(Un)überwindbare Grenzen  Ich so, du so, wir so, ihr so: Was ist Identität?

Abstrakte Zeichnung einer Sphäre inmitten konzentrischer Trennlinien
Mentale Grenzen © Champ Panupong Techawongthawon via unsplash.com
„Ich bin nicht sicher, ob es mein Chinesischsein ist”, sagt Ivy* nachdenklich. Ivy ist in London geboren und aufgewachsen, ihre Mutter ist Migrantin und kam in den 60ern aus China nach England. „Ich brauche unbedingt Bestätigung. Wenn ich mir wünsche, dass jemand mit mir befreundet ist und da nichts draus wird, dann verletzt mich das.”

Mich verletzt sowas auch, schießt mir sofort in den Sinn. Also können „Chinesischsein” und „Deutschsein” gar nicht so unterschiedlich sein, denke ich – und wundere mich direkt über diesen merkwürdigen Gedanken. Was heißt das überhaupt – Chinesischsein, Deutschsein? Und will man das überhaupt, deutsch sein – oder zumindest das, was man so allgemein damit verbindet, die Kids heute würden wahrscheinlich sagen Alman. Ne, Alman will man nicht sein, schweifen meine Gedanken ab.

Wir reden über Identität wie über etwas, das man ist oder das man hat, vor allem im Kontext alles dominierender nationaler Imagination. Gibt es irgendwelche Eigenschaften, angeboren, angeeignet, was auch immer, die dieses XYZ-sein ausmachen? Der Sache auf den Grund gehen will ich. Wer sind wir? Was ist „wir”?

Identität passiert

Identität kann viel sein, das Wort zumindest – Markenidentität, Unternehmensidentität, Stadtidentität. Mal kurz gucken, was es noch so gibt. I-D-E-N-T-I-T-Ä-T tippe ich ins Wörterbuch ein, ganz oben: Identitätsverlust. Identitätsdiebstahl. Identitätsnachweis. Kann also verloren, gestohlen und nachgewiesen werden. Ich erwische mich bei dem Gedanken, dass das irgendwie alles sehr bürokratisch und sehr … deutsch klingt. Aber da ist noch mehr: Identitätsfindung. Identitätsstiftend. Das klingt schöner. Etwas finden, etwas stiften – das klingt dynamisch, klingt nach etwas, das passiert.

Laut dem britischen Soziologen Richard Jenkins ist es genau dieses Dynamische, dieses Prozesshafte, was Identität ausmacht – Identität im sozialwissenschaftlichen Sinne zumindest, also individuelle und kollektive Vorstellungen, wer wir und andere sind. Richard Jenkins hat Jahrzehnte sehr umfangreicher Forschung zu Identität untersucht und zusammengefasst, darunter viele wichtige Beiträge von Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Disziplinen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Identität als Leistung, als Prozess zu verstehen ist. Ein Prozess, der über mentale Grenzen hinweg stattfindet, die durch unsere Wahrnehmung entstehen.
Abstrakte Zeichnung einer Sphäre inmitten konzentrischer Trennlinien Mentale Grenzen | © Champ Panupong Techawongthawon via unsplash.com Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten, die wir in anderen Menschen sehen (oder zu sehen glauben), sind Bezugspunkte, die uns eine Kategorisierung ermöglichen. Einfacher gesagt: Wir nehmen andere irgendwie wahr und stecken sie in irgendwelche mentalen Schubladen. Gleichzeitig sind diese mentalen Schubladen wichtige Bezugspunkte für uns selbst – wir kategorisieren uns selbst, wir packen uns selbst dazu.

Identität als Prozess, so Richard Jenkins, ist genau dieses dialektische Wechselspiel zwischen interner und externer Kategorisierung auf individueller und kollektiver Ebene: quasi ein ewiges ich so, du so, wir so, ihr so. Kognitive Prozesse und Strukturen, die unser Verhalten beeinflussen und damit natürlich Auswirkungen in der realen Welt haben – und so dann auch wieder in unsere Köpfe kommen: eine Art endloser Feedback-Loop.

(Un)überwindbare Grenzen

Ein anderes Gespräch in London: „Ich bin eine Kuriosität”, sagt David – 1963 in Hongkong geboren und seit 1972 in England – mit feinstem englischen Akzent und lacht. „Ich meine damit, dass meine Stimme, mein Akzent nicht zu meinem Gesicht passen. Wenn Menschen mich am Telefon gehört haben und mich dann treffen, sagen sie oft: Wow, damit hab ich jetzt nicht gerechnet.” Eine von vermutlich unzähligen alltagsrassistischen Situationen, die David über die Jahre erlebt hat und die dazu geführt haben, dass er sich als „Kuriosität” bezeichnet – also vom Üblichen, vom Normalen abweichend.

Ich muss an meine Großmutter denken, 1967 mit meiner damals 9-jährigen Mutter aus Slowenien ins Ruhrgebiet migriert, die Zeit ihres Lebens mit slowenischem Akzent gebrochen Deutsch gesprochen hat. Ich erinnere mich, wie sie manchmal vom Supermarkt zurück nach Hause an der Bushaltestelle vorbeikam und ich mich versteckte. Bloß nicht gesehen und angesprochen werden, andere Kinder bloß nicht wissen lassen, dass Oma so komisch Deutsch spricht. Normal sein. Vielleicht war das auch ein Grund, warum zu Hause nie Slowenisch gesprochen wurde. Meiner Schwester und mir das Anderssein ersparen, das vielleicht damit verbunden gewesen wäre. Und womöglich soziale Abwertung. Slowenisch, pfft, wer braucht das schon.

Aber egal wie normal man war, irgendwie anders war man trotzdem, wenn andere das wollten, dieser eine Schüler zum Beispiel, der zwischendurch die anderen immer mal wieder dran erinnerte, dass meine Mutter aus „Laibach” sei. Ich verstand das Wort, den eingedeutschten Namen der slowenischen Hauptstadt anfangs gar nicht, die Stadt hieß für mich immer Ljubljana. Laibach, Ljubljana, zwei Wörter, eine Message: Deine Mutter ist nicht von hier, Slowenien, pfft, Ostblock. Schnell das Thema wechseln. Normal sein. Bloß in keine Schublade gesteckt werden – oder besser gesagt, bloß nicht in die falsche Schublade gesteckt werden.
 
  • Ein Junge spielt mit Bilder-Bauklötzen
    Sommerurlaub '92 in Slowenien, ich beim Studium gestaltpsychologischer Gesetze
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  • Bildrauschen
    Sommerurlaub '92 in Slowenien, Ende der VHS-Kassette
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Die Autorin Olga Grjasnowa beschreibt in ihrem Buch Die Macht der Mehrsprachigkeit die Komplexität solcher Struggles in Familien mit Migrationsgeschichten: „Anpassung kostet eine unglaubliche Mühe. Es ist kein fröhlicher Prozess, nichts, das Freude bereitet, geschweige denn glücklich macht. Selbst die gelungenste Integration ist keine Erfolgsgeschichte, zumindest keine mit einem märchenhaften Ende.”

Wieder zurück in London, ein anderes Gespräch: Martin, 1947 in Hongkong geboren, seit über 50 Jahren in England. Ob die lange Zeit ihn zum Engländer gemacht hat, frage ich ihn. „Nicht in einer Million Jahren, nein. Ich kann meine Hautfarbe nicht ändern und ich kann meine DNA nicht ändern. Menschen schauen mich an und sagen mir, dass ich Chinese bin.”

Davids Akzent, Martins Hautfarbe – wie wir sprechen und aussehen, wie wir von anderen gelesen werden, in der Migrationsforschung spricht man von ethnischen Markern, also irgendwelche von uns selbst und von anderen wahrgenommenen, zugeschriebenen, irgendwie eingeordneten Eigenschaften, die für uns oder andere Zugehörigkeit zu dieser oder jener ethnischen Gruppe markieren können. Manche dieser ethnischen Marker, Hautfarbe etwa, können je nach Kontext stärker wirken – insbesondere dann, wenn sie mit Stereotypen belegt sind. In England zum Beispiel, wo „die chinesische Community” im Vergleich zu anderen diasporischen Communitys als eher zurückgezogen, isoliert gilt.

Tatsächlich, Ivy erzählt mir von ihrer zurückgezogenen, isolierten Kindheit: „Ich habe es gehasst. Keine meiner Freunde mussten das machen, nur ich. Ein paar Tage die Woche, definitiv am Wochenende musste ich bei uns im Restaurant arbeiten. Ich hab Garnelen vorbereitet, Gemüse geschnitten, nur ein paar Stunden pro Tag, abends dann manchmal bis 9 Uhr, danach durfte ich raus und was unternehmen. … Ich hab auch gehasst, dass meine Freunde Hobbys haben und sich zum Spielen verabreden konnten. Wir haben das nie gemacht. Selbst jetzt fällt mir das schwer mit meinen eigenen Kindern, weil es das bei uns nicht gab.”

Die Grenze des Weißseins verläuft immer parallel zu den Machtstrukturen in einer jeweiligen Gesellschaft

Hengameh Yaghoobifarah

Die zurückgezogene, isolierte Kindheit also einfach eine Folge ökonomischer Notwendigkeit – reproduziert in der nächsten Generation durch erlerntes Verhalten. Allerdings neigen wir dazu, solche strukturellen Faktoren zu unterschätzen. In der Sozialpsychologie spricht man von Attributionsfehlern: Wir führen das Verhalten anderer zum Beispiel auf innere Faktoren zurück – sowas wie Persönlichkeit, kulturelle Prägung – obwohl die äußeren Umstände eine viel wichtigere Rolle spielen. Wir sehen vergleichsweise zurückgezogene, isolierte Menschen mit Migrationsgeschichte und schließen: „Die Chinesen sind so.” Aber dabei sind es die Zwänge des prekären Gastronomiebetriebs, die soziale Isolation quasi als zufälliges Nebenprodukt erzeugen.

Ethnische Marker und damit verknüpfte Stereotypisierung sind also kein Ergebnis „objektiver” Eigenschaften, kein Ergebnis der DNA-Lotterie, sondern immer verbunden mit den gesellschaftlichen Strukturen, mit der gesellschaftlichen Positionierung von Menschen und ihren Körpern. In der Essay-Sammlung Eure Heimat ist unser Albtraum bringt es Hengameh Yaghoobifarah auf den Punkt: „Die Grenze des Weißseins verläuft immer parallel zu den Machtstrukturen in einer jeweiligen Gesellschaft.”

Maschine der Macht, Macht der Maschine

Diese Strukturen sind menschengemacht, ein Ergebnis unseres Denkens und Handelns. Das ist schon problematisch genug, aber zunehmend sind auch Maschinen an der Produktion und Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen und damit verknüpft an unserer Wahrnehmung und unseren identitären Prozessen beteiligt. Manche Wissenschaftler*innen sprechen bereits von machine behavior, von maschinellem Verhalten, das wir zukünftig erforschen, verstehen – und regulieren müssen.

Sofort denkt man an intelligente Maschinen jenseits unserer Kontrolle, die uns überlegen sind, uns unterjochen oder am Ende sogar die Apokalypse herbeiführen. Eine Vorstellung mindestens so alt wie Science-Fiction selbst – der Maschinenmensch in Fritz Langs und Thea von Harbous Metropolis kommt einem in den Sinn, und natürlich der Terminator aus dem gleichnamigen Film von James Cameron. He'll be back. Aber die reale Bedrohung ist nicht die uns überlegene intelligente Maschine aus der Zukunft.

Denn bis es soweit ist, werden wir uns vermutlich längst selbst zurück in die Steinzeit gebombt haben – eine menschengemachte Apokalypse, beschleunigt von den „intelligenten” Maschinen, die es heute schon gibt: algorithmische Systeme, selbstlernende KI-Programme, die unsere Wahrnehmung beeinflussen, unsere Kommunikation, unsere identitären Prozesse, unser gesellschaftliches Miteinander. Sicher kein Terminator, aber Maschinen, die sich schon heute „verhalten” und unsere gesellschaftlichen Strukturen, unsere Erfahrungsrealität mit konstruieren, mit teilweise unvorhersehbaren, zerstörerischen Nebenwirkungen. Sozialmediale Polarisierungs- oder Hass-Maschinen zum Beispiel mit ihren Informationsblasen, ihr so, wir so, ihr so, wir so – algorithmisch immer weiter potenziert, bis „ihr” irgendwann nicht mehr „wir” und „wir” nicht mehr „ihr” sein können.

Die eigentlich wichtigere, aktuelle Frage ist also, was Maschinen heute schon mit uns machen, insbesondere dann, wenn die vermeintlich harmlosen Auswirkungen algorithmischer Systeme auf das Individuum sich zu unvorhersehbaren gesamtgesellschaftlichen Effekten aggregieren. „Die Omnipräsenz sozialer KI-Systeme in allen Lebensbereichen … kann unsere Vorstellung von sozialer Handlungsfähigkeit verändern oder unsere sozialen Beziehungen und Bindungen beeinflussen”, heißt es in kürzlich entwickelten KI-Richtlinien der Europäischen Union.
Abstrakte Zeichnung einer Sphäre inmitten konzentrischer Trennlinien Mentale Grenzen | © Champ Panupong Techawongthawon via unsplash.com Eins dieser KI-Systeme sind selbstlernende neuronale Netze. Solche Netze sind, vereinfacht gesagt, Programme, die mit Daten gefüttert werden und sich mit diesen Daten selbst optimieren, um irgendeine Aufgabe zu lösen. Man spricht von einem neuronalen Netz, weil diese Programme ein bisschen so funktionieren, wie wir es von unserem Gehirn vermuten: Es gibt ein Netz aus „Neuronen”, die alle irgendwie miteinander verbunden sind und untereinander „Signale” senden. Das Netz versucht dann die Verbindungen zwischen den Neuronen und die gesendeten Signale so zu kalibrieren, dass am Ende das richtige Ergebnis rauskommt und die Aufgabe gelöst wird.

Im TensorFlow Playground von Google kann jeder mit einem einfachen neuronalen Netz rumspielen und das Netz zum Beispiel so trainieren, dass Daten in einem XY-Koordinatensystem richtig kategorisiert und Muster erkannt werden. Je mehr Neuronen man hinzufügt, je vielschichtiger das neuronale Netz wird, desto weniger ist erkennbar, was die Maschine da eigentlich macht, warum bestimmte Muster erkannt werden, die für uns erstmal eher wenig Sinn ergeben.

Ab zwei, drei Schichten kann es bei diesem einfachen Modell schon leicht spooky werden. Und wenn man sich vorstellt, dass richtige neuronale Netze nicht nur weitaus komplexere Blackboxen sind, sondern diese Blackboxen womöglich auch mit verzerrten Daten gefüttert werden und so zum Beispiel rassistische und sexistische Stereotypen mit erlernen und potenzieren, wird es so richtig spooky: Suchmaschinen etwa oder sozialmediale Plattform-Algorithmen – mit ganz realen Auswirkungen auf unsere gesellschaftlichen Strukturen, unsere Erfahrungsrealität, unsere ... identitären Prozesse.

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu schrieb 1989, um die Welt zu verändern, muss man die Mechanismen verändern, mit denen die Welt gemacht wird. Eine friedliche, zukunftsfähige Welt wird vermutlich eine sein, in der wir diese zunehmend von Maschinen gemachten oder zumindest von Maschinen beeinflussten Mechanismen nicht kapitalistischen Großkonzernen überlassen. Es scheint jedenfalls noch Hoffnung zu geben: Erster Widerstand formiert sich, zum Beispiel unter chinesischen Essenslieferant*innen, die sich gegen die Bestraf- und Belohnungs-Algorithmen ihrer Liefer-Apps solidarisieren. Mensch vs. Maschine, jetzt schon. Allerdings ganz anders als James Cameron und Co. sich das vorgestellt haben.

*Interviews wurden 2017 in London geführt, alle Namen wurden geändert.
Literatur

Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah (Herausgeber*innen). 2020. Eure Heimat ist unser Albtraum. Berlin: Ullstein.

Olga Grjasnowa. 2021. Die Macht der Mehrsprachigkeit. Berlin: Duden.

Richard Jenkins. 2004. Social Identity, 2. Edition. London: Routledge.

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