Verzeichnis einiger Verluste #9  Yunnan, Hubei, Xinjiang, drei Imker

Wuhan (#9250) © Goethe-Institut China 2020

Wanderimker leben davon, mit der Blüte zu ziehen. Das ist jedes Jahr aufs Neue ein Glücksspiel. Besonders in diesem Jahr. Das Coronavirus hat auf die Berufsgruppe in China vielfältige Auswirkungen: Entweder können sie nicht an die Orte weiterziehen, an denen der Raps blüht, oder nicht zur eigenen Bienenfarm zurückkehren. Und wenn sie gar aus der Provinz Hubei stammen, wird ihnen jegliche Mobilität genommen. Die folgenden drei Geschichten beruhen auf Berichten der Medienplattform Red Star News, des Magazins Lifeweek und des Online-Mediums People of the Day.

1

Am 16. Februar 2020 wurde der Imker Liu Decheng in einem kleinen Dorf der Gemeinde Langhuan in der Nähe der Stadt Xichang, Provinz Sichuan, beigesetzt. Während der Epidemie waren in dem Dorf nur ganz einfache Beerdigungen zugelassen. So gaben ihm nur wenige Verwandte das letzte Geleit.
 
Liu Decheng wurde 45 Jahre alt. Er hinterlässt einen Sohn und eine Tochter, die jeweils die Oberstufe und die Unterstufe der Mittelschule besuchen. Zu seinem Haushalt gehören außerdem zwei Senioren. Im August letzten Jahres war sein jüngerer Bruder an Krebs gestorben, wodurch sich die finanzielle Belastung seiner Familie vergrößerte. Vier Monate später war Liu Decheng in den Kreis Yimen in die Provinz Yunnan aufgebrochen. In seiner Heimat Xichang hatte man in den letzten Jahren Obstbäume angepflanzt und so die Rapsfelder zurückgedrängt. Liu Decheng wollte nun in Yunnan nach Bienenweiden suchen.
 
Liu Decheng war über 20 Jahre für die Imkerei alleine durchs Land gezogen. Das Leben eines Wanderimkers besteht darin, zu den Feldern zu reisen, die gerade in Blüte stehen. Jedes Jahr im Februar brach Liu Decheng von Xichang auf und folgte der Rapsblüte nach Mianyang in Sichuan. Im April ging es gen Norden von Tianshui in Gansu aus den ganzen Weg über Dingxi, Baiyin und Wuwei entlang, um Akazien- und Luzernen abzuernten. Erst im November transportierte er seine Bienen zurück nach Yunnan, um die Population zu vermehren und auf die Trachtzeit des nächsten Jahres zu warten. Das war auch die entscheidende Phase, um die Bienen gut durch den Winter zu bringen und zu vermehren, mit Zuckerwasser zu füttern und sie von Milben zu befreien. Wird die gegen die Schädlinge eingesetzte Säure allerdings falsch dosiert, kann das zu Verlusten bei den Bienenvölkern führen.
 
Sowohl sein Vater als auch seine Frau hatten Liu Decheng in der Vergangenheit bei der Imkerei unterstützt. Sein Vater hatte sich jedoch im letzten Jahr eine Harnvergiftung zugezogen und musste dreimal in der Woche zur Dialyse. Seine Frau war für die zwei Kinder zuständig und hatte außerdem einen Teilzeitjob in einem Supermarkt in der Nähe angenommen. So kümmerte sich Liu Decheng wieder ganz alleine um seine Bienen. Wuhan (#9250) © Goethe-Institut China 2020 Noch Ende Januar hatte Liu Decheng mit einem Imker aus Tianshui in der Provinz Gansu gechattet. Damals hatte der Bienenhalter noch ganz zuversichtlich geklungen und von seinem Plan erzählt, seine Bienen am 20. Februar von Yunnan nach Mianyang in Sichuan zu bringen. Vor einem halben Monat hatte er außerdem sein letztes Video auf einer Plattform im Internet hochgeladen: „Ein Zelt, über 100 Bienenkästen und immer auf Wanderschaft – so sieht das Leben eines Imkers aus“, hatte er erzählt, während im Hintergrund der Schlager Weine nicht, mein Freund (朋友别哭) lief.
 
Doch am 3. Februar schickte er dann eine Hiobsbotschaft in seinen WeChat-Freundeskreis, seine Bienen hätten eine Vergiftung erlitten. Von 176 Bienenstöcken seien nur noch 36 übrig. Das bedeutete nicht nur, dass er dieses Jahr keine Einnahmen haben würde, es war darüber hinaus ein Schaden von mehr als 100.000 Yuan entstanden. Vor zwei Jahren hatte er bei dem „Spiel“ schon einmal Pech gehabt. Damals hatte es im April in Gansu Frostschäden infolge sehr niedriger Temperaturen gegeben, sodass die Bienen keine Honigernte machen konnten und mit Zuckerwasser ernährt werden mussten. 100 Pfund Zucker kosteten 400 Yuan, pro Blütezeit musste Liu Decheng über zehn Säcke verfüttern. Insgesamt hatte er damals Zehntausende draufgezahlt.
 
Die Bienenvergiftung hing dieses Mal jedoch nicht nur mit der Dosierung des Milbenbekämpfungmittels zusammen, sondern auch mit dem Ausbruch der Corona-Epidemie. Einige Bauern spritzten vermehrt Pestizide, um finanzielle Verluste auszugleichen. Dies führte dazu, dass noch mehr Bienen eingingen. Nachdem auch im Kreis Yimen die Straßen abgesperrt worden waren, blieb Liu Decheng die Ausreise verwehrt und auch der Futterzucker konnte nicht mehr zu ihm transportiert werden.
 
Zwischen dem 1. und dem 10. Februar telefonierte Liu Decheng fünfmal mit seinen Vater Liu Dingrong. Den letzten Anruf tätigte er am Nachmittag des 10. Februar. Er sagte, er wolle die Bienenfarm verkaufen und sein Nomadenleben beenden. „Ich komme zurück und werde mich um dich kümmern.“ Liu Dingrong war an seinem Sohn zu diesem Zeitpunkt nichts Ungewöhnliches aufgefallen. In den nächsten zwei Tagen jedoch versuchte die Ehefrau ihren Mann vergeblich zu erreichen. Sie schickte seinen Vetter, um nach ihm zu sehen. Auch der Vetter ​​hielt Bienen im Kreis Yimen in Yunnan und die Bienenstöcke der beiden lagen nur etwa acht Kilometer voneinander entfernt. Am Morgen des 13. Februar entdeckte der Vetter, dass sich Liu Decheng in seinem Bienenhaus erhängt hatte.
 
Die Polizei, die die Todesursache untersuchte, fand auf Liu Dechengs Smartphone eine Notiz vom 11. Februar. Die Überdosierung der Milbenbehandlung sowie der Gifteinsatz auf den Rapsfeldern vor Ort hatte einen Großteil seiner Bienen vergiftet. Er wusste keinen Ausweg mehr und setzte deshalb seinem Leben ein Ende. Wuhan (#8962) © Goethe-Institut China 2020 Am 15. Februar gaben das Ministerium für Landwirtschaft und ländliche Angelegenheiten, die Nationale Entwicklungs- und Reformkommission sowie das Verkehrsministerium gemeinsam eine „Mitteilung zur Lösung der derzeitigen Schwierigkeiten und zur Beschleunigung der Wiederaufnahme der Produktion in der Viehzucht“ heraus. Unter Artikel zwei wurden nun auch die „Wanderimker“ unter den Schutz für dringend benötigte Transporte von Produkten des täglichen Bedarfs gestellt.

2

Doch nicht alle profitierten von diesem am 15. Februar veröffentlichten Dokument. Auch die Imkerin Liu Xiaomei nicht.
 
Liu Xiaomei stammt aus Jingmen in der Provinz Hubei. Ende Dezember hatte sie ihre Bienenstöcke von ihrer Heimatstadt nach Chuxiong in Yunnan transportiert, wo sie im Frühling ihre Population vermehren sollten. Die Frühjahrsvermehrung dient dazu, die Produktivität der geschwächten Bienenvölker nach der Überwinterung wiederherzustellen. Außerdem soll die Jahreszeit mit der ergiebigsten Nektarquelle dazu genutzt werden, die eigene Bienenzucht optimal aufzustellen. Um den 10. Februar herum plante Liu Xiaomei, von Yunnan nach Sichuan weiterzuziehen, um dort die Rapstracht zu sammeln, anschließend wollte sie nach Hubei zurückzukehren, um die Zitrusfrüchte befliegen zu lassen und Mitte April sollte es wieder nach Norden gehen, um in der Region von Shaanxi und Gansu Akazienhonig zu ernten.
 
Am 14. Februar bekam Liu Xiaomei von einem Imker aus Hubei die Nachricht, dass er in Hainan festsitze und die Insel nicht mehr verlassen dürfe. Ähnliche Bewegungseinschränkungen für Leute aus Hubei würden auch in Yunnan gelten. Liu Xiaomei begann sich wegen ihrer Herkunft aus Hubei Sorgen zu machen und entschied, ihre Völker in den Bezirk Qingbaijiang in der Provinz Sichuan zu transportieren, damit sich befreundete Imker dort um die Bienen kümmern konnten.
 
Doch innerhalb von nur zwei Tagen verschärfte sich die Politik noch einmal. Als man in Sichuan hörte, dass sie eine Imkerin aus Hubei war, untersagte man ihr die Anreise. Wenn die Bienen jedoch nicht rechtzeitig an Ort und Stelle waren, konnte man sie nur künstlich mit Zucker aufziehen. Liu Xiaomei hatte einmal fünf Tonnen weißen Zucker eingelagert, der aber war mittlerweile fast aufgebraucht. Für fünfhundert Bienenkästen brauchte man pro Woche eine Tonne Zucker. Allein für die Futterkosten würde sie 6.000 Yuan ausgeben müssen.
 
Am 10. März war die Blütezeit in Sichuan vorbei. Liu Xiaomei wollte zunächst eine Transportmöglichkeit von Yunnan zurück nach Jingmen in Hubei finden. „Bei uns daheim gibt es im April die Zitrusfrüchte, im Juni den Mönchspfeffer und im September die duftenden Nanmu-Bäume. Obwohl das für die Bienen nur kleine Honigquellen sind, kommt man damit ganz gut über die Runden.“ Außerdem, so dachte sie, gäbe es in Hubei viele Bienenfarmen, sodass sie zur Not durch den Verkauf von Honigbienen Geld verdienen könnte.
 
Vorher musste sie es allerdings zurück nach Hubei schaffen. Und im streng getakteten Bienen-Kalender des Jahres hatte sie den Auftakt der Saison bereits verpasst.

3

Yang Kun, der seit 14 Jahren Bienen züchtet, versuchte vom südlichen Chongqing aus nach Turpan in Xinjiang zurückzukehren. Auch er ohne Erfolg.
 
Als Yang Kun nach Chongqing fuhr, um das Frühlingsfest bei seiner Familie zu verbringen, hatte der 58-Jährige 300 Bienenkästen im Wert von etwa 150.000 Yuan in Turpan zurückgelassen. Eigentlich hatte er geplant, am 27. Januar dorthin zurückzukehren, um sich um seine Bienen kümmern, doch aufgrund der Auswirkungen der Epidemie verbot Turpan die Einreise von Auswärtigen.
 
Die Imker von Xinjiang bleiben im Sommer im Altai-Gebirge und wandern im Winter mit ihren Bienen nach Turpan. Im Februar kommt es zur Frühjahrsvermehrung. Im März und April stehen Äpfel und Begonien in Blüte, im Juli hingegen Sonnenblumen, Baumwolle, Kürbisse und Wassermelonen. Honig produzieren die Bienen nur im Juli, das ist normalerweise ihre Erntezeit.
 
Nun war dieser Ablauf gestört. Da Yang Kun selbst nicht nach Turpan zurückkonnte, schickte er am 25. Februar einen Freund zu seiner Imkerei, der dort ein Video machte. Der gesamte Boden war bereits mit einer dicken Schicht aus toten Bienen bedeckt. Yank Kun überlegte, einen im Altai lebenden Verwandten zu den Bienenstöcken zu schicke, um bei der Pflege einzuspringen. Aber auch wenn dieser nach Turpan wollte, musste er zuvor zwei Wochen in Quarantäne. Unter der Rufnummer für Bienenzüchter des örtlichen Landwirtschaftsbüros bekam Yang Kun die Nachricht: Nach der Quarantäne dürfe er wieder reisen.
 
Am frühen Morgen des 29. Februar stieg Yang Kun in den Zug von Chongqing nach Turpan. Zwei Tage und eine Nacht später kam er am Bahnhof von Turpan an, wurde vor Ort jedoch vom Bahnhofspersonal festgehalten. Die Politik hatte sich wieder geändert. Selbst nach zweiwöchiger Isolation durfte er nicht nach Turpan einreisen. Nachdem man Yang Kun zehn Stunden am Bahnhof festgesetzt hatte, musste er schließlich die Rückreise antreten. Zwei Tage und eine Nacht später kam er wieder in Chongqing an, es war schon der 3. März.
 
Nachdem seine Frau aus den Medien erfahren hatte, dass sich Liu Decheng, ein Imker aus Sichuan in Yunnan das Leben genommen hatte, bat sie Yang Kun: „Lass uns die Bienen nächstes Jahr verkaufen und das Ganze an den Nagel hängen.“ Doch Yang Kun will die Hoffnung nicht aufgeben. Er und seine Frau haben weder eine Rente noch Versicherungen. Die Imkerei ist für das Ehepaar wohl doch noch das beste Mittel, um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Bilder von Yin Xiyuan (尹夕远).
 

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