Auto-Obsession  Der Aufstieg und Fall des „Autoregimes“

Autos
das Autoregime © Silvan Hagenbrock

Das Auto ist ausgestorben. Das wissen wir alle. Aber wie kam es eigentlich dazu? Der Philosoph und Aktivist Kilian Jörg betrachtet mit uns die Gegenwart aus dem Jahr 2056 und lässt die Zeiten des Umbruchs revue passieren.

yì magazìn: Lassen Sie einen Menschen über das Auto sprechen – oder über die Autos, die er nacheinander gehabt hat – und man erfährt rasch, was er über das Leben, die Familie und das Land denkt, um es in den Worten des französischen Philosophen des 20. Jahrhunderts Roland Barthes zu fassen. Also: Was denkst du über das Leben und über die Familie?

Hierzu fällt mir ein analoger Spruch von J.G. Ballard ein, der behauptete, dass, wenn die Menschheit des späten 20. Jahrhunderts von einem Tag auf den anderen aussterben würde, man dennoch alle Aspekte ihrer Psychen an den Designs ihrer Autos ablesen könnte. Glücklicher Weise wurden diese beiden Sprüche immer ungültiger, je weiter wir ins 21. Jahrhundert voranschritten.
 
Warum?
 
Die Autofahrer – wie auch das, was unter den Begriff „Menschheit“ seit der Europäischen Aufklärung gefasst wurde – waren ja nie alle menschlichen Wesen – bei weitem nicht. Beim Überkommen des „Autoregimes“ ging es immer auch um das Überkommen der eurozentrischen Ausschlussmechanismen und ihrer ökologisch katastrophalen Lebensweisen, die sich im Zuge der Moderne als Konsumprodukt für Privilegierte globalisiert hat und im wahrsten Sinne des Wortes planetar einbetoniert war. Die langsame Transformation zur autofreien Welt ging einher mit dem Sichtbarmachen der strukturell Unterdrückten, die nicht an den modernen Lebensweisen und ihrem „Zentralvehikel“ Auto teilhaben konnten oder wollten. Entgegen den modernen Gleichheitsversprechen war es unmöglich, dass alle so hätten leben können – schon die damaligen Anteile an Automarken hatten das planetare Ökosystem zum Kippen gebracht. Zum Glück hat sich diese Einsicht im Laufe der Jahrzehnte langsam durchgesetzt und die Gesellschaften – bis in Ihre Psychostrukturen, Familienkonzepte und Lebensrealitäten – haben sich grundlegend verändert und sich von einer toxischen Normalität emanzipiert.
Kilian Jörg Kilian Jörg | ©️ Philosophy Unbound Du hattest 2020 den Begriff des „Autoregimes“ eingeführt, dass die eng verwobenen Beziehungen zwischen Staat und Industrie zusammenfasste. Allein die zehn wichtigsten Autokonzerne und -verbände beschäftigten 2019 in Brüssel rund 70 Lobbyist*innen und gaben jährlich 20 Millionen Euro für Lobbyarbeit aus. Kannst du den Begriff des „Autoregimes“ noch etwas näher erläutern?
 
Beim Begriff des „Autoregimes“ ging es mir darum aufzuzeigen, dass innerhalb dessen Logik Problemursachen als Lösungen für die unmittelbaren Probleme erscheinen. Es gibt zu viel Stau? Dann bauen wir halt noch eine Autobahn! Rurale Zonen werden immer strukturschwächer? Dann bauen wir mehr Straßen dorthin, die aber das Entstehen von lokalen Ökonomien und Solidaritätszusammenhängen erschweren. Ich fühle mich in meiner Stadt nicht wohl? Dann kaufe ich halt einen panzerähnlichen SUV und ziehe in eine Gated Community am Stadtrand – was die Zentren noch kaputter und zerfurchter machte.
 
Also ein brandgefährlicher, potentiell tödlicher Teufelskreis, den wir überkommen mussten?
 
Ja, genau. Unsere Lebenswelten waren so stark aufs Auto ausgerichtet, dass Alternativen kaum sicht- und fühlbar waren. Selbst diejenigen, die sich in jüngeren Jahren dem Auto widersetzen, mussten zumeist irgendwann den äußeren Zwängen nachgeben, wenn zum Beispiel der Supermarkt zu weit weg war und die Fahrt mit den Kindern auf dem Lastenrad zu gefährlich war.

Beim Begriff des „Autoregimes“ ging es mir darum aufzuzeigen, dass innerhalb dessen Logik Problemursachen als Lösungen für die unmittelbaren Probleme erscheinen.

Wie kam es denn in den grünen 2020er Jahren zu dem Sturz des „Autoregimes“?
 
Entgegen der in der Moderne hochgehaltenen Bilder der Revolution als plötzlichen, eruptiven Umbruch, war dieser Sturz eine langsame Transformation, die man lange hätte übersehen können. Die großen Veränderungen beginnen immer ganz leise, beinahe unsichtbar. In den 2020er Jahren hatte sich in den jüngeren Generationen langsam die Einsicht durchgesetzt, dass das auf das Auto konzentrierte Leben kein zukunftsfähiges ist. Doch waren die Zwänge des „Autoregimes“ sowie der ungebrochene Auto-Fetischismus älterer (und neureicher) Generationen noch ungebrochen – und in den Straßen änderte sich anfangs beinahe nichts.
 
Um einen Wandel herbeizuführen bedarf es Strategien. Welche waren das?
 
Die Transformation hin zur autofreien Welt begann mit der Vernetzung und Organisation von dezentralen Interventionen und Handlungsanweisungen, die dieser noch minoritären, fast unsichtbaren Abkehr vom Auto Gehör und Sichtbarkeit verschafften.
 
Dezentrale Interventionen? Etwa eine Mutprobe über eine Reihe parkender Autos zu joggen?
 
(lacht). Nein, sosehr ich diese Mutprobe genossen habe, hat diese wohl auch großen Unmut und Reaktion hervor gerufen, die wenig zielführend war. Bei den Aktionen ging es immer darum, sich sehr sensibel in die Situation einzufühlen, welche Interventionen gerade den größten transformativen Effekt erzielen können. Manchmal konnte ein simples Klopfen auf das Heck eines auf dem Zebrastreifen stehenden Autos mehr Umdenken bewirken, als es ein zerstörerischer Kratzer hätte tun können. Die beste „Waffe“ war, wenn man Leute zum Lachen bringen konnte. Dann hatte man sie beinahe schon gewonnen, egal ob sie das eigentlich wollten oder nicht. Da gefielen mir besonders gut Sprüche wie: „Klimakrise? Ich bin beSUVen!“ oder „CO2 – umrahmt von einem Herzen“, die des Nachts auf Autos geschmiert wurden. Oder auch die diversen spontanen Pantomimen, die sich auf befahrenen Straßenkreuzungen unter den Verkehr mischten und dort lustiges Chaos veranstalteten. Wichtig war an all diesen Aktionen, dass jede für sich dezentral aus der Kreativität des Moments heraus und der Situation entstand. Es musste deutlich werden, dass sie alle von einem gemeinsamen Ziel motiviert waren: wir wollen die autofreie Welt!

Die Transformation hin zur autofreien Welt begann mit der Vernetzung und Organisation von dezentralen Interventionen und Handlungsanweisungen, die dieser noch minoritären, fast unsichtbaren Abkehr vom Auto Gehör und Sichtbarkeit verschafften.

Was waren die Schwierigkeiten in diesen Zeiten des Umbruchs abseits des aggressiven Verhaltens von ein paar Autofahrenden?

Erinnern Sie sich noch an den Film Matrix aus den 1999er Jahren? Die in der Matrix lebenden Menschen sind die größte Gefahr für ihre Befreier, da sie – solange sie noch an sie angeschlossen sind – die sie versklavende Struktur mit größtem Eifer verteidigen. Auch wenn das etwas dramatisch klingt, so ähnlich war das beim „Autoregime“ auch: man durfte nicht zu direkt, nicht zu frontal und allgemein seine Vision vorantreiben, da sonst die Reaktion zu heftig gewesen wäre. Die Leute waren vielfach zu abhängig vom System, um einen Angriff auf das System nicht als Angriff auf ihre Persönlichkeit zu werten. Um dies zu verhindern, musste man den Menschen vor allem eines klar machen: wir sind nicht gegen euch, sondern gegen die Strukturen, in die auch ihr gezwängt werdet. Hierzu musste man diese Strukturen erstmals für alle sichtbar machen, denn da sie so normal waren, fielen sie kaum mehr auf.
Ein Mensch vor einem Auto Ein Mensch vor einem Auto | © yì magazìn Klingt ein bisschen so, wie im Sprichwort mit dem Fisch im Wasser…
 
Beim Überkommen des „Autoregimes“ ging es darum, ein für moderne Verhältnisse gänzlich neues Sinnesregime zu entwickeln: eine von Autos überfüllte Welt verlangte es allen Lebewesen ab, ihre Sinne zu verschließen und im permanenten Adrenalinschub der fauchenden Gefahr zu leben. Das hat Zivilisationskrankheiten, (Bio)diversitätsverluste und alltägliche wie politische Aggressionen befördert, ohne dass es uns wirklich klar war. Im „Autoregime“ musste man ein kartesianisch rationales Wesen sein, welches seinen (sinnlichen) Umweltbezug gänzlich unterdrückt – und wenn man den eigenen Körper schon zur Maschine reduzieren muss, warum nicht gleich in eine stärkere, gepanzertere Maschine steigen?
 
Und dann?
 
Es war wichtig, öffentliche Räume zu ermöglichen, die es erlaubten, aus dieser gefährlichen Logik schrittweise auszusteigen. Räume, die öffentlich waren im Sinne von öffnend für die Sinne in denen man sich neu verbinden konnte. In diesen Räumen konnte man seine Sensibilität und Affekte zaghaft ausprobieren, dann neu konfigurieren und dadurch andere, gesündere Umweltverhältnisse herstellen. Es war die Veränderung der Tiefenstruktur unsere lebensweltlichen Bezüge, die erst den Wandel ermöglichte.

Beim Überkommen des „Autoregimes“ ging es darum, ein für moderne Verhältnisse gänzlich neues Sinnesregime zu entwickeln.

#Flugscham #Essenbestellscham #Kreuzfahrtscham #Plastikscham und dann kam die #Fahrscham-Debatte. Wie bewertest du diese im Rückspiegel?
 
Einerseits war die breit geführte „Fahrscham“-Debatte sicherlich ein wichtiger Schritt in der Bewusstseinswerdung. Denn dadurch, dass dieser Begriff medial gehyped wurde, war erst mal allen klar, was mit dem Auto alles auf dem Spiel stand. Doch gleichzeitig fühlten sich viele dadurch individuell in eine Ecke der Schuld gedrängt – und wenn sich Leute persönlich verurteilt fühlen, machen sie zu. Sie sind dann weniger offen für Veränderung. Im besten Fall lassen sie sich noch zum Kauf eines als „innovativ“ angepriesenen Konsumprodukts wie dem Elektoauto bewegen, um ihre Schuld in einem konsumkapitalistischen Ablasshandel zu tilgen. Und dass das E-Auto kein Ausstiegsszenario aus dem kapitalistischen „Autoregime“ war, sondern eher dessen Intensivierung, muss ich heute im Jahr 2056 wohl nicht mehr ausführen.
 
Also eine Schuld vs. Scham-Debatte?
 
Es war wichtig, nicht bei einer Schuld und Scham-Debatte stehen zu bleiben, sondern positive Utopien für alle zu formulieren und zu erkämpfen, während man gleichzeitig ein Bewusstsein dafür zu schaffen hatte, wie schädlich der Status Quo eigentlich war, mit dem wir alle uns damals zu leben arrangierten. Dies gelang dadurch, dass man aktivistisch, wie auch lokalpolitisch immer mehr kleine Inseln oder „Mikro-Utopien“ erkämpfte, in denen man erahnen konnte, wie viel besser das Leben jenseits des „Autoregimes“ sein konnte. Und mit „Leben“ meine ich hier ganz ausdrücklich nicht nur „menschliches Leben“ - als ob man das überhaupt von anderen Lebensformen trennen könnte! Das war noch so eine moderne Ideologie, die wir mit dem „Autoregime“ überkommen haben…

Kilian Jörg arbeitet an den transdisziplinären Schnittstellen zwischen Philosophie, Kunst und Wissenschaften. Sein Hauptinteresse gilt ökologischen Fragestellungen und welche narrativen und politischen Framings uns im und jenseits des Anthropozäns ein gutes Miteinanderleben auf diesem Planeten ermöglichen. Er arbeitet in einer Vielzahl von Medien und mit diversen Kollektiven (unter anderem philosophy unbound, im_flieger, Stoffwechsel – Ökologien der Zusammenarbeit). Kilians jüngste Veröffentlichungen sind:

2022: mit Anna Lerchbaumer: Toxic Temple. (Edition Angewandte, de Gruyter)
2020: Backlash - Essays zur Resilienz der Moderne (Textem, Hamburg)
2018: mit Jorinde Schulz: Die Clubmaschine (Berghain) (Textem, Hamburg).

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