We...Wei...What? #6  Chinas „Rotten Girls” und Boys' Love Online

Manga zu Chinas „Rotten Girls“ und „Boys‘ Love Online“
Manga zu Chinas „Rotten Girls“ und „Boys‘ Love Online“ Illustration (Ausschnitt): Manga © Goethe-Institut China

In Chinas sozialen Netzwerken tauchen täglich neue Trends, Themen und Bewegungen auf, die ebenso schnell wieder verschwinden, sobald sich ihre Neuheit verliert. Manche Trends aber werden zu etwas Größerem und bringen Online-Gemeinschaften und Subkulturen hervor, die sich über Jahre hin weiterentwickeln und wachsen, und deren Mitglieder sich ihren eigenen Raum in der virtuellen Welt schaffen.

Chinas „Rotten Girls” zum Beispiel, die sich in Anlehnung an den japanischen Ausdruck fujoshi mit einer gewissen Selbstironie als funü, sprich „verfaulte Mädchen” bezeichnen, (wobei funü 腐女 ein Homonym zu funü 妇女 ist, der gewöhnlichen chinesischen Bezeichnung für „Frau”). Im chinesischen Kontext sind diese „verfaulten Mädchen“ junge Frauen mit einer Leidenschaft für sogenannte yaoi – Geschichten, Serien, und japanischen Mangas, die homoerotische Liebesgeschichten zum Thema haben.

Die „Rotten Girls” sind jedoch nicht nur Konsumentinnen dieser Geschichten, die in erster Linie von Frauen für Frauen geschrieben werden – sie kreieren sie auch, teilen und diskutieren sie.

Auf Chinesisch heißen diese homoerotischen Geschichten auch danmei (耽美) oder BL, was für „Boys' Love“ steht; yaoi, danmei und BL sind alles Bezeichnungen für ein und dasselbe: fiktionale Darstellungen von Liebe zwischen Männern. Dieses Nischen-Genre existiert als Online-Subkultur seit über zehn Jahren und scheint nicht an Popularität zu verlieren.
danmei danmei | Screenshot Die Medien und die Technologie tragen stark dazu bei, dass die Fantasien der funü in weiten Kreisen geteilt werden können. Inhaltlich geht es von händchenhaltenden Jungs bis hin zu mehr pornografischen Fantasien, aber im Kern geht es um Liebe und Intimität.

Boys‘ Love ohne Ende

In der Welt der „verfaulten Mädchen“ gibt es immer neue Trends. In diesem Sommer zum Beispiel geriet der Release des Adult-Games „Lkyt“ des BL-Spieledesigners Parade in den Fokus der Aufmerksamkeit. Ein früher auf den Markt gekommenes Spiel desselben Herstellers, „Room No 9“, ist unter BL-Fans in China auch heute noch populär. In diesem Spiel geht es um zwei junge Männer, langjährige Freunde, die zusammen in einen Raum eingesperrt werden, wo sie Versuchskaninchen von Verhaltensexperimenten sind.
Room No 9 Room No 9 | Screenshot Eine andere populäre Impulsgeberin der Rotten-Girls-Community der letzten Jahre war die britische Serie Sherlock. Darüber berichteten sogar westliche Medien. Viele Mitglieder der chinesischen BL-Szene, die die Folgen sahen, waren überzeugt, dass Detektiv Holmes, gespielt von Benedict Cumberbatch, und sein Kumpel Watson (Martin Freeman) nicht nur Partner beim Aufklären von Kriminalfällen waren, sondern auch eine romantische Beziehung unterhielten. Diese Praxis, sich Liebesgeschichten zwischen zwei Figuren vorzustellen, wird auch „CP“ genannt, was für coupling, also Verkupplung steht oder als Abkürzung für „character pairing“, also Paarung von Figuren.

Seit das erste BL-Magazin im Jahr 1999 erschien, hat das Genre verschiedene Einflüsse lokaler und internationaler Medien und Starkulte, z. B. aus Korea und Thailand, aufgenommen und ist zu einem eigenen Phänomen chinesischer Fankultur geworden.

Die mehrdeutige Beziehung zwischen Holmes und Watson sowie die Tatsache, dass sie eben nicht offensichtlich homosexuell sind, passt genau in die Vorstellungswelt der funü. Es gibt unzählige Beispiele von Sherlock-Bildern, die von BL-Fans per Photoshop in homoerotische Szenen verwandelt wurden. Hieraus spannen sie ihre eigenen Geschichten und diskutierten endlos die Beziehung zwischen Holmes und Watson. 
Fan-Kunst: Holmes und Watson küssen sich leidenschaftlich Fan-Kunst: Holmes und Watson küssen sich leidenschaftlich | Screenshot Fans von „Boys‘ Love“ tummeln sich in unterschiedlichen Online-Räumen. Es gibt Rotten-Girls-Gruppen auf Literatur-Websites, Diskussionsplattformen und auf ACG-Seiten wie Bilibili, wobei ACG die Abkürzung für „Anime, Comic und Games“ ist. Homoerotische Romanzen finden sich praktisch überall: in Kurzgeschichten, Internet-Romanen, Mangas, Anime, Spielen und Serien. Diese werden von der BL-Gemeinschaft gemacht, konsumiert und geteilt.

Eine der ältesten und einflussreichsten Websiten für diese Art der danmei-Literatur ist die 1998 gegründete Jinjiang Literature City. Einige der Top-Rubriken erzielen Klicks in Millionenhöhe. Die Autorin von Online-Literatur mit dem Pseudonym „Priest“ ist eine der erfolgreichsten Autorinnen. (Hier gibt es eine paar englische Übersetzungen ihrer Werke.)

Neben den speziellen BL-Literaturforen gibt es aber auch viele Accounts von funü auf den gängigen Plattformen sozialer Medien wie WeChat und Weibo, dem chinesischen Twitter. Unter Hashtags wie #FunüDaily, #BLWebtoon, #BLManga oder #OriginalDanmei uvm. diskutieren die Mädchen täglich ihre Lieblings-danmei-Produktionen und die neuesten Nachrichten.

Obwohl die „Rotten Girls“ ihren Einflussbereich ausdehnen konnten, so geschah dies doch nicht ohne Gegenwind. Einerseits werden sie wegen ihrer Faszination für Homoerotik verachtet, andererseits werden sie von Leuten aus LGBT-Kreisen dafür kritisiert, dass sie die Stimmen echter homosexueller Männer zum Schweigen brächten oder deren Erfahrungen im echten Leben verleugneten.

Von japanischen Toy Boys zum chinesischen Danmei

Wo hat dies alles begonnen? Die Wurzeln der chinesischen BL-Subkultur und die Beliebtheit von danmei liegen in Japan und sind auf den wachsenden Einfluss japanischer Popkultur in China zurückzuführen.

In den frühen 1990er Jahren kamen japanische Manga und Anime-Produktionen – vielfach als Raubkopien – auf den chinesischen Markt. Das BL-Genre war Teil dieser Welle japanischer Unterhaltungskultur.

Romanzen zwischen Männern für ein weibliches Zielpublikum gab es in Japan schon in den 1970ern. Wirklich populär wurden sie allerdings erst in den frühen 1990ern, als männliche Homosexualität in Mode kam und homosexuelle Darstellungen in japanischen Mainstream-Medien einen Boom verzeichneten.

Das Jahr 1993 war das „schwule” Jahr in den japanischen Medien und in der Unterhaltungsindustrie. In „Producing Gayness“ schreibt Sho Ogawa, wie ein japanisches Magazin für seine Leserschaft eine „Schwule Spielzeugbox“ schuf: farbige Papierpuppen zum Ausschneiden, dazu passende Kleidung von Jacken über Sportuniformen bis hin zu lederner S/M-Ausrüstung. In der Anleitung wurden die Leser und Leserinnen aufgefordert, mit den Figuren zu spielen, „ihnen liebenswerte Namen zu geben“, und sich für sie eine „Uni-Campus-Liebe auszudenken“.
Schwule Spielzeugbox Schwule Spielzeugbox | Screenshot Im selben Jahr entdeckten viele chinesische junge Frauen das Genre, vor allem in Form von raubkopierten Mangas, Romanen und Zeitschriften in chinesischen Buchläden.

Mit den Jahren hat sich das chinesische danmei-Genre weiterentwickelt und ist heute längst nicht mehr nur ein importiertes Unterhaltungsprodukt aus Japan. Es unterscheidet sich auch von der im Westen verbreiteten Slash Fiction.

Wörtlich übersetzt bedeutet danmei „sich der Schönheit hingeben”. Das Genre hat seine eigenen Besonderheiten und vor allem literarische Bearbeitungen mit einem starken Bezug zur japanischen visuellen Kultur hervorgebracht (Madill et al 2018, 5). Seit das erste BL-Magazin im Jahr 1999 erschien, hat das Genre verschiedene Einflüsse lokaler und internationaler Medien und Starkulte, z. B. aus Korea und Thailand, aufgenommen und ist zu einem eigenen Phänomen chinesischer Fankultur geworden.

Ganz besonders werden die „verfaulten Mädchen” vom Konzept der „reinen Liebe” bei BL angezogen. Sie finden, das sei die Krönung der romantischen Liebe überhaupt, da sie die Geschlechtergrenzen überschreite.

Sicher, subversiv und reine Liebe

Wer außerhalb der danmei-Subkultur steht, mag sich fragen, warum sich ausgerechnet junge Frauen so für Boys‘ Love begeistern. Es gibt verschiedene Erklärungen und Interpretationen dafür, warum weibliche Fans gerne über homoerotische Themen schreiben und lesen.

Ein Erklärungsansatz für die Beliebtheit von danmei ist laut Chen Xin, die das Thema Boys’ Love an der British Columbia Universität erforscht hat: Sicherheit: Es gäbe den Leserinnen, in erster Linie heterosexuellen Frauen, die Freiheit, ihren Fantasien in einer Art und Weise nachzugehen, die mit ihrem realen Liebesleben nichts zu tun habe. Diesen Ansatz vertreten auch andere Wissenschaftler, die meinen, dass weibliche Fans hier Fantasien ungefährlich nachgehen können, in denen Frauen nicht Objekte sind, und so die Grenzen ihrer eigenen Sexualität austesten können.
danmei danmei | Screenshot Ganz besonders werden die „verfaulten Mädchen” vom Konzept der „reinen Liebe” bei BL angezogen. Sie finden, das sei die Krönung der romantischen Liebe überhaupt, da sie die Geschlechtergrenzen überschreite. Die männlichen Protagonisten in den Geschichten bezeichnen sich nicht als „schwul“, verlieben sich aber trotzdem in andere Männer. „Es ist mir egal, ob du ein Mann oder eine Frau bist – ich liebe dich einfach“, oder „Ich bin nicht schwul, ich liebe nur eben einen Mann“, so lauten typische Sätze aus Werken von funü.

Zhang Chunyu hebt hervor, dass das Genre ein Ventil für Autorinnen und Leserinnen sei, ihre Sexualität und sexuelles Vergnügen auf subversive Weise auszuleben. „Rotten Girls“ machten Männer zu Objekten des weiblichen Begehrens, womit sie traditionelle Geschlechterstereotype herausforderten und fließende Geschlechteridentitäten aufwerteten.

Aber Chinas Kultur der „Rotten Girls” ist noch in einem weiteren Aspekt subversiv. Weil der Fokus auf Erotik und Homosexualität liegt, fallen danmei-Werke unter die Online-Zensur. Gemäß Chinas Internet-Regelungen müssen Internetinhalte „der korrekten politischen Richtung entsprechen“, und es „anstreben, aktuelle chinesische Werte zu verbreiten“. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, in denen Darstellungen von Homosexualität zur Zielscheibe von Zensoren wurden.

So wurden 2014 im Rahmen einer Anti-Pornografie-Kampagne hunderte Webauftritte und Accounts in sozialen Medien geschlossen. Außerdem bekamen in den vergangenen Jahren Hunderte danmei-Autorinnen Probleme mit der Polizei und viele Websites wurden wegen ihrer homoerotischen Inhalte gelöscht oder vom Netz genommen.

Trotz der strengen Internetkontrollen gedeihen funü und BL-Inhalte weiterhin. Um die Zensur zu umgehen, werden Worte und Inhalte oft codiert oder abgewandelt, so dass sie nicht sofort gelöscht werden. Die Fans lesen zwischen den Zeilen und sind in der Lage, zu verstehen und zu genießen.
danmei danmei | Screenshot In den vergangenen Jahren haben die „Rotten Girls” sich von einem Nischenphänomen zu einer wichtigen Kraft im Internet entwickelt. Sie werden oft in den Medien diskutiert und sind inzwischen auch Objekt akademischer Forschung.

„Wir sind jetzt Professionelle”, witzelte kürzlich eine von ihnen in einem Weibo-Post.

In einer Antwort auf den Post wies der Kommentierende daraufhin, dass der Aufstieg und der mögliche Fall der danmei-Gemeinschaft letztlich davon abhänge, wieviel Raum ihr von den Internetregulatoren zugestanden werde. Selbst wenn das vergangene Jahrzehnt gezeigt hat, dass die funü sich nicht leicht von Zensur und Schließungen abschrecken lassen, so hängt ihre Zukunft doch davon ab, dass BL-Foren und -Medien zugänglich bleiben.

„Wenn das Umfeld nicht frei ist, ist es unerheblich, wie professionell du bist“, lautete ein weiterer Kommentar. „Wir könnten in einer Sackgasse landen.“

Die Zukunft der „Rotten Girls“ ist also offen. Aber verschwinden werden sie so schnell wohl nicht.
 
Quellen und weiterführende Literatur

Chen, Xin. 2017. “Boys’ Love (Danmei) Fiction On The Chinese Internet:
Wasabi Kun, The Bl Forum Young Nobleman Changpei, And The Development Of An Online Literary Phenomenon.” MA Thesis, University of British Colombia https://www.semanticscholar.org/paper/Boys%27-Love-(Danmei)-fiction-on-the-Chinese-internet-Chen/63e7b494653bc1d849461b7a8f3d57aad05be452 [Aug 30, 2020].
 
Cohane (阿扣-绝赞爬墙中). 2020. “第二章 中国内地BL文化发展历史整理 [Part Two: A History of Development of Mainland China BL Culture Development]” (In Chinese). Weibo Article, Aug 8, https://weibo.com/ttarticle/p/show?id=2309404536531036799045 [Aug 26 2020].
 
Dai, Fei 戴非. 2013. “腐女心理 [Funu Psychology]” (In Chinese). 大众心里学 Popular Psychology (12): 34-35.
 
Galbraith, Patrick W. 2011. "Fujoshi: Fantasy Play and Transgressive Intimacy among "Rotten Girls" in Contemporary Japan." Signs 37 (1): 211-232.
 
Larigakis, Sophia. 2017. “Boys’ Love: The Gay Erotica Taking China by Storm.” Sophialarigakis.com, Nov 6 https://www.sophialarigakis.com/writing/boys-love-china [Aug 29, 2020].
 
Madill, A., Zhao, Y. and Fan, L. 2018. “Male-male marriage in Sinophone and Anglophone Harry Potter Danmei and Slash.” Journal of Graphic Novels and Comics, 9 (5): 418-434.
 
Ogawa, Sho. 2017. “Producing Gayness: The 1990s “Gay Boom” in Japanese Media.” PhD Dissertation, University of Kansas.
 
Yang, Ling and Yanrui Xi. 2016. “Danmei, Xianqing, and the making of a queer online public sphere in China.” Communication and the Public 1 (2): 251-256. 
 
Yang, Ling and Yanrui Xu. 2017. “Chinese Danmei Fandom and Cultural Globalization from Below.” In: Lavin, Maud, Ling Yang, and Jing Jamie Zhao (eds). 2017. Boys' Love, Cosplay, and Androgynous Idols - Queer Fan Cultures in Mainland China, Hong Kong, and Taiwan. Hong Kong: Hong Kong University Press, page 3-20.

Zhang, Chunyu. 2016. “Loving Boys Twice as Much: Chinese Women’s Paradoxical Fandom of “Boys’ Love” Fiction.” Women's Studies In Communication 39 (3): 249–267.

Auch interessant

Failed to retrieve recommended articles. Please try again.

Empfehlungen der Redaktion

Failed to retrieve articles. Please try again.

Meistgelesen

Failed to retrieve articles. Please try again.