Alternatives Wohnen in Peking  Für drei Minuten

Wudaokou
Wudaokou Foto (Ausschnitt): Wudaokou © Goethe-Institut China

Wudaokou, der Studentenbezirk im Pekinger Nordwesten, man erkennt ihn als solchen. Kirmes-Techno dröhnt aus kleinen Boxen, Pärchen stehen händehaltend vor einer Bäckerei Schlange. Ein paar Schritte weiter versuchen junge Männer mit roten Weihnachtsmützen kaufwillige Millennials mit Rabatten in irgendwelche Läden zu locken.

Der Blick in Richtung untergehende Sonne lässt einen an Waldbrand denken, aber das ist nur leichter Smog, es riecht nach schnellem Essen am Spieß und Milk Tea. Genau hier, nicht weit vom U-Bahnhof, den ganzen Unis und Geschäften entfernt, kämpft seit Jahren einer ums Dasein.

Leicht zu finden ist es nicht, dieses Jugendzentrum und Wohnprojekt. In der Nachbarschaft angekommen, ein 20-stöckiges Wohnhaus reiht sich an das nächste, sucht man vergebens nach großen Schildern. Man muss in eins der Gebäude ganz nach oben, rein kommt man nur durch den kleinen Kiosk im Erdgeschoss. Die Kassiererin nickt und deutet mit dem Kinn auf die Tür in der Ecke.

Da hätte auch ein verrauchtes Hinterzimmer sein können, in dem alte Männer mit rudernden Bewegungen Spielsteine auf grünen Mahjong-Tischen vermischen, aber hinter der Tür ist nur ein dunkler Flur mit zwei Fahrstühlen. Immer noch kein Schild. Oben angekommen muss man dann ganz genau hingucken, denn die Schriftzeichen auf der Tür sind nicht groß: 706青年空间 – 706 Youth Space.

Angefangen hat alles vor über sechs Jahren, Wu Fangrong, damals selbst noch Student in Peking, gründet eine Art Open University, lädt Professoren der Pekinger Elite-Unis zu Vorträgen ein, will per Livestream die Forschung und Lehre der Hauptstadt im Rest des Landes zugänglich machen. Es gibt Schwierigkeiten, irgendwann muss eine Veranstaltung auf dem Gelände der Peking-Universität abgebrochen werden. Fangrong braucht einen eigenen Raum. Er und ein paar Freunde schmeißen 30.000 Yuan in einen Topf und rufen auf gemieteten 100 Quadratmetern den 706 Youth Space ins Leben. Ein unabhängiger Ort des Austauschs und der Begegnung soll es sein, für junge Leute.

Es läuft gut, vor allem Studenten und Absolventinnen der umliegenden Hochschulen füllen den Raum mit Ideen, man schaut gemeinsam Filme, liest, diskutiert über Philosophie. Im Sommer 2012 dann die ersten finanziellen Probleme. Die Miete bezahlt sich nicht von selbst, muss Fangrong feststellen, der sich über Finanzen nie großartig Gedanken gemacht hat. Dank einer Crowdfunding-Kampagne kann es weitergehen. 2013 wird das Jugendzentrum dann auch ein Wohnprojekt. Fangrong mietet ein Stockwerk tiefer Wohnungen an, man kann günstig Mehrbettzimmer beziehen oder auch für kurze Zeit auf einem der vielen Sofas die Nacht verbringen, die Mieteinnahmen decken die laufenden Kosten, viel übrig bleibt am Ende des Monats nicht.
Wu Fangrong Wu Fangrong | © Goethe-Institut China Durch den großen Aufenthaltsraum mit kleiner Bar und ein paar Tischen kommt man zu einem halboffenen Raum für kleinere Veranstaltungen. Ein paar Leute sitzen um einen Tisch und diskutieren über Arbeit und Moral. Es muss abwechselnd pro und contra argumentiert werden, ein Protokollant schreibt auf einem Laptop mit, über den Beamer für alle sichtbar.

Eine Treppe führt hoch zur Bibliothek, hier finden die größeren Veranstaltungen statt. Es läuft gerade ein Vortrag zum Thema Einsamkeit. Slides blitzen über die große Leinwand, die Sprecherin erzählt von Dopamin, von Pornos, irgendwann geht es um Introversion und Extraversion. Ein Selbsttest, alle machen mit.

2013 läuft es so gut, dass Fangrong mehr Fläche anmietet. Auf 600 Quadratmetern wird jetzt gemeinsam geschaut und gelesen, nachgedacht und diskutiert. Es gibt jetzt sogar eine kleine Bühne, eine kleine Kantine, eine Terrasse. In dem Jahr verschärft die Stadtregierung allerdings auch ein paar Bestimmungen für Mieter und Vermieter. Höchstens zwei Personen dürfen sich ein Zimmer mit so und so viel Quadratmetern teilen, außerdem dürfen keine Zimmer mit Hochbetten vermietet werden. Sicherheitsmaßnahmen zur Bevölkerungskontrolle im Moloch Peking, erklärt Fangrong. Die Behörden werden auf das Wohnprojekt aufmerksam.

2015 müssen im 706 Youth Space einige Veranstaltungen abgebrochen werden. Es geht um sensible Themen wie Feminismus oder Homosexualität. 2016 finden bestimmte Veranstaltungen gar nicht mehr statt, Nachbarn beschweren sich über zu viel Lärm. Im März 2018 dann die Nachricht wie ein Schlag ins Gesicht: Der Vermieter meldet Eigenbedarf an, ein Teil der gemieteten Fläche muss zurückgegeben werden. Monatelange Verhandlungen, Behördengänge, sogar eine Crowdfunding-Rettungsaktion führen nicht zum Erfolg. Im Sommer 2018 ist Feierabend, Fangrong muss sich wieder mit den ursprünglichen 100 Quadratmetern zufriedengeben.

Slides blitzen über die große Leinwand, die Sprecherin erzählt von Dopamin, von Pornos, irgendwann geht es um Introversion und Extraversion. Ein Selbsttest, alle machen mit.

Eine Wendeltreppe führt von der Bibliothek auf eine kleine Galerie, es gibt keine Tür, ein paar Leute können hier übernachten. Ein bisschen Platz für eigenen Kram ist da, zum Lesen und zum Arbeiten. Ein Schlafplatz hier oben kostet um die 2000 Yuan pro Monat. Am Fuß der Wendeltreppe ist ein gemeinsames Badezimmer und noch ein Mehrbettzimmer. An der Tür klebt Schaumstoff zur Schalldämpfung.

Ein Stockwerk tiefer gibt es noch mehr Wohnraum. Die Mehrbettzimmer hier erinnern ein bisschen an Jugendherberge, in der Küche steht eine fest angestellte Haushälterin und kocht, das Essen ist günstig. Wenn Platz ist, kann hier im Prinzip jeder wohnen, nicht nur Studenten. Für eigene Sachen ist wenig Platz. Einige wohnen schon länger hier, für andere ist das nur eine Übergangslösung.

Im Haus nebenan läuft seit einem Jahr ein neues Wohnexperiment, erzählt Fangrong: 706⽣活实验室 – 706 Life Lab, eine kommunale Wohngemeinschaft. Erstmal eine Art Pilotprojekt, soll aber auch in anderen Städten umgesetzt werden. Beginn einer chinesischen Wohnrevolution?
 
  • 706 Youth Space © Goethe-Institut China
    706 Youth Space
  • 706 Youth Space © Goethe-Institut China
    706 Youth Space
  • 706 Youth Space © Goethe-Institut China
    706 Youth Space
  • 706 Youth Space © Goethe-Institut China
    706 Youth Space
  • 706 Youth Space © Goethe-Institut China
    706 Youth Space
WGs sind in China natürlich nicht unbekannt. Gerade in den chinesischen Metropolen, wo sich ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung schon lange keine eigene Wohnung mehr leisten kann, teilen sich immer mehr Menschen Wohnraum. WGs sind sogar ein regelrechtes Geschäftsmodell, das hier richtig durch die Decke gegangen ist.

Immobilienfirmen wie Danke bieten in vielen chinesischen Städten Einzelzimmer verschiedener Größen und Luxus-Stufen an, komplett möbliert. Über die App sucht man sich ein Zimmer aus, bucht eine Besichtigung und unterschreibt den Vertrag. Eine Schlüsselübergabe gibt es nicht, denn alle Türen haben ein Schloss mit Code, den man über die App ändern kann. Alles andere läuft auch über die App. Klo verstopft? Kein Problem, über die App lässt sich einfach ein Klempner rufen. Internet geht nicht? Easy, einfach über die App einen Techniker bestellen, kommt noch am selben Tag. Außerdem kommt regelmäßig eine Reinigungskraft und putzt die gemeinschaftlich genutzten Bereiche. Wer in den anderen Zimmern wohnt, darauf hat man natürlich keinen Einfluss. Zweck-WG 2.0.
 

Gerade in den chinesischen Metropolen, wo sich ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung schon lange keine eigene Wohnung mehr leisten kann, teilen sich immer mehr Menschen Wohnraum.

Das Life Lab ist genau das Gegenteil solcher Zweck-WGs. Zunächst mal muss man sich hier um einen Platz bewerben. Entscheidungen werden gemeinschaftlich von einem WG-Komitee getroffen. Es gibt eine „Verfassung“ mit „Gesetzen“, die das kommunale Zusammenleben regeln. Dort steht zum Beispiel, welche Sachen gemeinsames Eigentum sind oder wie das mit dem Putzen abläuft: Je nach Plan muss man entweder an zwei Arbeitstagen oder an einem Wochenendtag saubermachen. Wenn man fertig ist, müssen Beweisfotos in die WeChat-Gruppe gepostet werden. Wer nicht putzt oder postet, bekommt 100 Yuan von seiner Kaution abgezogen.

Im 706 Life Lab soll nicht einfach aneinander vorbei gelebt werden. Man unternimmt regelmäßig was zusammen, es gibt ein großes Ess- und Wohnzimmer, man kocht und isst zusammen, schaut Filme.
 
Eine Bewohnerin über das Life Lab

Es gibt mittlerweile mehrere dieser Life Labs, die alle etwas anders funktionieren. Manche sind komplett unabhängig vom 706 Youth Space, auch finanziell. Wie die Kosten am Ende gedeckt werden, dafür ist das Life Lab dann alleine verantwortlich. Andere wiederum werden vom 706 Youth Space zumindest finanziell verwaltet. Wenn es nach Fangrong geht, dann soll ein Netzwerk aus mehr oder weniger unabhängigen WGs entstehen, die sich gegenseitig unterstützten und größere, für einzelne WGs nicht zu bewältigende Probleme gemeinschaftlich angehen. Man muss an Tianxia und Zhao Tingyangs Netzwerk-Philosophie denken. WG mit chinesischen Besonderheiten.

Zurück in der Bibliothek im 706 Youth Space läuft mittlerweile eine andere Veranstaltung, das Format nennt sich „Gib mir drei Minuten“ und existiert schon seit ein paar Jahren. Heutiges Thema: Sex. Es sind etwa 20 Leute da, ein paar sitzen vorne auf dem Boden, ein paar hinten auf Hockern. Die Moderatorin eröffnet die Runde, jeder muss sich kurz vorstellen. Jemand möchte gerne wissen, was Leute um die 20 so für Erfahrungen haben, was normal sei in dem Alter. Ein Mädchen meldet sich: „Also ich bin 20 und kann sagen, dass man in dem Alter noch keine Erfahrungen hat.“ Ein paar irritierte Blicke.
 
Ein Bewohner über das Life Lab

Jetzt hat jeder die Möglichkeit, kurze Vorträge zum Thema zu halten, maximal drei Minuten. Wer vorträgt, muss sich danach aber auch Fragen und Kommentaren stellen. Der Name Li Yinhe fällt mehrmals, viele kritisieren die fehlende Sexualkunde an chinesischen Schulen. Einer spricht über HIV/AIDS. Ein angehender Urologe erzählt von verbreiteten sexualmedizinischen Irrtümern, die seinen Alltag erschweren. Fangrong hat gekämpft für diese drei Minuten.

Draußen ist die Sonne schon weg, Wudaokou nur noch sichtbar im Schein der Leuchtreklamen. An einer Ecke steht ein junges Pärchen und küsst sich, höchstwahrscheinlich Studenten. Gleich trennen sich die Wege, müssen sich trennen, denn Wohnheime sind in China streng nach Geschlecht getrennt. Vielleicht trennen sich die Wege aber doch nicht, vielleicht steigen die beiden in einem der kleinen Stundenhotels extra für Studenten ab. Denn wo ein Wille ist, da ist ein Weg — gerade hier in Wudaokou.
 

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