About the Future in Times of Crises Spielen, entwickeln, gestalten – die kollektiven Verben

Foto: © Fields of View
Die Organisation Fields of View beschreibt, wie sie in Indien sehr unterschiedliche Menschen spielerisch dazu bringt, ins Gespräch zu kommen.
Das Jahr 2020 brachte viele neue Worte hervor. Am 11. Februar 2020 teilte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Welt den Namen einer neuartigen Krankheit mit: COVID-19. In ihrem Versuch, „die Kurve abzuflachen“, rief die indische Regierung einen landesweiten Lockdown aus und forderte mehr als eine Milliarde Menschen auf, zu Hause zu bleiben. Der plötzliche Stillstand aller Menschen, Güter und dazugehöriger Wirtschaftsaktivitäten traf auf unverhältnismäßige Weise jene besonders hart, die in unseren Gesellschaften zu den verwundbarsten gehören.Alte und neue Worte
In den Folgemonaten, in denen diejenigen, die es sich leisten konnten, zu Hause blieben, sorgten Zeitungen und Webseiten dafür, dass man sich an jene erinnerte, die wir an das Virus verloren. Das Oxford English Dictionary zog es vor, nicht ein einzelnes Wort des Jahres zu bestimmen, sondern hielt stattdessen fest, im Jahr 2020 hätten sich „richtungsweisende Veränderungen in den Sprachgegebenheiten und ein jäher Anstieg von neuen Wortschöpfungen“ ergeben (The Guardian). Die Holländer*innen raunten das Wort „huidhonger“, was sich grob mit „Hauthunger“ übersetzen lässt. Es beschreibt unser Bedürfnis nach menschlicher Nähe – ein Verlangen, das nach Margaret Atwood dem entspricht, was ein ausgehungerter Hund verspürt, wenn er an Knochen denkt.Es ist verführerisch anzunehmen, dass wir alle Menschen mit der gleichen biologischen Ausstattung sind, die uns alle daher ähnlich anfällig für eine Virusattacke macht. Doch eine solche trügerische Sichtweise wird von den Fakten widerlegt. Wie verwundbar wir sind – welchen Rüstungen wir anlegen, welche Schutzwälle wir errichten –, das unterscheidet uns untereinander. Wir sind nicht alle gleich; die Geschichte, die menschen-gemachte Institutionen und jene Machtstrukturen, die Weltregionen und Kulturen umspannen, machen das Erleben des Virus zu einer jeweils speziellen und eigenen Erfahrung.
Man betrachte nur, wie die Pandemie und der Lockdown in Indien die verschiedenen Teile der Bevölkerung in ganz unterschiedlicher Weise traf. Fields of View, eine Non-Profit-Forschungsorganisation, die Werkzeuge entwickelt, um die Diskussion zur öffentlichen Ordnung voranzubringen, untersuchte in einer Studie, welche Maßnahmen die staatlichen Einrichtungen und die nicht-staatlichen Akteuren ergriffen, um hilfebedürftigen Teilen der Bevölkerung in Karnataka, einem Bundesstaat in Südindien, Unterstützung zukommen zu lassen. Es zeigte sich, dass sich die ganz konkreten und sich wandelnden Effekte der Krise in der Vielfalt der angebotenen Hilfeleistungen spiegelten. Der beobachtete Informationsfluss widersprach dabei der gängigen Meinung, dass ein von oben angeordnetes Maßnahmenbündel beim Kampf gegen Katastrophen am effizientesten wirkt. Die Informationen, die von dezentralen Netzwerken nicht-staatlicher Organisationen stammten, erweisen sich als belastbar und waren für die Katastrophenhelfer von durchaus größerem Nutzen. Mehr Dezentralisierung, was Macht und Ressourcen betraf, führte zu einer größeren Resilienz.
Die kollektiven Verben
Dezentralisierung, Mitbeteiligung und Demokratie sind keine neuen Worte. Dass Dezentralisierung und Mitbeteiligung in demokratischen und pluralistischen Gesellschaften notwendig sind (und sogar von entscheidender Bedeutung, wie die Erfahrung während der Krise lehrt), findet wohl allgemein eine breite Zustimmung. Und dennoch wird darum gerungen, wie man diese Vorstellungen tatsächlich wirklich werden lassen soll. Es stellt sich die Frage nach dem Wie: Wie können Menschen sich für die Nachbarschaft, in der sie leben, Ideen entwickeln und Pläne entwerfen?In einem Land mit einer hohen Telefondichte, in dem es aber vergleichsweise wenige Mobiltelefone gibt, ist eine App dafür nicht die Lösung des Problems. In einem Stadtviertel, in dem die Menschen verschiedene Sprachen sprechen, außerdem verschiedene Dialekte, und die Bildungsniveaus sehr unterschiedlich sind, würde ein nur auf Englisch verfasster Bericht zur Lage viele Menschen ausschließen. Und dann gibt es da noch das heikle Problem der Einbildungskraft und Fantasie. Wenn man etwas plant, geht es nicht nur um das, was bereits ist; es geht um das, was sein kann. Wie also können die Menschen die Früchte ihrer kollektiven Einbildungskraft und Phantasie gemeinsam ernten?
Nun stelle man sich Folgendes vor: In einem Stadtteil einer Stadt in Indien spielen ein Immobilienentwickler und ein Achtjähriger miteinander ein Spiel, in dem es darum geht, für die Nachbarschaft einen Plan zu entwickeln. Es gibt ein neues Gesetz, nach dem für Wohnanlagen ab einer bestimmten Größe ein Abwassersystem vorgesehen und ein Klärwerk gebaut werden muss. Als der Immobilienunternehmer den Ort für das Klärwerk markiert, protestiert der Achtjährige – er möchte seinen Spielplatz nicht verlieren. Der Immobilienunternehmer ist erstaunt – noch nie hat er sich im Planungsprozess mit den Wünschen eines Kindes auseinandersetzen müssen. Auch die anderen Teilnehmer*innen müssen gemeinschaftlich über ihre Zukunft entscheiden.
Nun stelle man sich Folgendes vor: In einem Stadtteil einer holländischen Stadt gibt es viele erst kürzlich zugezogene Immigranten. Die Bezirksregierung ist angefressen, weil sie ein Schwimmbad hat bauen lassen, das aber niemand zu nutzen scheint. Als die offiziellen Vertreter*innen der Stadt mit den Anwohner*innen spielen, finden sie heraus, dass das Schwimmbad nicht angenommen wird, da es keine getrennten Schwimmzeiten für Männer und für Frauen gibt, was wegen der kulturellen Prägungen der Neuzugezogenen nicht gut ankommt. So erfahren die Vertreter*innen der Stadt den Grund, warum das Schwimmbad nicht genutzt wird, und müssen nun entsprechend überlegen, was zu tun sein könnte – denn in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft gibt es nicht die eine „richtige“ Antwort; es gibt verschiedene Perspektiven.
Nun stelle man sich Folgendes vor: In einen Stadtteil einer indischen Stadt suchen junge Teenager nach Gestaltungsideen für ihre Nachbarschaft. Eine von ihnen fügt ein Gebäude hinzu und sagt: „Is building mein sabko job milega“ („In diesem Gebäude bekommt jeder einen Job“). Ein solches Gebäude gibt es in der Realität nicht, aber die Vorstellung davon ist der konkrete Ausdruck der Sehnsucht und der Fantasie eines jungen Menschen. Kann die Stadt planerisch auf eine solche Sehnsucht dieses jungen Menschen reagieren?
Diese Beispiele sind nicht fiktiv. Sie stammen aus verschiedenen Runden eines Stadtspiels, die Field of View organisiert hat. Die jeweils spezifischen Formen von Mitbeteiligung reagierten auf die jeweiligen sozio-ökonomischen Positionen und Praktiken, die sich durch die jeweilige Kultur und die vor Ort existenten Sehnsüchte ergaben. Das Spiel ist ein Werkzeug, um Menschen über ihre unterschiedlichen Forderungen und Präferenzen reden und sie über unterschiedliche Zukunftsvorstellungen ins Gespräch kommen zu lassen. Das Spiel ist nicht text-basiert; es ist zugänglich für Menschen mit verschiedensten Bildungsniveaus. Mit anderen Worten: Das Spiel ist eine andere Antwort auf die Frage nach dem Wie – es bietet einen Raum, wo Menschen gemeinsam spielen, Vorstellungen entwickeln und die Zukunft gestalten können. Kollektive Substantive kennt man; doch was wir hier wirklich entstehen lassen wollen, sind kollektive Verben, mit denen die Menschen ihre Welt aktiv gestalten können.
Natürlich ist das Spiel kein Allheilmittel, mit dem sich alle Übel aus unseren Gesellschaften vertreiben lassen – Machtgefüge und eigennützige Interessen sind eine gegebene Realität. Es ist kein einfach zu beschreitender Weg zu einem besseren Morgen, wenn jeder sich daran beteiligen kann, die Vorstellungen von dem, was „besser“ sei, mitzubestimmen. Also werden wir weiter fragen: „Sind wir schon weit genug gekommen? Können wir noch ein paar Schritte weiter gehen?“
Ein Beitrag der Interview- und Essayreihe About the Future in Times of Crises von Goehte-Institut und Superrr Lab.
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