About the Future in Times of Crises HammamRadio – feminist-love radio station

HammamRadio, feminist-love radio station
Foto: © HammamRadio

Was als Bewältigungsmechanismus begann, entpuppte sich als kraftvolle Triebfeder für tausende Womxn[1], nicht-binäre, trans und queere Menschen. Als die Welt in den Lockdown ging, beschlossen wir, einen Raum voller Hoffnung, Liebe, Musik und Freude zu schaffen, für uns und für die Gemeinschaft, zu der wir gehören. Und es wurde weit mehr als das. Wir leben in surrealen Zeiten, und es ist surreal, mit Fremden – die nicht wirklich Fremde sind – frei und offen online darüber zu sprechen. Unsere Triebfeder waren die Mutigen, die es gewagt hatten, sich dem Metier „Radio“ zu stellen, ebenso wie unser eigenes Bedürfnis nach einer Plattform, wo unsere Stimmen und die Stimmen derer, die uns inspirieren, willkommen sind.

„Hammam“ in „HammamRadio“ kommt aus den mediterranen, levantinischen und persischen Kulturen, wo Hammams einen geschützten Raum für die Selbstfürsorge von Frauen bieten (ebenso wie – separat – für Männer* – verstanden als Männer aller sexueller Identitäten). Gleichzeitig sind sie ein Ort des Austausches von Geschichten und Geheimnissen, ein Alkoven abseits sozialer Kontrolle. HammamRadio war unser Versuch, diesen Nimbus überall hinzubringen – ein Striptease, bei dem jede*r Teilnehmer*in selbst entscheidet, wie sie oder er auftreten will.

Wir entschieden, dass unsere Plattform ein Raum nur für Womxn, trans und queere Menschen sein sollte – nicht, weil Feministinnen Männer hassen (#notallmen), sondern weil die traditionellen Medien den Mitgliedern unserer Gemeinschaft nicht genug Raum lassen. Der Hauptteil der Sendezeit ist noch immer für weiße, cisgender-Männer reserviert – daher haben wir uns der Vielzahl von Womxn, nicht-binären, trans und queeren Menschen angeschlossen, die alternative und soziale Medien nutzen, um sich zu organisieren, aufzuklären und Raum für eine Alternative zum Mainstream zu schaffen. Wären wir ein Kitsch-Radiosender aus den 1970er-Jahren, hätten wir uns Feminist Love FM genannt. Radio war eine natürliche Erweiterung der Räume, die wir besetzt haben – einige von uns hier in Berlin, andere in Genf und Palästina. Wir haben unser Projekt ausgedehnt und alle eingeladen, mitzumachen. Sie taten es.

UnserRadio startete in unsicheren Zeiten – aber einer Sache waren wir uns sicher: Mehr als je zuvor sind die Stimmen von Womxn von Bedeutung, mehr als je zuvor benötigen wir einen Raum der offen, einladend, ehrlich und zugänglich für alle ist, die ihn brauchen. Als arabische Womxn sind uns Krisen nicht fremd, und wir haben Bewältigungsmechanismen entwickelt, um auch die stärksten Stürme zu überstehen. Ihr Herzstück sind die Verbindungen zur Gemeinschaft und ein tiefgreifendes Gefühl der Solidariät, das aus der gemeinsamen Erfahrung von Unterdrückung entstanden ist. Solidarität bedeutet für uns politische Liebe, und das ist eine Form der Liebe, die in dieser romantikbesessenen Welt zu oft übersehen wird. Sie ist zutiefst heilsam. HammamRadio hat unsere Verbindungen zu anderen Womxn gestärkt, durch die Geschichten und Erfahrungen, die sie geteilt haben. Wir haben gelernt, Trauer gemeinsam zu verarbeiten, und Emotionen miteinander zu teilen. Wir haben einander unsere eigenen Geschichten von Gewalt und Trauma erzählt. Gemeinsam versuchten wir, zu heilen.

Die Explosion am 4. August 2020 in Beirut war eine der Situationen, in denen die HammamRadio- Gemeinschaft zusammenkam, sich versammelte und versuchte, Raum zu schaffen für all die Emotionen, die so viele von uns in diesem traumatischen Moment durchlebt haben. Hammam bot nicht nur einen geschützten Raum, um Trauer, Wut, Unglauben und Kummer auszudrücken. Unsere Gemeinschaft organisierte auch eine Spendenaktion, um Organisationen zu unterstützen, die nach der Explosion mit Randgruppen arbeiteten.

Als feministische Aktivistinnen haben wir uns schon immer mit der Vielzahl von Arten beschäftigt, auf die Patriarchie in unser Leben und unsere Körper eingreift und sie beeinflusst. Wir haben sowohl im Nahen Osten als auch in Europa gegen die sich überschneidenden und sich gegenseitig unterstützenden Systeme der Unterdrückung gekämpft, die uns und unsere Gemeinschaft noch weiter an den Rand der Gesellschaft drängen. Durch HammamRadio haben wir entdeckt, dass wir diesen Kampf nicht alleine oder in unseren kleinen, privaten Kreisen ausfechten müssen. Auch wenn wir jeglichen Glauben in die Institutionen um uns herum verloren hatten, ist es uns gelungen, einen Raum des gegenseitigen Vertrauens aufzubauen. Dieser Raum, den wir geschaffen haben, ist frei von Verurteilungen – ein Raum, in dem wir atmen, gemeinsame Strategien entwerfen, alternative Meinungen sowie Berichte in Bezug auf unsere Rechte und unsere Existenz anbieten können. Wir können uns die Zukunft ausmalen, für die wir kämpfen. Wir haben entdeckt, dass unsere Geschichten, wenn wir sie mit anderen teilen, dazu führen, dass wir uns weniger einsam fühlen.

Wir glauben, dass HammamRadio und ähnliche in der arabischen Welt entstehenden Plattformen in der Lage sind, die Herangehensweise feministischer Bewegungen neu zu gestalten. Wenn wir betrachten was in Syrien, Ägypten, dem Libanon und anderen Ländern vor sich geht, sehen wir eine immer stärkere Präsenz des feministischer Entwicklung im öffentlichen Mainstream. Selbst mitten im Chaos erlangen Womxn und queere Menschen Kontrolle und Besitz über ihre Körper und Geschichten zurück. Der Mut, persönliche Erfahrungen als Ausgangspunkt für Geschichten zu nutzen, ist ein starkes Hilfsmittel für politischen Aktivismus. Trotz all der Risiken, die mit dem Wagnis einhergehen, man selbst in seiner eigenen Wahrheit zu sein, trotz privater und globaler Rückschläge in den Fortschritten, die in Bezug auf Frauenrechte, sexuelle Orientierung und Genderidentität erreicht wurden – trotz all dem werden neue Online-Räume geschaffen und durch Womxn, trans und queere Menschen besetzt. Unsere Probleme überschneiden sich, unsere Kämpfe überschreiten nationale Grenzen. Wir machen uns unsere gemeinsame Macht zunutze, um Strukturen der Unterdrückung, Diskriminierung und Privilegierung abzubauen und unsere Gesellschaften grundlegend umzugestalten.
 

Der Mut, persönliche Erfahrungen als Ausgangspunkt für Geschichten zu nutzen, ist ein starkes Hilfsmittel für politischen Aktivismus.

Abir Ghattas

Hammam wurde als ein Radiosender des Mutes geschaffen. Wir wollen eine Plattform bieten für unseren mutigen feministischen und queeren Kamerad*innen, die in der Unterdrückung diese Kämpfe draußen auf den Straßen ausfechten. Wir wollen unserer Schönheit – der Schönheit unseres Kampfes, der Schönheit von Solidarität und Freude – einen Spiegel vorhalten. Wir tun es mit Hilfe von Gesprächen, Poesie und Musik.

HammamRadio ist gleichzeitig auch ein Archiv für unsere mündlich überlieferte Geschichte. So etwas hat es noch nie zuvor gegegeben. Die Radiowellen geben uns ein ganz neues Gefühl von Freiheit – eine Teil-Schutzausrüstung mit Superkräften, um der eigenen Vergangenheit oder Gegenwart ins Auge zu sehen und sie hörbar mit anderen zu teilen. Dadurch, dass wir die Folgen aufzeichnen, haben wir unsere Beitragenden dazu gebracht, über das Ausmaß der Freiheit nachzudenken, die sie genießen wollen. Erstaunlicherweise hat sich noch niemand selbst zensiert.

HammamRadio ist stolz darauf, Teil größerer Bewegungen zu sein – feministischer Bewegungen in Ländern und Regionen überall auf der Welt, queeren Bewegungen, Bewegungen für Rassengerechtigket – sowohl im realen Leben als auch online. Es erfüllt uns mit großem Stolz und viel Freude, in dieser Online-Gemeinschaft aktivistischer Kamerad*innen verankert zu sein, beispielsweise Marsa, Mauj und Radio Alhara, die ebenfalls soziale Medien nutzen, um aufzuklären und sich zu organisieren. Jede dieser Initiativen stärkt die anderen, erweitert und vertieft die Grenzen des Raums für alternative Meinungen und Analysen.

HammamRadio ist eine Gemeinschaft, die Unterschiedlichkeit willkommen heißt und unerschütterliche Bindungen zwischen ihren Mitgliedern stärkt. Vor allen Dingen ist es ein Raum, der Solidarität und Mut fördert. Es ist ein Raum, an dem Emotionen wertgeschätzt werden, an dem Güte und Zartheit geschätzt werden als Akt der Rebellion gegen eine Welt, die toxische Männlichkeit feiert, Stärke als Härte begreift und Rationalität auf Kosten von Emotion anpreist. Hammam hat uns den Mut gegeben, so zu existieren, wie wir sind, und den Mut, unsere Wahrheit zu leben – geschützt durch das Wissen, dass wir miteinander solidarisch sind, umgeben von der Liebe der Familie, die wir für uns gewählt haben.

Einen Ort geschaffen zu haben, an dem Womxn ihre Stimmen erheben und ihre Gedanken, Tränen und Lachen teilen können, ist ein Geschenk und ein unermessliches Privileg.

[1] „Womxn“ ist abgeleitet vom englischen „women“ (Frauen). Es ist eine alternative, nicht-diskriminierende Schreibweise, die Personen außerhalb der traditionellen Geschlechtsidentitäten einschließt.
 

 

Perspectives on post-digital cultures © @rainbowunicornstudio © @rainbowunicornstudio Ein Beitrag der Interview- und Essayreihe About the Future in Times of Crises von Goehte-Institut und Superrr Lab.