lachte; und eine, die nur lachte. Der alte Mann wachte auf und erkannte, dass die drei Stimmen den Küken des Simurgh gehörten. Er fragte, warum eines von ihnen nur weinte, eines lachte und weinte und das dritte nur lachte. Sie antworteten, dass das erste heute gefressen würde, deshalb war es traurig; das zweite war erst morgen an der Reihe, es war halb traurig und halb froh, und das dritte würde übermorgen sein Ende finden, daher war es noch recht fröhlich.
 

Ich denke, den Menschen geht es wie den drei Küken dieses mythischen Vogels.

I did not learn how to fight


Diejenigen, die in Konfliktregionen wie Afghanistan, Syrien oder Irak leben und täglich dem Tod ins Auge blicken, weinen. Diejenigen, die in denselben Weltgegenden, aber nicht direkt im Kriegsgebiet leben, lachen und weinen. Und die Menschen, die weitab der Krisen leben, lachen den ganzen Tag.

Doch obwohl die Situation in Afghanistan dem Schicksal der Simurgh-Küken ähnelt, gibt es einen Unterschied. Der Unterschied ist, dass wir Afghanen all das zugleich fühlen, was andere Menschen an anderen Orten getrennt empfinden. Es gibt nicht einen Tag, an dem ich als Afghane nicht alle drei Gefühle durchlebe. Manchmal bin ich glücklich und lache, weil ich meine Ausbildung erfolgreich hinter mich gebracht und einen Abschluss von einer Universität in Delhi erlangt habe, der meine Familie und mein Land stolz macht. Aber wenn ich auf die aktuelle Lage blicke, kann ich nur weinen, denn es scheint hoffnungslos, zurückkehren zu wollen, während im ganzen Land gekämpft wird. Manchmal fühle ich mich zugleich glücklich und traurig, gefangen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Anders als bei den Jungen des Simurgh muss man nicht weinen, lachen und weinen, oder nur lachen. Stattdessen kann man all das in sich vereinen und weinen, weil man heute gefressen wird, weinen und lachen, weil man morgen gefressen wird und nur lachen, weil man erst übermorgen gefressen wird. Man fühlt all das zugleich.

Ich kam voller Hoffnung nach Indien. Nach meinem Master-Abschluss in Soziologie wollte ich junge Menschen in Afghanistan unterrichten und gemeinsam mit ihnen unser Wissen nutzen, um das Land voranzubringen. Ich wollte meine Ausbildung nach einer Pause von einem Jahr fortsetzen und im Ausland meinen Doktor machen. Die Friedensgespräche im Jahr 2020 stimmten mich optimistisch. Ich hoffte, wir würden eine Lösung finden, die die jahrzehntelangen Konflikte in Afghanistan beenden könnte. Doch das Gegenteil trat ein. Alle Hoffnungen, die Afghanen wie ich gehegt hatten, wurden zerschlagen.

Nun höre ich immer wieder, dass ich nicht nach Afghanistan zurückkehren soll, weil niemand meine Sicherheit garantieren kann. Ich solle stattdessen in Indien bleiben, bis sich die Lage beruhigt hat. Ich weiß, dass niemand dort sicher ist und ja, ich habe Angst. Angst, in meinem Dorf entführt und getötet zu werden oder bei einem Anschlag auf den Straßen von Kabul ums Leben zu kommen. Aber ich habe auch Angst, dass die, die außerhalb des Landes leben, nicht zurückkommen und dass die, die noch im  Land sind, fliehen werden - und dass dadurch die Situation nur noch schlimmer wird.

Ich darf meiner Heimat nicht den Rücken kehren, denn die afghanische Jugend hält die Zukunft ihres Landes in ihren Händen. Wir müssen uns dieser Verantwortung stellen, auch wenn es unser Leben kostet. Doch würde was ich gelernt habe in Afghanistan helfen? Ich habe gelernt zu lesen, zu schreiben, zu lernen und zu lehren. Und in Afghanistan tobt ein Kampf ums nackte Überleben. Als Afghane in Delhi befinde ich mich in einer Lage, in der nichts sicher ist, außer ihrer Unwägbarkeit.

— Juli 2021

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